# taz.de -- Armin Petras am Staatstheater Stuttgart: Nebenbei geht die Welt unter
       
       > Gleich mit sechs Premieren startete Armin Petras in seine erste Spielzeit
       > am Stuttgarter Staatstheater. Atemlos? Reflektiert!
       
 (IMG) Bild: Szene aus „Die Reise“ nach dem Roman von ernward Vesper mit Paul Schröder, Christian Schneeweiß, Svenja Liesau und Manolo Bertling.
       
       Wenn ein Intendant zu Beginn einer neuen Spielzeit das Ziel formuliert, ein
       breiteres Publikum ansprechen zu wollen, macht das in der Regel so viel
       Eindruck, wie wenn Politiker Steuersenkungen versprechen. Nämlich gar
       keinen.
       
       Umso größer ist die Überraschung, wenn das scheinbar Unmögliche dann doch
       in Ansätzen einzutreten scheint. Sechs Stücke feierten am Wochenende
       Premiere bei der Eröffnung der neuen Spielzeit des Stuttgarter Schauspiels
       unter der Intendanz von Armin Petras. Trotz der Unterschiedlichkeit der
       Inszenierungen bleibt der Eindruck, dass es ein zentrales Thema gibt, das
       auf unterschiedlichen Ebenen verhandelt wird.
       
       „Kunst ist erst einmal nichts außer Reflexion über die Gesellschaft, über
       unser Leben, deren Abbild in konzentrierter Form“, schreibt Petras und
       dieser Aussage bleibt die Auswahl der Stücke treu. Sie bilden eine
       Reflexion über die unterschiedlichen Ängste und Konflikte unserer
       Gesellschaft mit dem Ergebnis, dass Angst, so unterschiedlich ihr Ursprung
       auch sein mag, letztendlich Angst bleibt.
       
       Da wäre zum Beispiel die schminkeverschmierte junge Missy in Unterwäsche in
       der Uraufführung „5 morgen“, von Petras Autoren-Alter-Ego Fritz Kater
       geschrieben und von ihm selbst inszeniert. Verfeiert und verbittert rotzt
       das eben noch wasserstoffblonde Püppchen: „Ich werde nächstes Jahr
       fünfundzwanzig, ich bin eine Niete.“
       
       ## Der perfekte Körper muss es ssein
       
       Hübsche, normale Körper interessieren sie nicht, es muss der perfekte
       Körper unterhalb der 50-Kilo-Grenze sein. Das gilt erst recht, weil der
       Erfolg in der Abschlussprüfung des Studiums ausgeblieben ist und ein Virus
       das Fortleben der Menschheit bedroht.
       
       „Dass ich nicht weiß, wer ich bin, wenn ich verheimliche, was ich dachte.
       Dass ich mein Leben lang versucht habe zu gefallen, dass ich dachte, was
       will der andere, was ich jetzt wollen soll?“ monologisiert mehr enttäuscht
       als wütend Marianne in „Szenen einer Ehe“ nach Ingmar Bergmans Film,
       inszeniert von Jan Bosse im Schauspielhaus, wiedereröffnet nach
       pannenreicher Umbauphase.
       
       Marianne ist ehemalige Ehefrau, Mutter zweier Kinder und Anwältin. Hinter
       ihr erhebt sich eine verschachtelte, dreistöckige Einfamilienburg im Stil
       der Siebziger. Unverkleidete Kulissenrückwände wechseln sich mit heiter
       tapezierten Innenseiten des komplexen Baus ab. Ein Flokati, Kamin und die
       obligatorische Makramee-Eule malen die inszenierte Gemütlichkeit aus, aber
       auch die beengende Alltäglichkeit.
       
       „Ist die Psychose Antwort auf die Frage der Bewusstwerdung?“ Das fragt eine
       der fünf Persönlichkeiten, in die die Rolle des Erzählers aufgespalten ist
       in der Inszenierung von Bernward Vespers Buch „Die Reise“, inszeniert von
       Martin Laberenz in der Nebenspielstätte Nord. Beantworten können die Stücke
       des Stuttgarter Beginns diese Frage natürlich nicht, aber dort ansetzen wo
       die Konflikte entstehen.
       
       ## Das lebendige Spiel von Astrid Meyerfeldt und Joachim Król
       
       Der tosende Applaus und die begeisterten Zwischenrufe des Publikums,
       durchschnittlich im Rentenalter, bei „Szenen einer Ehe“, ist wohl der beste
       Beweis, dass die Thematik direkt den Nerv der Zuschauer getroffen hat. Um
       kein falsches Bild zu vermitteln: Für die Begeisterung war das
       fortgeschrittene Alter nicht notwendig; auch wer den Titel „Szenen meiner
       Kindheit“ persönlich passender gefunden hätte, konnte sich dem lebendigen
       Spiel von Astrid Meyerfeldt und Joachim Król nicht entziehen.
       
       Mit Tempo und einer unglaublichen emotionalem Wandlungsfähigkeit spielen
       sie sogar die endlich funktionierende neue Drehbühne an die Wand, die
       schließlich inklusive der darauf aufgebauten kleinbürgerlichen Festung im
       Boden versinkt.
       
       In gewisser Weise schließt Armin Petras mit „5 morgen“ an „Szenen einer
       Ehe“ an. Denn was passiert, wenn der Zusammenbruch des privaten Raumes
       öffentlich wird, weil das Innen und Außen längst eins geworden sind? Fühlte
       man eben noch eine paradoxe Nostalgie beim Anblick des nun versunkenen
       bürgerlichen Wohnzimmers, drängt sich in „5 morgen“ die Ahnung auf, dass
       auch der Gegenwart eine ähnliche Zukunft bevorstehen könnte.
       
       Natürliche Farben gibt es nicht, alles ist entweder grau oder künstlich im
       Bühnenbild. Überlebt haben in dieser Interpretation der Zukunft der
       Selbstdarstellungszwang und der Erfolgsdruck, gestorben ist die Hoffnung.
       
       ## Die obligatorischen bunten Hipstersocken
       
       Nicht nur die Projektionen medialen Bildsalates, die unkommentiert das
       Stück begleiten, sondern auch die Charaktere erinnern an den eigenen
       Alltag. So wie beispielsweise Jungakademiker August mit schlecht sitzender
       BWL-Seitenscheitelfrisur und den obligatorischen bunten Hipstersocken. Oder
       Paul, Schnauzerträger mit rausgewachsener Vokuhilafrise, Bauchansatz und zu
       kurzer Neunzigerjahre Printjogginghose.
       
       Nebenbei geht die Welt unter, was im Grunde egal ist, denn Überlebenskampf
       ist sowieso alltäglich. Statt der Panik zu verfallen, spitzt sich die
       Atemlosigkeit und der Geltungszwang unter dem Funktionsdiktat der
       Leistungsgesellschaft einfach weiter zu. Bis alle gemeinsam im modern
       reduzierten Clownskostüm eine Art grotesk alltägliche
       Hochleistungschoreografie tanzen.
       
       Wo man bei dieser Zukunftsvision das Gefühl hat, sehr nah dran zu sein am
       eigenen Umfeld und der vielleicht eigenen Krise, verschiebt sich die
       Wahrnehmung von scheinbar völlig vertrauter Umwelt im „Autostück. Belgrader
       Hund“ von Anne Habermehl, das Stefan Pucher tatsächlich für zwei
       Schauspieler und drei Zuschauer auf einer Autofahrt inszeniert hat. Auf der
       Rückbank sitzend folgt man dem Gespräch von Bogdan und Beifahrerin Liljana,
       während an den Autoscheiben vorbeizieht, was man schon tausendmal gesehen
       hat.
       
       Auf befremdliche Weise ändert sich mit dem Dialog der Beiden auch das
       bekannte Bild der Stadt. Man erfährt von der serbischen Herkunft, von
       Perspektivlosigkeit und dem Zerrissen sein zwischen zwei Welten. Laut
       denkend erzählt die verlebte Blondine Liljana, gespielt von Marietta
       Meguid, von ihrem Wunsch dazuzugehören. Alltäglichkeiten transformieren
       sich, Mercedes wird vom starken Finanzpartner Stuttgarts zum
       Panzerexporteur. Liljana macht diese Welt krank aus der Gewissheit, dass
       ihre Vergangenheit nicht mit der Geschichte dieser Stadt übereinstimmt.
       
       Zurück bleibt man als Teilnehmer an diesem Petras-Marathon am Ende selbst
       mit einer unzuverlässigen Wirklichkeit. Es sind viele Anstöße, die das
       Eröffnungswochenende gibt und wenn Armin Petras meint „Ich vermittle
       allerhöchstens zwischen Menschen und Texten und noch mal Menschen, da unten
       und da draußen“, dann ist ihm das auf vielseitige Weise gelungen. Denn
       vermitteln bedeutet, denjenigen zu kennen, dem man vermittelt. An diesem
       Punkt siegt Armin Petras mit Sensibilität für die Diversität von
       Gesellschaft und Theaterpublikum.
       
       30 Oct 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Judith Engel
       
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