# taz.de -- Traditionspflege in Halberstadt: Minnas Grab
       
       > Vor 78 Jahren ging die Sozialdemokratin Minna Bollmann in den Freitod.
       > Ihr Grab will die Halberstädter SPD erhalten. Aber wie?
       
 (IMG) Bild: In Minna Bollmanns Gaststätte mitten im historischen Stadtkern wurde 1862 der erste Arbeiterbildungsverein Halberstadts gegründet.
       
       HALBERSTADT taz | Die Linie zwei der Tram fährt direkt zum Friedhof. Die
       Endhaltestelle am Rand der 40.000-Einwohner-Stadt im Harzvorland. Das Licht
       ist herbstlich mild, ein kleiner Park öffnet sich im hinteren Teil des
       Friedhofs. Doch Park ist schon zu viel gesagt für die Freifläche, auf der
       ein Urnenfeld erste Reihen zieht. Dort befindet sich das Grab der
       Halberstädterin, die Partei- und Frauengeschichte schrieb: Minna Bollmann.
       Hoch oben auf dem Grabmal prangt ein SPD-Emblem, das ästhetisch an die
       graue Sachlichkeit der dreißiger Jahre anknüpft. Bis vor Kurzem standen
       hohe Bäume um das Grab. „Es ist ein guter Platz für Minna Bollmann“, sagt
       SPD-Mitglied Bruno Logsch, „so mitten unter den Leuten. Ihrer Klientel.“
       
       Bruno Logsch, der erst mit 60 in die SPD eingetreten ist, weil der
       arbeitslose Schlosser „etwas gegen die Agenda 2010 tun wollte“, kommt oft
       vorbei. Seine Eltern liegen hier, nebenbei kümmert er sich um das
       Bollmann-Grab. Ihn ärgert, dass es heißt, die SPD habe das Grab
       verwahrlosen lassen. Dabei ist sie, rechtlich gesehen, doch nicht zuständig
       für das Grab. Und da beginnt der Schlamassel, denn es geht hier um die
       Ehre. Minna Bollmanns und der SPD.
       
       Denn Minna Bollmann und ihre Gaststätte stehen für die SPD über Halberstadt
       hinaus – in dem Fachwerkhaus mitten im historischen Stadtkern wurde 1862
       der erste Arbeiterbildungsverein Halberstadts gegründet, 1871 – im
       Geburtsjahr Minna Bollmanns – wurde dort die SPD-Ortsgruppe gegründet.
       Bebel, Liebknecht, Ebert – sie alle waren hier. Minnas Schwiegermutter
       Johanna Bollmann hatte der Partei das Lokal schon während der
       Sozialistengesetze geöffnet.
       
       Minna Bollmann war in der DDR bekannt, geehrt – und wurde vereinnahmt.
       Schon damals gab es hier eine Minna-Bollmann-Straße, und vor der Grabstätte
       wurde eine Platte eingelassen, die sie als „Opfer des Faschismus“ ehrte.
       „Minna Bollmann, geb. Zacharias“ steht auf dem Stein, links und rechts
       finden ihr Sohn Otto und seine Frau Ida Erwähnung. Kein Wort, dass sich
       Otto Bollmann 1950 in DDR-Haft während einer Säuberungswelle gegen
       Sozialdemokraten das Leben nahm.
       
       Als Minna Bollmann am 12. Dezember 1935 unter großer Anteilnahme zu Grabe
       getragen wurde, verwandelte sich die Beerdigung in eine stumme,
       eindrückliche Kundgebung gegen die Nationalsozialisten. Bald darauf wurden
       die meisten Halberstädter Sozialdemokraten, darunter auch Otto Bollmann,
       verhaftet und zu Gefängnis- oder Lagerstrafen verurteilt. Minna Bollmann
       hatte vor ihrer drohenden Verhaftung den Freitod gewählt. Sie erhängte sich
       am 9. Dezember 1935 auf dem Dachboden ihres Gasthauses.
       
       In Bollmanns Gaststätte tagen heute noch die Halberstädter
       Sozialdemokraten. An einem Abend Ende Oktober steht das Bollmann-Grab auf
       der Tagesordnung. Rund 70 Mitglieder zählt der Ortsverein, knapp 20 sind
       gekommen, überwiegend ältere Menschen. „Die Stadt vermittelt den Eindruck,
       als wäre es ein Grab der SPD. Sie will mit uns einen Vertrag schließen“,
       erklärt Regine Feuerbach, die Vorsitzende. Doch auf etwas Langfristiges
       könne man sich nicht einlassen, die Mittel seien knapp. Regine Feuerbach
       stellt klar, dass weder Stadt noch Partei die Grabstelle eliminieren wolle.
       Zur Diskussion stehe, ob die Grabstätte versetzt, durch eine Gedenktafel an
       anderer Stelle ersetzt oder aber saniert werde.
       
       ## „Es hat immer dazugehört“
       
       Sechs Frauen, zwölf Männer diskutieren. Soll das Grab erhalten werden? Wie
       lässt sich eine Sanierung oder gar Umgestaltung finanzieren? Der
       SPD-Landtagsabgeordnete Gerhard Miesterfeldt verkündet die frohe Botschaft
       einer 2.000-Euro-Spende. Aufatmen. Doch ein Jungsozialist fragt: „Sanieren
       wir ein Grab, das uns nicht gehört, mit Geld, das uns nicht gehört?“ Jutta
       Dick, Leiterin der Moses-Mendelssohn-Akademie, erwägt die Möglichkeit eines
       Ehrengrabs, sie spricht sich dagegen aus, das SPD-Emblem und die Platte
       „Opfer des Faschismus“ zu entfernen, das sei unhistorisch. Ein älterer Mann
       sagt: „Mich bewegt, was das Grab alles überstanden hat. Es hat immer
       dazugehört, auch das SPD-Logo. Für mich muss das Grab dort bleiben. Alles
       andere ist zu anonym.“
       
       Der Ortsverein beschließt, das Grab zu belassen, die Kosten für die
       Sanierung über Spenden aufzutreiben und mit der Stadt über die Pflege zu
       verhandeln. Da keine Erben bekannt sind, ist der Nutzungsvertrag
       ausgelaufen – die Grabstätte könnte eingeebnet werden. Das will in
       Halberstadt niemand. „Wir sehen eine gemeinsame Verantwortung“, beteuert
       Stadtdezernent Michael Haase am Telefon. Er erwarte den Vorschlag der SPD,
       was mit der „augenscheinlich sanierungsbedürftigen“ Grabstätte geschehen
       solle. „Wir sind da sehr offen.“
       
       „Das Grab sah schlimm aus“, sagt Werner Hartmann. Der 91-Jährige ist so
       etwas wie das lebende Gedächtnis der Stadt. Das Zeitalter der
       Digitalisierung hat in seinem überfüllten Arbeitszimmer in der
       Ludwig-Feuerbach-Straße noch nicht Einzug gehalten, wohl aber ein Kopierer.
       Wann ist das SPD-Emblem auf den Grabstein gekommen? Ab Mai 1945 gab es
       einen SPD-Bürgermeister, weiß Hartmann, und eine starke Ortsgruppe,
       insofern sei es wahrscheinlich, dass das Logo an Bollmanns 10. Todestag am
       9. Dezember 1945 angebracht wurde. Doch schon im April 1946 sei es wieder
       vorbei gewesen mit der Eigenständigkeit der SPD. Sie musste sich
       zwangsweise mit der KPD zur SED vereinen.
       
       Werner Hartmann hat als Kind Minna Bollmann „reden gehört“. Ihre Gaststätte
       lag um die Ecke, in der damals noch nicht aufgehübschten Unterstadt mit
       ihren Fachwerkhäusern. Nebenan stand auch die Synagoge, die 1938 zerstört
       wurde.
       
       ## Neuer Name, alter Tresen
       
       Der Schriftzug „Bollmanns Gaststätte“ ist erhalten geblieben, auch wenn die
       neuen Inhaber das Lokal „Papermoon“ nennen. Carmen Allonge, die fünfte
       Pächterin nach der Wende, zapft das Bier noch an Minnas altem Tresen. Der
       Schankraum wurde renoviert, nebenan befindet sich Originalmobiliar. An der
       Wand hängt ein großes Ölbild von Minna Bollmann. „Sie soll herzlich gewesen
       sein“, sagt Michael Boskugel, der Freund der Pächterin. „Aber sie guckt
       streng.“
       
       Minna Bollmann war eine der ersten Frauen in der Weimarer
       Nationalversammlung. Keine Theoretikerin, aber eine gute Rednerin. Bis 1933
       war sie Abgeordnete im Preußischen Landtag und in der Halberstädter
       Stadtversammlung. Was für eine Laufbahn, von der Schneiderin über die
       Wirtin zur Politikerin. Als sie nach 1933 ihr Lokal weiterhin für
       Parteitreffen offenhielt und Bebel nicht von der Wand nahm, wusste sie, was
       sie riskierte. „Liebe Kinder, verzeiht mir diesen Schritt, sie sind hinter
       mir her! Seid vorsichtig mit Gesprächen im Lokal!“, schrieb sie in ihrem
       Abschiedsbrief.
       
       Michael Boskugel ist gut informiert über Minna, ihre Kneipe, über Partei
       und Stadt. Der ehemalige Juso, der an diesem Abend die Bestellungen der
       Genossen entgegennimmt, war Mitglied einer Historikerkommission für
       Halberstadt. Während er alte Fotos und Dokumente herauskramt, setzt sich
       ein Stammgast auf einen Hocker, ein Sozialarbeiter im städtischen
       Asylbewerberheim.
       
       Begeistert erzählt er, dass er gerade Schriften von Lily Braun liest. Auch
       eine Halberstädterin, eine Frauenrechtlerin, Schriftstellerin. Soll noch
       einer sagen, die SPD sei in Halberstadt vergessen! Über die Frage der
       Großen Koalition diskutiert der Ortsverein heute nicht. Es geht unter
       Ausschluss der Öffentlichkeit um Personalia für die Kommunalwahlen im
       Frühjahr. Der OB ist von der Linkspartei, die SPD schwächelt.
       
       ## Auf den Ursprung reduzieren
       
       Halberstadt hat einen Verwaltungsstudiengang, dessen Studenten niemals
       Bollmanns Gaststätte aufsuchen würden, Rathauspassagen, die das
       geschäftliche Leben völlig verschluckt zu haben scheinen, den Dom samt
       Vorplatz, wo Daniel Prieses Denkmal für die deportierten Juden Halberstadts
       steht. Halberstadt, im Mittelalter Bischofssitz, ist eine Stadt mit reichem
       Kulturerbe. Am 8. April 1945 wurde es von US-amerikanischen Bombern in
       Schutt und Asche gelegt. „Das war der Anfang vom Ende“, sagt Michael
       Boskugel. „Seither haben die Halberstädter einen Schaden weg.“ Im
       Burchardi-Kloster wird noch sechshundert Jahre lang ein Stück von John Cage
       erklingen. Wer will, kann eine Stiftertafel erwerben.
       
       Der Halberstädter Bildhauer Daniel Priese hat im SPD-Auftrag Pläne zur
       Sanierung des Grabes ausgearbeitet, ohne SPD-Emblem. „Einen
       dokumentarischen Wert will ich dem nicht absprechen“, sagt er, aber als
       Logo sei es eine Erfindung. Das Grab habe fortlaufend Veränderungen
       erfahren. Der ursprüngliche Grabstein wird schon wegen der
       Nationalsozialisten nicht so groß gewesen sein, später kamen Otto und Ida
       Bollmann hinzu, der Platz, auf dem zu DDR-Zeiten die Kränze abgeworfen
       wurden. Den sollte man wegnehmen, meint Priese.
       
       Er will das Grab um ein Viertel drehen, sodass es wieder von allen Seiten
       einsehbar ist. Prieses Anliegen: „Reduzieren auf den Ursprung: das Gedenken
       an Minna Bollmann.“ Im Übrigen sei dies auch preiswerter, als den jetzigen
       Zustand wiederherzustellen.
       
       Am 9. Dezember wird der SPD-Ortsverein wie in jedem Jahr am Grab einen
       Kranz niederlegen. Bruno Logsch wird sich, bis die Sache mit der Stadt
       geklärt ist, weiter um die Pflege kümmern. Daniel Priese wird an diesem Tag
       den SPD-Mitgliedern seine Vorstellungen von der Umgestaltung des Grabes
       erläutern. Minna Bollmann ist aus ihrem Winterschlaf erwacht.
       
       9 Dec 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Sabine Seifert
       
       ## TAGS
       
 (DIR) SPD
 (DIR) Konzentrationslager
       
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