# taz.de -- Pädophilie: „Der Widerstand war nicht laut genug"
       
       > Die Berliner Grünen wollen sich ihrer Vergangenheit intensiver stellen
       > als bisher. Vieles sei verdrängt worden, sagt der Abgeordnete Thomas
       > Birk.
       
 (IMG) Bild: Publikation "Ein Herz für Sittenstrolche" des Bereichs Schwule der Alternativen Liste von 1983 (Auflage: 1.500)
       
       taz: Herr Birk, die Berliner Grünen wollen ihre pädophile Vergangenheit
       „konsequent aufklären und aufarbeiten“. Der Parteitag hat am Samstag einem
       von Ihnen mitformulierten entsprechenden [1][Antrag] fast einhellig
       zugestimmt. Sind Sie zufrieden? 
       
       Thomas Birk: Ich bin froh, dass wir unseren Beschluss von 2010 zu diesem
       Thema bekräftigt und mit einem neuen Schwerpunkt versehen haben. Wir
       schauen jetzt auch auf jene Menschen, die möglicherweise zu Opfern einer
       fehlgeleiteten grünen Programmatik der frühen Gründerjahre wurden. Damit
       beginnt eine tatsächliche Aufarbeitung jenseits von Beschlüssen und
       Distanzierungen.
       
       Das ist der Unterschied zu 2010. 
       
       Genau. Wir haben uns 2010 zu unserer Geschichte bekannt – es dann aber auch
       dabei belassen. Jetzt geht es darum, konkret aufzuarbeiten, was damals war,
       welche Programmbeschlüsse und -entwürfe es gab, was in den
       Arbeitsgemeinschaften erarbeitet wurde und welche sonstigen Dokumente
       entstanden waren wie etwa das unsägliche Heft „Ein Herz für Sittenstrolche“
       von 1983. Wichtig ist auch: Wie haben sich die jeweiligen Gremien dazu
       verhalten? Gab es Widerstand? Im Jahr 1979 zum Beispiel sind inhaltlich
       ähnliche Programmanträge abgelehnt worden – wenn auch nur knapp.
       
       Es geht aber nicht nur um die Anfangsjahre. 
       
       Richtig. Wir müssen auch aufarbeiten, wie es dazu kommen konnte, dass es
       Anfang bis Mitte der 90er Jahre einen neuen Anlauf im Berliner
       Landesverband gab, das Thema in die Partei hineinzutragen. In anderen
       Landesverbänden gab es so etwas meines Wissens nach zu diesem Zeitpunkt
       nicht mehr.
       
       Wieso hat der Berliner Landesverband den Aspekt der Aufarbeitung 2010 nicht
       mitgedacht? 
       
       Uns ging es 2010 im Zuge der allgemeinen Missbrauchsdebatte erst einmal um
       die Feststellung, dass wir da früher selbst ein Problem hatten. Heute ist
       klar, dass das nicht ausreicht. Zum einen, weil da noch mehr war, als wir
       bis dahin gefunden hatten. Zum anderen haben wir auch unterschätzt, welche
       Langzeitwirkung es hat, wenn man nicht aktiv Aufarbeitung betreibt.
       
       Was meinen Sie mit Langzeitwirkung? 
       
       Mit einem Beschluss ist es nicht getan. Die Öffentlichkeit wird immer
       wieder nachfragen – und das zu Recht. Wir haben auch wirklich zu wenig im
       Blick gehabt, dass es nicht nur eine theoretische Debatte gegeben hat,
       sondern dass Menschen in der Partei aktiv waren, die pädophil waren oder
       zumindest Sexualität mit Kindern gesucht haben. Zu einer echten
       Aufarbeitung gehört auch, sich zu fragen: Was war denn mit den Menschen,
       die darunter gelitten haben?
       
       Die Opferperspektive also. Es gibt ja noch einen anderen Grund für die
       Aufarbeitung: In den Debatten auf dem Parteitag am Samstag haben Redner
       erwähnt, wie schwer sich junge, vor allem auch queere Grüne mit dieser
       Vergangenheit tun. Sie fragen sich: Was ist das überhaupt für eine Partei,
       in der ich da bin? Herr Birk, Sie gehören schon zur älteren Generation,
       sind 1992 eingetreten. Was sagen Sie diesen jungen Parteimitgliedern, wenn
       die fragen, wie man so etwas vergessen konnte? 
       
       Ich habe nie vergessen, dass es diese Debatte gegeben hat. Ich bin 52 Jahre
       alt und gehörte schon zur Schwulenbewegung, noch bevor ich zu den Grünen
       gekommen bin. Heute muss man faktisch feststellen, dass die
       Schwulenbewegung in den 70er und 80er Jahren – und in Teilen sogar bis in
       die 90er Jahre hinein – die Forderung nach Streichung oder Änderung der
       Paragrafen [2][174] und [3][176] des Strafgesetzbuchs aufrechterhalten hat.
       Das wissen natürlich alle, die damals aktiv waren. Der Bundesverband
       Homosexualität (BVH) hat das bis zu seinem Ende in seiner Programmatik drin
       gehabt. Er wurde erst 1997 aufgelöst.
       
       Wieso tut man dann heute so überrascht? 
       
       Die jungen Leute sind überrascht, weil sie diesen Teil der Geschichte der
       Schwulenbewegung nicht kennen.
       
       Hätten nicht Menschen wie Sie den jungen Leuten diese Vergangenheit
       vermitteln und sagen müssen: So war es? Sie haben auf dem Parteitag
       berichtet, wie Sie bei Recherchen entdeckt haben, dass Sie selbst einmal
       einen ähnlichen Forderungskatalog unterstützt haben. 
       
       Das zum Beispiel hatte ich wirklich verdrängt. Ich habe 1980 in Krefeld
       eine homosexuelle Initiative gegründet. Da wir ein sehr braver Haufen
       waren, hatte ich es meiner Erinnerung nach nicht für möglich gehalten, dass
       eine solche Forderung in unserem Katalog war. Bei der ersten Durchsicht
       meiner Unterlagen von damals hatte ich auch nichts gefunden. Aber vor
       Kurzem habe ich noch mal geschaut und tatsächlich ein von mir
       mitformuliertes Papier entdeckt. In dem stand in nur einem kurzen Satz:
       Einvernehmliche Sexualität muss straffrei bleiben. Ich konnte mich wieder
       an eine heftige Debatte darüber erinnern und wusste genau, was damit
       gemeint war. Aus eigener Erfahrung habe ich deswegen auf dem Parteitag alle
       darum gebeten, ihre Verdrängungsmechanismen zu durchbrechen und so die
       Aufarbeitung möglich zu machen.
       
       Und was sagen Sie jungen Leuten aus der Partei, die Sie fragen: Wie konnte
       das sein? 
       
       Ich versuche ihnen zu erklären, dass es damals in der Schwulenbewegung im
       Rahmen des Kampfes für die Streichung des Paragrafen 175 eine aus heutiger
       Sicht falsche Solidarität gab mit jenen, die auch das Sexualstrafrecht
       bezüglich der Paragrafen 174 und und 176 StGB ändern wollten. Diese
       Debatten spielten sich vor allem bei den Schwulen ab. Das ist übrigens
       einer der Gründe, warum Lesben lange Zeit mit den Schwulen keine gemeinsame
       Politik gemacht haben. Lesben und Feministinnen haben sich sehr früh von
       diesen Forderungen distanziert.
       
       Es gab ja auch Widerstand, etwa Mitte der 90er Jahre durch die Kreuzberger
       Frauengruppe der Grünen. 
       
       Ja, und diesen Widerstand gab es auch schon viel früher. Aber aus heutiger
       Sicht muss man leider sagen: Er war wohl nicht laut genug, auch andere
       wären in der Verantwortung gewesen. Es gab schon 1989 einen Schlagabtausch
       in der Parteizeitschrift Stachlige Argumente. Und 1994 wurde es da noch mal
       heftig: Anfang der 90er Jahre hatte sich eine Gruppe „Jung und Alt“
       gegründet. Heute muss man sagen: Das war wohl eine Ansammlung Pädophiler,
       die sich als Unterarbeitsgruppe des damaligen Schwulenbereichs getroffen
       haben.
       
       In der vorher schon erwähnten Broschüre „Ein Herz für Sittenstrolche“,
       herausgegeben vom Bereich Schwule der Alternativen Liste Berlin, schrieb
       hingegen eine Frau – Martina – das Vorwort. 
       
       Die erwähnte Martina war Mitglied im damaligen geschäftsführenden Ausschuss
       und sieht das meines Wissens nach heute auch völlig anders. Mich hat bei
       der Recherche erstaunt, dass es wohl in der frühen Phase auch Frauen gab,
       die diese Forderungen auch parteiintern unterstützt haben. Das hat sich
       aber sehr schnell geändert. Die grünen Frauen waren sehr früh immer die
       klaren Gegnerinnen in der Diskussion – deswegen haben sich die Forderungen
       in der Partei auch nicht durchsetzen können. Wir müssen jetzt aufarbeiten,
       ob die entsprechenden Forderungen bei den Grünen ausschließlich von
       schwulen Gruppierungen vorangetrieben wurden oder ob es auch unter
       Heterosexuellen diese Debatte gegeben hat.
       
       In dem am Samstag beschlossenen Antrag heißt es, die Grünen wollen
       „konsequent aufklären“. Was bedeutet das genau? 
       
       Das bedeutet zum Beispiel, die möglichen Opfer in den Blick zu nehmen und
       genau zu recherchieren, welche Beschlüsse und Dokumente zur damaligen
       Debatte noch vorhanden sind. Dazu gehört auch, nach den Akteurinnen und
       Akteuren in der Debatte und ihren Rollen zu fragen und nicht davor
       zurückzuschrecken, auch Namen von Menschen zu nennen, die damals
       Forderungen aufgestellt haben, die wir heute falsch finden. Konsequent
       aufklären heißt aber auch, zu untersuchen, ob es grüne Parteimitglieder
       gab, die wegen sexuellen Missbrauchs rechtmäßig verurteilt wurden. Von
       einer Person wissen wir das bereits länger. Aber möglicherweise waren es
       noch mehr. Aufklären heißt zudem: Wie haben sich damalige führende
       Mitglieder zu diesen Forderungen verhalten? Wie haben sich Gremien
       verhalten? Gab es heftige Debatten auf Parteitagen? Oder lief das irgendwie
       so mit? Es irritiert mich schon, dass wir diese Debatte noch in den 90er
       Jahren in den Stachligen Argumenten geführt haben, ohne dass es einen
       Aufschrei gab. Es kamen zwar ein paar Leserbriefe und ich kann mich
       erinnern, dass manche nur den Kopf geschüttelt haben: „Leute, was wir hier
       diskutieren, ist strafrechtswürdig“. Aber es hat trotz Hinweisen auch von
       den Kreuzberger Frauen zunächst niemand gesagt: Wir müssen mal schauen, was
       die Autoren der Beiträge privat machen. Den Vorwurf mache ich mir heute
       auch ganz persönlich.
       
       Welche Konsequenzen müssen aus damaligem Fehlverhalten konkret folgen? 
       
       Wenn ein Mitglied damals falsche Akzeptanz geübt hat, sollte es diesen
       Fehler auch einräumen. Ohne Einsicht und echtes Bedauern kann man nicht um
       Entschuldigung bitten. Wer diese Einsicht nicht hat, verstößt damit gegen
       den grünen Grundkonsens. Dafür sieht unsere Satzung Sanktionen durch ein
       Schiedsgericht vor. Es geht hier aber nicht nur um einzelne. Ich vermute,
       dass es in dieser Frage eine Zeit lang ein Kollektiversagen gegeben haben
       muss, weil wir als Partei einer falschen Forderung ein Forum geboten haben.
       
       Waren Sie damals naiv? 
       
       Nein. Es war eher eine falsch verstandene Verlängerung der linken
       Solidarität, die man aus der Gründerzeit mitgeschleppt hat. Man ging halt
       nicht zur Polizei, selbst wenn man den Eindruck hatte, dass etwas nicht in
       Ordnung war.
       
       Die von Ihnen geplante Aufklärung klingt sehr aufwendig. Gibt es dafür
       Geld? 
       
       Ohne Geld wird es nicht gehen. Ich habe selbst gemerkt, dass ich schon viel
       mehr recherchieren wollte, aber nicht dazu gekommen bin. Sicher wird man
       jemanden beauftragen müssen, in die Archive zu steigen und das Material zu
       sichten.
       
       In dem Grünen-Antrag wird auch um Entschuldigung gebeten. 
       
       Wir haben uns an diesem Samstag mit unserem Beschluss als Partei
       entschuldigt – wobei ich lieber sage: Wir haben die Bitte um Entschuldigung
       formuliert. Man kann sich ja nicht selbst entschuldigen. Wir haben aber
       noch nicht das Gegenüber gefunden: Es hat sich noch niemand bei uns
       gemeldet. Aber ich denke, das wird noch passieren, die geeignete
       Ansprechstelle soll ja auch erst geschaffen werden. Wir müssen auch von der
       Bundesebene aus – wenn die Forschungsergebnisse vorliegen – diese Bitte um
       Entschuldigung bekräftigen. Andere Institutionen haben das mittlerweile
       gemacht: Man kann der katholischen Kirche viel vorwerfen. Aber in ihrem
       Programm hatte sie nie stehen, dass man einvernehmliche Sexualität mit
       Kindern leben könnte und straffrei lassen sollte.
       
       4 Dec 2013
       
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