# taz.de -- 50 Jahre Berliner Philharmonie: Eine ist immer die Erste
       
       > Hundert Jahre lang waren die Berliner Philharmoniker ein reiner
       > Männerclub. Bis Madeleine Carruzzo kam und dort Geigerin wurde.
       
 (IMG) Bild: Die Berliner Philharmoniker während einer Probe.
       
       Diese Geschichte kommt durchs Ankleidezimmer, eins, das es nicht gab. Weil
       selbst bei einem Bau, den viele 1982 als das Modernste wahrnahmen, was je
       entworfen wurde, nicht mitgedacht wurde, dass die Gesellschaft – und mit
       ihr das Leben da draußen – sich fortentwickelt. Dass Strukturen aufbrechen,
       die doch für immer gültig schienen, und dass das Neue dann auch irgendwann
       durch Mauern, Wände, lange Flure kriecht.
       
       Da steht also im Herbst des Jahres 1982 eine junge Frau mit Geigenkasten in
       der gelbgoldschimmernden Philharmonie in Berlin, damals noch gelegen auf
       einer Brache nahe der Mauer, heute am Rande des Potsdamer Platzes, und will
       – und darf, was die Sensation ist – in diesem Männerbund mitspielen.
       Madeleine Carruzzo, Mitte zwanzig, hineingewählt in das Orchester, dessen
       Chefdirigent Herbert von Karajan war. Das beste Orchester der Welt,
       wahrscheinlich war es das. Und bis dahin, 100 Jahre nach seiner Gründung,
       eine reine Männerwelt.
       
       Es stand nirgendwo geschrieben, dass Frauen nicht mitspielen dürfen. Es
       hatte nur nie eine geschafft, das Auswahlverfahren zu überstehen. Oder es
       hatten sich welche erst gar nicht getraut. Weiß man nicht.
       
       Carruzzo traute sich, war selbstbewusst und spielte am 23. Juni 1982 Bachs
       a-moll-Sonate und Mozarts 5. Violinkonzert so, dass die
       Orchestermitglieder, die beim Vorspiel im großen Saal dabei waren – ohne
       Vorhang, wie es manchmal üblich ist, es sah also jeder sofort, wer da
       spielte – gar nicht anders konnten, als sie in ihre Reihen zu wählen.
       
       Madeleine Carruzzo, erste Geige, seit dem 1. September 1982. Und damit
       Mitglied eines Orchesters, das in einem architektonischen Meisterwerk Hans
       Scharouns residierte, das diesen Herbst seit fünfzig Jahren so steht und
       nicht dafür eingerichtet war, dass auch Frauen dabei sind.
       
       Carruzzo, blonde Haare, serviert Schweizer Schokoladenkugeln in silbernem
       Papier und Kaffee aus bunten Bechern in ihrer Schöneberger Wohnung, draußen
       rankt wilder Wein, Rosen verwittern, zwischen Küche und Wohnzimmer wetzt
       ihr kleiner Hund Willi hin und her.
       
       ## Nie als Schmach empfunden
       
       Sie hat das fehlende Ankleidezimmer in der Philharmonie nie als Schmach
       empfunden, so war das halt – das Glück, in diesem Orchester unter diesem
       Dirigenten spielen zu dürfen, war so unglaublich viel größer. Es wurde dann
       ja auch eine Lösung gefunden, es gab da, fernab von den Ankleide- und
       Stimmzimmern der Herren Kollegen, eine unbenutzte Kammer. Die hatte
       Kunststoffboden – was zu viel Hall erzeugt. Tisch und Stuhl standen drin,
       ein Hausangestellter brachte einen Schrank, von der Decke hing eine
       Glühbirne, ein Kollege besorgte den Spiegel.
       
       Erst nach dem Probejahr, das jeder Philharmoniker, nun auch jede
       Philharmonikerin, überstehen muss, wurde der Raum komplett eingerichtet mit
       Teppich und Lampe. Es störten nur die Sänger, die nebenan übten.
       
       Darüber sah sie gerne hinweg, auch aus einem anderen Grund. Denn ihrer
       Anstellung war eine Ungeheuerlichkeit vorausgegangen. Das heißt, aus
       heutiger Sicht ist es eine Ungeheuerlichkeit. Denn das, was ihr widerfahren
       war, war damals wohl ganz normal. Und es zeigt, wie schwer es für Frauen
       war, in diesem Beruf auf höchstem Niveau ihren Weg zu machen. Egal wie
       schön ihr Geigenklang war.
       
       Damals kam eine Absage, eine, die Carruzzo noch heute so erzürnt, dass sie
       mit der Faust auf den Tisch haut. Ist sonst nicht ihre Art. „Lächerlich“,
       sagt sie, war das. Und sehr ernst.
       
       Auf zwei Stellen hatte sie sich nach dem Studium beworben, als
       Konzertmeisterin des Zürcher Kammerorchesters und bei den Philharmonikerin
       für die Geigen. Zwei hohe Ziele, zwei Spitzenensembles. Bei den Zürchern
       wäre eine Guarneri, ein Traum von einer Geige, inklusive gewesen, „ich
       hatte keine besondere“. Die Schweiz, ihr Geburtsland, hätte ihr auch
       gelegen. Und die Berliner? „Das war das höchste Ziel, mit Karajan das Beste
       damals“, sagt sie. „Ich wollte oben anfangen. Es anderswo zu probieren, das
       ging immer noch.“
       
       ## Der beste Lehrer
       
       Carruzzo hatte mehrere Jahre in Detmold studiert. Eine renommierte
       Musikhochschule ist dort, eine von vielen sehr guten in Deutschland, 900
       Kilometer von Sion in der Schweiz, wo sie geboren wurde, entfernt, aber mit
       dem besten Lehrer, den sie sich vorstellen konnte: Tibor Varga, Violinist,
       Musikpädagoge ungarischer Herkunft. Ein strenger, fordernder Lehrer, einer,
       der seine Schüler weiterbringen konnte. Eine Zeit lang war Carruzzo seine
       Assistentin.
       
       Ihre Chancen, mit diesem Studium oben anzukommen? Bei den Zürchern, dachte
       sie, nicht schlecht. Sie als Schweizerin, sehr kammermusikerfahren, und
       Frauen hatten die auch. Und bei den Berlinern? Die waren bekannt dafür,
       bevorzugt Deutsche zu den Vorspielen einzuladen, damals weit weniger
       international als heute. Dass sie keine Frau hatten, wusste sie. „Es war
       eine Herausforderung.“
       
       Dann kam dieser Brief aus Zürich, sie hat ihn aufbewahrt, verlässt nur
       einen Moment den Küchentisch, geht ins Wohnzimmer, Hund Willi hinterher,
       und kommt mit dem Blatt zurück. Dünnes Papier, altertümliche
       Schreibmaschinentype. „Dear Miss Carruzzo“, schreibt Alessandro Chasen, der
       Orchestermanager, was noch nett klingt, aber in eine schallende Absage
       mündet. „I am very sorry to tell you, that we do not engage ladies for the
       „Konzertmeister“-Seat. We have already a large number of women in our
       orchestra so that we want – if possible – have the first seats occupied by
       men.“
       
       Okay, das hätte man vielleicht noch akzeptieren können, die Mischung und
       so. Aber dann, der nächste Satz: „You will find that attitude strange, but
       life has taught us, that it is better to have a man at the first seat in an
       orchestra.“ Das Leben also habe die Zürcher gelehrt, dass an erster Stelle
       ein Mann stehen müsse. Welches Leben, fragt sich. Es tue ihm leid, dass er
       ihr diese Antwort geben müsse, aber: „I have no other.“
       
       ## Intellektuell nicht zu begreifen
       
       Der Brief macht sie fassungslos, immer noch. „Es war für mich intellektuell
       nicht zu begreifen“, sagt sie. Sie fand es niederschmetternd. Zeitgleich
       kam ein Brief aus Berlin, die Einladung zum Vorspiel. Sie kaufte sich ein
       Kleid, sonst trug sie immer Hosen. „Ich wollte bewusst als Frau auftreten“,
       ein Statement. Sie hatte ein Ziel, „Grenzen verschieben“.
       
       Die Kollegen saßen da auf den Zuschauerplätzen, „ich weiß nicht, wie
       viele“. Jeder darf mitstimmen. Zum Vorspiel waren 13 Musiker eingeladen,
       zwölf Männer und sie. Sie spielte beide Stücke nacheinander, Bach, Mozart,
       begleitet von einem Pianisten, den sie nicht kannte. Dann: eine lange
       Diskussion, „ich saß im Foyer“, wartend. Drin, im Parkett, auch Alessandro
       Cappone, Mitte zwanzig, damals einer der Jüngsten im Orchester.
       
       Bis heute ist er Carruzzos Geigenkollege ein paar Stühle weiter. Er
       erinnert sich: „Sie spielte, sie spielte wunderbar.“ Danach, sagt Cappone,
       war Gemurmel im Saal, die Stimmung: „Jetzt haben wir das Problem, sie hat
       fabelhaft gespielt.“ Ein Problem, weil: Frau. Es wurde abgestimmt, sie
       gewann. Als die Türen aufgingen, flogen ihr Glückwünsche entgegen. „Es war
       eine elitäre Männergesellschaft, sie hat das gebrochen“, sagt Cappone, „ich
       fand das gut.“ Es habe Stimmen gegeben, die zweifelten, ob sie das schafft,
       genug Kraft hat, „diese ganzen Vorurteile, die sich als null und nichtig
       erwiesen haben“. Es ging um Qualität, nicht um Mann oder Frau, und sie war
       die Beste.
       
       ## Erste Begegnung mit Karajan
       
       Im Herbst die ersten Proben mit Karajan. „Ein Monument“, sagt Carruzzo. Auf
       dem Programm Mahlers Sechste, hatte sie noch nie gespielt. Karajan, denkt
       sie, beobachtet sie oft, fixiert sie; als er die Arme verschränkt, hört sie
       auf, das Orchester spielt weiter. „Ah, so ist das hier.“ In der zweiten
       Probe kommt der Orchestervorstand, „der Chef will dich sprechen“. Sie
       denkt, was habe ich falsch gemacht. „Ich war nervös.“ Aber Karajan will sie
       nur kennenlernen, das Erste, was er sagt: „Wie haben Sie das geschafft?“
       
       Madeleine Carruzzo, seit 31 Jahren Philharmonikerin, ihr Ankleidezimmer ist
       größer geworden, heute sind 19 Frauen – die meisten bei den Streichern,
       auch eine Hornistin – im Orchester, das 128 Mitglieder hat. Als Carruzzo
       30-jähriges Dienstjubiläum hatte, schenkten ihr die Philharmoniker einen
       goldenen Anhänger, er zeigt den fünfeckigen Grundriss des Gebäudes. Sie
       trägt ihn, nimmt ihn in die Hand, „hier“. Es war das erste Mal, dass
       jemandem dieses Geschenk überreicht wurde. Vorher hatte es einen dicken
       Ring gegeben, einen Männer-Ring.
       
       Für Carruzzo war das Jubiläum ein Einschnitt. Sie steht jetzt vor dem
       letzten Viertel ihres Berufslebens. Bewusst wurde es ihr, als der
       Hornisten-Kollege ihr zu Ehren ein Gedicht aufsagte und in Reime packte,
       wie sie die Männerdomäne aufbrach. Alles wird Anekdote. Sie sagt, sie habe,
       als sie gefeiert wurde, weniger daran gedacht, dass sie die erste Frau im
       Orchester war, sondern dass sie die kommenden Jahre bewusst genießen will.
       Weil danach alles anders sein wird. Keine Konzerte und keine Kleiderkammer
       mehr, keine Tourneen um die Welt, kein tosender Applaus.
       
       1 Dec 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Felix Zimmermann
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Potsdamer Platz
 (DIR) Gleichberechtigung
 (DIR) Salzburger Festspiele
       
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