# taz.de -- Ein Weckruf zur Zeitumstellung: Gute Nacht, Deutschland!
       
       > Die Tage werden kürzer, die Nächte länger. Also: Ab ins Bett! Verschenkte
       > Lebenszeit? Ganz im Gegenteil: Schlafen macht glücklich und ist gesund.
       
 (IMG) Bild: Nicht nur der Körper ruht sich aus: Auch die Psyche kann, während wir schlafen, etwas Ordnung schaffen.
       
       Okay: Eine Stunde haben sie uns geschenkt, in der Nacht zum Sonntag. Doch
       wie vergiftet dieses Geschenk ist! Schließlich wird diese Stunde monatelang
       an viel wichtigerer Stelle fehlen. Abends nämlich – all jenen Menschen, die
       nicht um sechs Uhr früh aufstehen und nichts davon haben, dass es,
       vorübergehend zumindest, früher hell wird.
       
       Doch egal, ob man aus Eulen- oder Lerchenperspektive auf die Situation
       guckt: Die Tage werden kürzer. Dazu Novemberwetter. Kann man dieser
       unseligen Mixtur irgendetwas abgewinnen?
       
       Vielleicht einfach eine Extramütze Schlaf. Eulen bleiben morgens länger
       liegen. Lerchen ziehen abends früher den Stecker. Unser Schlaf hätte ein
       Mehr an Aufmerksamkeit verdient. Schließlich tut er uns eine Menge Gutes.
       
       Er regeneriert Körperkräfte, wappnet unser Immunsystem und sorgt dafür,
       dass wir Gelerntes speichern können – Tanzschritte ebenso wie Vokabeln.
       Außerdem hilft er Geist und Psyche, indem er das Chaos in unseren Köpfen
       ordnet. Erst unlängst wurde bekannt: Biochemischer Schrott, etwa das
       Alzheimer mitauslösende Protein Beta-Amyloid, wird im Schlaf aus dem Hirn
       gespült.
       
       ## Rätsel Schlaf
       
       Die Schlafforschung ist eine relativ junge Disziplin. Es wird fleißig
       experimentiert, doch verlässliche Daten sind nur begrenzt vorhanden – etwa
       den Vergleich mit früheren Dekaden betreffend. Selbst die zentrale Frage,
       warum der Mensch ein Drittel seines Lebens im Schlafmodus verbringt und
       warum auch Tiere sich regelmäßig in diese angreifbare Lage bringen, ist
       nicht wirklich geklärt.
       
       Individuelle Abweichungen sind groß, selbst die von Betroffenen gefürchtete
       Schlaflosigkeit ist nicht in jeder Lebenssituation schlecht – so kann sie
       davor schützen, dass sich traumatische Erlebnisse ins Gedächtnis eingraben.
       Letztlich muss jeder selbst herausfinden, wie es um seinen Schlafbedarf
       steht. Bei den meisten liegt er zwischen sechs und acht Stunden. Doch auch
       neun sind normal, und tatsächlich scheint es Menschen zu geben, denen vier
       Stunden reichen. Manche brauchen eine Siesta, andere schwören auf ihren
       fest eingetakteten Nachtschlaf.
       
       Trotzdem hat Schlaf nicht den gesellschaftlichen Stellenwert, den etwa das
       Essen hat. Dieser Vergleich bietet sich an. Schließlich hat Nahrung
       Genusspotenzial, ist aber auch physische Notwendigkeit. Und konkurrieren
       kann der wohlige Nachklang einer gut verschlafenen Nacht durchaus mit dem
       einer leckeren Mahlzeit.
       
       Um die Schlafkultur in unserer Gesellschaft steht es dennoch schlecht. Um
       ihre Nachtruhe kümmern sich viele erst, wenn sie zum Problem wird. Dabei
       kann Schlaf eine Lösung für so vieles sein! Warum Entspannungstechniken
       üben, wenn man sich ins Bett legen und dem Schlaf überlassen kann?
       
       Die reichlich vorhandene Ratgeberliteratur zum Thema liest sich
       dementsprechend bisweilen sehr normativ. Was man schon Stunden vor dem
       Zubettgehen alles nicht darf: sich angeregt unterhalten, Alkohol trinken,
       Filme gucken! Bücher über Schlaf sind – um bei der Analogie zum Essen zu
       bleiben – eher ein mit Verboten gespickter Ernährungsberater als ein
       genussorientiertes Kochbuch.
       
       „Schlafen kann ich, wenn ich tot bin“, lautete Rainer Werner Fassbinders
       Credo. Die meisten Menschen bringen körperlichen Grundbedürfnissen wohl
       mehr Verständnis entgegen. Doch ihrem Schlaf geben viele trotzdem nur so
       viel Raum, dass Körper und Geist einigermaßen funktionieren. Im Zeitalter
       des „Power Napping“ und anderer Optimierungstechniken hängt dem ganz
       normalen Schlaf ein Ruch verschenkter Lebenszeit an. Lieber hängt man
       spätabends vor dem Fernseher oder Computer und lässt sich willenlos – in
       einem müden Gehirn schwächelt auch die Impulskontrolle – von Reizen
       umherschubsen.
       
       Glaubt man dem Gros der Schlafforscher, ist oft zu wenig, was uns als
       ausreichend erscheint. Möglicherweise hat unsere Kultur das Schlafen
       verlernt. Vieles spricht dafür, es neu zu lernen. Denn auch das ist eine
       Begleiterscheinung eines chronischen Defizits: Man merkt nicht mehr, dass
       man müde ist.
       
       ## Streitfall Schlafmangel
       
       Inwiefern wir kollektiv an Schlafmangel leiden, ist umstritten: Belegt
       allein die Tatsache, dass man einen Wecker braucht, um aus dem Bett zu
       kommen, dass man chronisch übermüdet ist? Hat die durchschnittliche
       Schlafdauer in unserer Rund-um-die-Uhr-Gesellschaft über die letzten
       Jahrzehnte wirklich um fast zwei Stunden abgenommen, wie bisweilen
       behauptet wird, oder lagen Menschen früher nur mehr im Bett – etwa, weil es
       im Rest der Wohnung kalt war? Auch über die Frage, ob unser Körper eine Art
       Schlafkonto führt, ob eine negative Bilanz durch Nachschlafen ausgeglichen
       werden kann, gehen Forschermeinungen auseinander.
       
       Als eine Studie kanadischer Wissenschaftler 1999 einen Zusammenhang
       zwischen Schlafdefizit und temporärem Intelligenzverlust herstellte,
       befürchtete der britische Guardian, dass jemand mit durchschnittlichem
       Intelligenzquotienten am Ende einer Arbeitswoche „borderline retarded“ sei,
       wenn er jede Nacht eine oder zwei Stunden zu wenig geschlafen habe.
       
       So alarmistisch muss man gar nicht argumentieren. Das eigene Wohlbefinden
       ist schließlich Grund genug für mehr Schlaf. Fast alles fühlt sich besser
       an, wenn man es wach tut – mal ganz abgesehen davon, dass chronischer
       Mangel unerfreuliche Folgen hat: schlechte Laune, Diabetes, Unfälle,
       Fettleibigkeit. Die Liste ist endlos.
       
       Um den eigenen Schlafbedarf in Erfahrung zu bringen, reicht es nicht,
       gelegentlich auszuschlafen. Verhaltensbiologe Paul Martin schlägt in seinem
       anekdotenreichen, kurzweiligen Buch „Counting Sheep – The Science and
       Pleasures of Sleep and Dreams“ vor, zwei oder drei Wochen ohne Wecker zu
       leben. Erst nach einigen Tagen systematischen Ausschlafens pendelt sich der
       persönliche Bedarf ein, man müsse schließlich erst sein defizitäres Konto
       ausgleichen. Warum damit bis zum nächsten Urlaub warten? Die kurzen Tage
       und langen Nächte bieten sich zum Experimentieren an.
       
       Obwohl die Schlafforschung in vielen Punkten im Dunkeln tappt – erwiesen
       ist: Tageslicht ist der zentrale Taktgeber unseres Schlaf-Wach-Rhythmus.
       Bei Experimenten mit Campern zum Beispiel dauerte es gerade mal eine Woche,
       bis die ungefähr mit der Sonne aufstanden und schlafen gingen – egal, ob
       sie sonst eher Eulen oder Lerchen waren.
       
       Unter Winterhassern ist es eine beliebte Fantasie: ein paar Wochen
       durchschlafen, die kalte Zeit verkürzen. Die Decke über den Kopf ziehen und
       sich erst vom Vogelzwitschern wecken lassen, wenn die Tage wieder länger
       sind als die Nächte, wenn an den Bäumen Knospen austreiben und der
       Eröffnungstermin fürs Freibad steht.
       
       Vor einigen Jahren überlebte ein Japaner, der sich beim Wandern das Becken
       gebrochen hatte, in einem vermutlich winterschlafähnlichen Zustand über
       drei Wochen ohne Nahrung und Wasser. Seine Körpertemperatur war auf 22 Grad
       gesunken, die Organe liefen auf Sparflamme – weswegen genug Energie blieb,
       um die Hirnfunktionen aufrecht zu erhalten.
       
       Mittlerweile haben Wissenschaftler winterschlafrelevante Schaltergene
       identifiziert – etwa das, mit dem von Kohlenhydrat- auf Fettverbrennung
       umgestellt wird. Auch der Mensch hat diese Gene; Winterschlaf könnte also
       eines Tages eine Option werden, bei schweren Verletzungen etwa, die nicht
       sofort behandelt werden können.
       
       ## Option Winterschlaf
       
       Wirklich attraktiv ist der Winterschlaf für müde Menschen allerdings nicht
       – handelt es sich dabei doch um etwas grundsätzlich anderes als den Schlaf,
       den wir kennen. Damit die regenerativen Prozesse ablaufen, die Schlafen
       erholsam machen, muss der Körper Betriebstemperatur haben. Tiere jedenfalls
       erwachen aus ihrem Winterschlaf mit einem gehörigen Schlafdefizit.
       
       Es ist also ganz gut, wie die Biologie unseren Schlaf eingerichtet hat. Nur
       holen wir uns eben zu wenig davon. Was die Nachtruhe in den dunklen Monaten
       zudem verkompliziert: Wer gut einschlafen will, muss vorher richtig
       aufgewacht sein. Das ist bei den spärlichen Lichtverhältnissen in dieser
       Jahreszeit nicht so einfach. Weil es lange dunkel ist, wird verstärkt das
       Schlafhormon Melatonin ausgeschüttet. Man muss sich seine Tageslichtduschen
       gezielt beschaffen, um das auszubremsen.
       
       Am besten also wäre es, sich morgens einfach noch mal umzudrehen. Und dann
       ausgeschlafen zur Arbeit zu gehen – zu Fuß. Oder wenigstens bis zur
       übernächsten U-Bahn-Station. Die Kollegen werden sicher verstehen, dass man
       etwas später kommt. Ausreichend schlafen ist schließlich mehr als reiner
       Selbstzweck – und einer muss ja damit anfangen.
       
       28 Oct 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Stephanie Grimm
       
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