# taz.de -- Brauchen wir das Böse?: Der Kampf ist noch nicht entschieden
       
       > In vielen Bereichen ist es am Verschwinden. Aber es gibt Menschen, die
       > das Böse zurückgewinnen wollen.
       
 (IMG) Bild: Da ist die Hölle noch an ihrem Platz: Deckenbemalung der Pfarrkirche St. Pankratius in Hamburg-Neuenfelde von 1683.
       
       HAMBURG taz | Das Böse ist ein seltener Gast geworden. Man trifft es
       gelegentlich, wenn Boulevardzeitungen über Sexualstraftäter schreiben.
       Manchmal ist in den Feuilletons die Rede davon, dass es zurückkehren sollte
       in die allgemeine Debatte. Etwa nachdem Kinder in Liverpool ein Kleinkind
       getötet haben. Die sympathischeren unter den Feuilletonisten schreiben
       zurück, dass der Ruf nach dem Bösen verständlich, aber nicht hilfreich sei.
       
       Kürzlich war ich im Gottesdienst, es war Reformationstag und die Rede von
       Luther – und daher nahe liegend, dass der Pfarrer deutliche Worte fand. Er
       sagte, dass das Sprechen über das Böse aus der Kirche verschwunden sei,
       vielleicht, weil man die Bildungsbürger, die das Restpublikum stellten,
       nicht verprellen wolle. Aber damit, so der Pfarrer, habe man etwas
       Wesentliches verloren.
       
       Ich mochte die Predigt. Aber das ist kein Wunder, denn ich habe die
       evangelische Kirche schon lange im Verdacht, es allen so recht machen zu
       wollen, dass sie vor lauter Milde und Verständnis eine Art Wohlfühl-Flummi
       geworden ist, der dennoch keinen Anklang findet. Aber das ist eine andere
       Frage.
       
       Wenn man bei Pastor Torsten Morche in Hamburg-Altona nachfragt, warum das
       Verschwinden des Bösen als Begriff ein Verlust sein sollte, meint er: „Uns
       ist die Möglichkeit genommen, in der Öffentlichkeit über Schuld zu
       kommunizieren.“ Das Böse habe man privatisiert. Es sei nun ein Problem des
       Einzelnen, der hoffe, mit dem richtigen Buch, der richtigen Therapie
       irgendwann endgültig damit abzuschließen. Aber das sei müßig, zumindest aus
       christlicher Sicht, denn eine Welt ohne das Böse sei erst die durch
       Christus erlöste, sagt Pastor Morche.
       
       Vielleicht ist es das, was seiner These etwas so Kathartisches gibt: ein
       kurzes Luftholen vom Anspruch der Selbstoptimierung. Und, zugegebenermaßen:
       die Befriedigung, das Nicht-Gute an sich selbst und anderen gleichermaßen
       feststellen zu dürfen. Nicht anzunehmen, dass – dies ist ein weiter Begriff
       des Bösen – meine Entscheidung, nur 50 Cent Kollekte zu geben, weil ich
       danach noch Kaffee trinken möchte, den Umständen, also meinem Arbeitgeber
       anzulasten ist, der mich zu schlecht bezahlt. Nicht anzunehmen, dass der
       Junge, der meine Tochter im Kindergarten haut, glaubt, dies sei ein
       lustiges Spiel. Zu denken, dass das Böse eine Karte im Spiel ist, die
       gelegentlich auftaucht.
       
       Pastor Morche sagt, dass die Kirche hier über verbrannte Erde gehe, dass
       sich Generationen daran abgearbeitet haben, das Reden über die schlechten
       Gläubigen, über ihre Verfallenheit an die Sünde abzustellen. Und nun? „Ist
       man auf der anderen Seite des Pferdes heruntergefallen.“ Die Pfarrer und
       Pfarrerinnen sprechen nicht mehr von bösen Menschen. Aber sie sprechen auch
       nicht mehr vom Bösen im Menschen.
       
       Was gewinnt man, wenn man davon spricht, jenseits der
       Pillepalle-Bösartigkeiten? Einen klareren Blick, ohne jene
       Sozialpädagogen-Verklärung, über die sich so großartig herziehen lässt, wie
       Hans Magnus Enzensberger es getan hat? – „Da alle anderen für nichts etwas
       können, am allerwenigsten aber für sich selbst, existieren sie als Personen
       nicht mehr, nur noch als Objekte der Fürsorge.“ Ist es eine zu einfache
       Welt, wenn man sich an seine Grundschulzeit zurückerinnert, in der man
       gehässig war zu einem Jungen, der nicht Schlimmeres getan hatte, als
       dicklich zu sein und bei seinen Großeltern zu wohnen und zu konstatieren,
       dass diese grundlose Bosheit böse ist?
       
       Es gibt einen sehr klugen Aufsatz des Frankfurter Juristen Klaus Günther,
       der darüber nachdenkt, warum die Freude an der Begrifflichkeit des Bösen
       kein harmloser Feuilletonisten-Knallfrosch ist. Das Bild vom Menschen als
       Wolf, als beharrlich böser Existenz, findet er als politisch wirksame Idee
       im Deutschland des 19. Jahrhunderts – und deutet es als Erklärungsversuch
       der enttäuschten Intellektuellen für das Überleben der autoritären Regime,
       vielleicht auch als Erschrecken über die Folgen der Industrialisierung. Es
       ist das Bild einer Welt, in der sich alles nach Freund und Feind scheidet,
       und Günther überrascht es nicht, dass es in Zeiten neuer Verunsicherung
       Konjunktur hat.
       
       Er nennt es eine „Flucht ins moralische Pathos“. Aber das solle nicht
       vernebeln, dass das Hauptargument der Verfechter des Bösen nicht treffe:
       nämlich dass derjenige, der sich in der freien Wahl zwischen Gut und Böse
       für Letzteres entschieden hat, vollständig für das Böse verantwortlich ist
       – und damit die Debatte endet. Eine Gesellschaft, die für ein bestimmtes
       Verhalten Verantwortung zuschreibt – der Familie etwa, deren Kind auf die
       Straße läuft, auf der Autofahrer mit 50 Stundenkilometern durchrasen dürfen
       – und für anderes nicht – in diesem Fall dem regelkonformen Autofahrer –,
       diese Gesellschaft muss sich darauf einlassen, über ihre Kriterien der
       Verantwortungszuschreibung und -entlastung zu diskutieren.
       
       Es scheint, als sei der Kampf ums Böse noch nicht entschieden. Aus den
       Kinderbüchern ist es verschwunden. Die Eltern, die Astrid Lindgren
       vorlesen, greifen, aber das ist jetzt ein persönlicher Eindruck, den ich
       nicht belegen kann, lieber zu „Pippi Langstrumpf“ als zu „Mio, mein Mio“,
       wo Ritter Kato Kinder verfolgt, ohne dass man erführe warum, und am Ende
       von ihm nur eine Klaue bleibt. Und die Zoologen lächeln über „Brehms
       Tierleben“, wo der Marder als bösartig galt, vielleicht weil er Tiere
       angreift, die viel größer sind als er; vielleicht, weil er sogar Menschen
       attackiert. Die Neurobiologen wiederum finden in ihren Computerbildern von
       Straffälligen Gehirnareale, deren Tätigkeit für sie auf mangelnde
       Empathiefähigkeit hinweist. Aber sie hantieren nicht wie ihre
       kriminologischen Vorfahren aus dem 19. Jahrhundert mit einem Konzept des
       Bösen. Das Moralische ist ihnen fremd.
       
       Die Kategorie des Bösen ist nicht so unerschütterlich, wie man meinen
       könnte. Sie lehnt sich an so instabile Größen wie finanzielle Ressourcen
       an, das glaubt zumindest Klaus Günther, der festgestellt hat, dass
       abweichendes Verhalten dann als unkorrigierbar durch soziale Maßnahmen
       gilt, wenn Ebbe herrscht in der Kasse des Wohlfahrtsstaates.
       
       Guntram Knecht, Chefarzt der forensischen Psychiatrie am Hamburger Klinikum
       Ochsenzoll, sagt, dass abweichendes Verhalten heute immer häufiger
       pathologisiert wird: „Wer sich normwidrig verhält, muss krank sein.“ Diese
       Entmoralisierung haben zwar viele begrüßt – ihren Verfechtern hat es jedoch
       den Vorwurf eingetragen, dass Therapie statt Strafe nur eines der vielen
       Instrumente zur sozialen Disziplinierung sei.
       
       Für Guntram Knecht liegt in der Pathologisierung die Gefahr, „Weichspüler
       zum Wegsperren“ zu werden. Wo der Sicherungsverwahrte nach geltendem Recht
       entlassen werden müsste, kann das Therapie-Unterbringungsgesetz das
       Schlupfloch bieten, ihn als mutmaßlich Kranken weiter festzuhalten.
       Angesichts einer Kleinstaaterei schön anzusehender Therapieangebote guckten
       viele gar nicht mehr hin, ob es hilfreich sei, einen Therapieplatz durch
       einen Therapieunwilligen besetzen zu lassen, während ein Therapiewilliger
       im Regelvollzug vergeblich auf einen Platz warte. Währenddessen, so sagt
       Knecht, drücke man sich vor der eigentlich anstehenden Diskussion: Die
       Frage, wie viel abweichendes Verhalten wir als Gesellschaft zu tolerieren
       bereit sind, wie viel Restrisiko wir ertragen können.
       
       Guntram Knecht ist alles andere als ein Hardliner, aber er sagt, dass mit
       dem Begriff des Bösen auch eine pragmatische Einschätzung verloren gegangen
       ist: Dass es Leute gibt, die sich bewusst entscheiden, Schlechtes zu tun.
       
       Das Böse macht es einem nicht leicht: Es ist beharrlicher, als die
       Gutmeinenden es gern hätten. Und es ist vielschichtiger als die Leute, die
       gern mit ihm hantieren.
       
       Über das Böse lesen Sie mehr in der taz.am.wochenende oder [1][hier]
       
       22 Nov 2013
       
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