# taz.de -- Berlin bizarr: Oh Höllenschlund, öffne dich
       
       > Es gehört in Berlin zum guten Ton, paranoid zu sein und überall
       > potenzielle Gefahren der Gentrifizierung zu sehen.
       
 (IMG) Bild: In dieser Geschichte kommt auch ein Rad vor
       
       Merke: Ein Sprinter hat immer Vorfahrt. Erste Lektion des Monats, die ich
       als „Parvenü-Rennradfahrer“ lernen musste, wie mich die Kollegin in ihrer
       letzten Kolumne nannte. Kreuzung Gitschiner Straße und Zossener Straße. Ich
       will geradeaus fahren, der GLS-Sprinter nach rechts. Der Paketfahrer
       gewinnt, ich fliege über mein Rad, liege auf der Straße. Er fährt weiter.
       Die zweite Lektion: Berlinerinnen und Berliner sind doch nicht so
       unfreundlich. Eine Menschentraube tummelt sich gleich um mich, ich liege
       immer noch auf dem Boden. Sie schauen besorgt, fragen nach meinem Befinden,
       wollen mir helfen. Schön, denke ich. Aber ich bin doch schon viel zu spät
       dran. Ich stehe auf, freue mich darüber, dass ich mich halbwegs bewegen
       kann, meine Bomberjacke offenbar den Sturz gut abgefedert hat, und setze
       mich aufs Rad.
       
       Als ich nach Hause komme und L. davon erzähle, listet er noch mal alle
       Vorteile auf, wieso ein Fahrradhelm sinnvoll ist. Ich will aber keinen. Die
       sehen nach nichts aus. F. und B haben mir bei der Arbeit aber auch schon
       einen Vortrag über Helme gehalten. Offenbar haben sich alle abgesprochen.
       
       Ich bleibe also zu Hause in Neukölln, dem Gentrifizierungsopferkiez. Weil
       Neukölln das East Village oder Williamsburg der Achtziger ist, sitze ich
       mit einer Delegation von Freunden von Freunden von Freunden aus New York im
       Schillerkiez – vor dem Café Feed, das gerade expandiert hat. Während wir
       draußen also rauchen, Bier trinken und uns darüber unterhalten, ob Berlin
       jetzt wirklich wie New York ist, laufen ständig Passanten vorbei, die uns
       am liebsten ins Gesicht spucken würden. „Das hat uns gerade noch gefehlt“,
       „noch ein scheiß Hipsterladen“ – nur einige der Anmerkungen der
       Pseudogentrifizierungsgegner.
       
       Es gehört ja in Berlin zum guten Ton, paranoid zu sein und überall
       potenzielle Gefahren der Gentrifizierung zu sehen. Die Gentrifizierung ist
       nämlich an allem schuld. Früher, da war alles besser. Nur, früher hätten
       sich diese Idioten nie nach Neukölln getraut und wären gar nicht erst
       dorthin gezogen, weil sie zu viel Schiss vor den bösen Ausländern gehabt
       hätten. Dabei ist es ja scheißegal, ob die vermeintlichen Gentrifizierer
       wirklich den Kiez zerstören. Noch ein Café in Neukölln. Oh Höllenschlund,
       öffne dich.
       
       Keiner dieser Vollpfosten regt sich allerdings über den Biomarkt am
       Herrfurthplatz auf. Da kaufen sie nämlich alle schön ihre regionalen Äpfel.
       Diesen Teil der Gentrifizierung ignorieren sie. Auch ein Teil der
       Gentrifizierung sind ja die Homosexuellen – glaubt man dem US-Ökonomen
       Richard Florida und seiner Idee der kreativen Klasse.
       
       Die Homosexuellen hingegen haben ein anderes Feindbild: die Touristen. Aus
       diesem Grund hängt auch im Schaufenster des Möbel Olfe in Kreuzberg ein
       Stoffbanner. „Homo-Bar“ steht darauf. Es soll homophobe Heteros fernhalten.
       Das mag jetzt elitär und überhaupt nicht inklusionsmäßig sein, doch das
       Thema ist wichtig: Kolonialisieren Heterosexuelle unsere Orte? Unsere
       Schutzräume?
       
       Natürlich, in einer Traumwelt bräuchten wir uns diese Fragen gar nicht
       stellen. In dieser Utopie würden wir uns nicht mehr über Etiketten
       definieren, bräuchten keine eigenen Räume, wären die Golden Girls eine
       Familie – und der Wichser von GLS-Fahrer hätte mich nicht überfahren und
       auf der Straße liegen gelassen.
       
       1 Nov 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Enrico Ippolito
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Fahrrad
 (DIR) Berlin
 (DIR) Gentrifizierung
 (DIR) Neukölln
 (DIR) Berlin
 (DIR) Gentrifizierung
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Eine Britin in der deutschen Hauptstadt: Berlin ist ein sehr nettes Dorf
       
       Die Londoner Bloggerin Bim Adewunmi war für zwei Monate bei der taz. Sie
       wirft einen Blick auf die Stadt, ihre Bewohner und ihre Bräuche.
       
 (DIR) Kolumne Liebeserklärung: Die böse Gentrifizierung
       
       Die Stadtaufwerter der ersten Stunde bejammern den urbanen Ausverkauf. Das
       ist ganz schön geschichtsvergessen.
       
 (DIR) Kolumne Anderes Temperament: Die Kapitalisierung der Luft
       
       Bei Shell kostet Luft mittlerweile einen Euro. Mobilitätsapartheid an der
       Tanke?
       
 (DIR) Kolumne: Schrauben, schwitzen, Bier trinken
       
       Männlichkeitsgefühle unter dem Rad.
       
 (DIR) Kolumne Vollbart: Meine Bachblüten nehme ich brav ein
       
       Eine Zeitlang habe ich Buch geführt über meine Tagesaktivitäten - ganz im
       Sinne der Selbstoptimierung. Aber dieser Zwang zur Tagesbilanz führt
       irgendwie zu nichts.