# taz.de -- Tarifeinigung im Einzelhandel: Moderne Stundenlöhner
       
       > Modetempel wie H&M oder C&A wälzen ihr Geschäftsrisiko auf die
       > Angestellten ab. Daran wird auch der neue Tarifvertrag nichts ändern.
       
 (IMG) Bild: Ein alltägliches Bild: Kundenandrang bei H&M.
       
       BERLIN taz | Lea Danschke* steht bereit, wenn H&M in der Stuttgarter
       Königsstraße sie braucht, damit sie Kunden bedient, Ware verräumt oder
       kassiert. Ihr Arbeitsvertrag garantiert Danschke 10 Stunden Arbeitszeit in
       der Woche – den Rest bestimmt der Zufall.
       
       Läuft das Geschäft gut, hat Danschke Glück. Läuft es schlecht, etwa wegen
       des Wetters, hat sie Pech: Sie wird früher nach Hause geschickt oder gar
       nicht erst in den Laden bestellt.
       
       Das hat Folgen: Mal bekommt Danschke am Monatsende 300 Euro Lohn zusammen,
       mal 750. Für Beschäftigte wie sie hat sich ein Begriff eingebürgert:
       „Moderne Stundenlöhner“ oder „Flexis“. In der H&M-Filiale in der
       Stuttgarter Königsstraße arbeiten laut Angaben des Betriebsrats von 54
       Mitarbeitern nur 13 in Vollzeit. Der Rest wird in unterschiedlich flexiblen
       Teilzeitmodellen oder als Minijobber eingesetzt. 20 der H&M-Mitarbeiter
       sind moderne Stundenlöhner.
       
       Mit Modellen wie diesen wälzen Textil-Einzelhandelsunternehmen wie H&M
       einen Teil ihres Geschäftsrisikos auf die Arbeitnehmer ab. Der taz liegen
       Arbeitsverträge aus mehreren Filialen vor. Flexibel Beschäftigte gehen mal
       mit rund 1.200 oder 1.500 Euro Monatsverdienst nach Hause, ein anderes mal
       nur mit 200, 300 oder 500 Euro. H&M, Deutschlands zweitgrößter
       Textileinzelhändler mit mehr als 400 Filialen und einem Bruttoumsatz von
       3,48 Milliarden Euro im Jahr 2012, spart Lohnkosten und Spätzuschläge.
       
       ## Das Geschäftsrisikos tragen die Arbeitnehmer
       
       Für die Betroffenen hingegen wird jede stabile Finanz- und Lebensplanung
       unmöglich. „Die Leute denken vielleicht, mir macht das nicht viel aus, weil
       ich noch jung bin“, sagt die 20-jährige Danschke. „Aber ich wohne nicht
       mehr zu Hause, ich muss meine Miete bezahlen. Wenn das Geld nicht reicht,
       spare ich am Monatsende am Essen.“ Einen zweiten Job könne sie auch nicht
       einfach so annehmen, sagt Danschke. „Weil ja jederzeit H&M anrufen und
       fragen könnte, ob ich arbeiten will.
       
       H&M ist nicht das einzige Unternehmen, das so oder so ähnlich vorgeht, um
       Kosten zu sparen. Ein Drittel der Beschäftigten des Bekleidungsunternehmens
       Esprit hat Verträge, die nur 13 Mindeststunden garantieren, teilt die Firma
       auf Anfrage mit. Beliebt ist auch das Modell befristeter Aushilfen, wie es
       bei Inga Bäcker* angewandt wurde. In nur etwas mehr als einem Jahr bekam
       Bäcker von C&A fünf befristete Verträge. Immer dann, wenn sie nicht
       gebraucht wurde, kam die Kündigung, die zum Teil nur für wenige Tage galt.
       
       „Fast die ganze Branche arbeitet mittlerweile so. Ausnahmen gibt es nur
       noch bei wenigen traditionellen Bekleidungshäusern“, sagt Christina Frank,
       Gewerkschaftssekretärin von Ver.di in Stuttgart. Nur selten wehren sich
       Beschäftigte. Bäcker tat es – und hatte 2012 in erster Instanz vor dem
       Arbeitsgericht Erfolg.
       
       ## Unsicherheit rechtfertig noch keine Befristung
       
       C&A verstieß nach Ansicht der Richter nicht nur formal gegen das Teilzeit-
       und Befristungsgesetz. Die Richter stellten auch fest: „Die Unsicherheit
       der künftigen Entwicklung (eines Betriebs, d. Red.) rechtfertig noch keine
       Befristung.“ Denn, so die Juristen: „In dieser Lage befindet sich mehr oder
       weniger jeder Arbeitgeber, der Arbeitnehmer mit Daueraufgaben beschäftigt.“
       Im vorliegenden Fall werde das „unternehmerische Risiko zeitweiser
       fehlender Einsatzmöglichkeiten vollständig auf die Arbeitnehmerseite“
       verschoben, kritisierten die Juristen. Bäcker hatte gewonnen – doch das
       Verfahren ging in die zweite Instanz. Anderthalb Jahre später ließ sich
       Bäcker auf einen Vergleich ein.
       
       „Das ist oft so. Nur wenige klagen. Und wenn sie klagen, dauern die
       Verfahren durch die Instanzen mehrere Jahre. Das hält kein Beschäftigter in
       prekärer finanzieller Lage aus“, sagt Gewerkschafterin Frank.
       
       Bei H&M oder C&A verteidigt man die Fleximodelle. H&M betont, die
       Tarifverträge des Einzelhandels legten „Sollstunden als Orientierungswert“
       fest. „Wir versuchen stets, den Mitarbeiterwünschen in Bezug auf
       Arbeitseinsätze, soweit es unternehmerisch sinnvoll und möglich ist,
       nachzukommen“, heißt es aus der Pressestelle. Und: „Vielfach kann mehr
       gearbeitet werden, als vereinbart. Selbstverständlich nur, wenn der Kollege
       es auch wünscht.“
       
       ## Unternehmenssprecher: 85 Prozent Festangestellte
       
       Für C&A sagt Unternehmenssprecher Thorsten Rolfes, dass circa 85 Prozent
       der Mitarbeiter festangestellt in Voll- oder Teilzeit arbeiteten. Variabler
       Personalbedarf durch die „zum Teil starken Umsatzschwankungen“ werde durch
       Aushilfen abgedeckt. Rolfes betont: „Wir übernehmen regelmäßig Aushilfen in
       Festanstellung. Dem Wunsch kann nur entsprochen werden, wenn für den
       Mitarbeiter ein kontinuierliches Arbeitsaufkommen zu erwarten ist.“
       
       „Es ist schwer, gegen sogenannte Stundenlöhnerverträge vorzugehen. Darin
       wird meist ausgereizt, was möglich ist“, sagt Christiane Brors, Professorin
       für Arbeitsrecht an der Universität Oldenburg und ehemalige
       Arbeitsrichterin. Einen Arbeitgeber mit Erfolg auf eine höhere
       Vertragsarbeitszeit zu verklagen, wenn mehr Überstunden anfallen, sei fast
       unmöglich. „Die Rechtssprechung ist da sehr zurückhaltend, sie schützt die
       private Autonomie des Vertrags.“
       
       Brors plädiert deswegen dafür, zumindest andere
       Flexibilisierungsinstrumente wie die Möglichkeit zu Befristung von
       Verträgen ohne Angabe von Gründen abzuschaffen – so, wie es Grüne,
       Linkspartei, Gewerkschaften und auch die SPD im Wahlkampf gefordert hatten.
       Im Koalitionsvertrag findet sich nichts dazu.
       
       ## Viele Möglichkeiten zur Befristung
       
       Dabei gibt es bereits jetzt viele Möglichkeiten, mit Grund zu befristen:
       etwa, wenn der Bedarf an der Arbeitsleistung nur vorübergehend besteht,
       wenn ein erkrankter Kollege oder eine Mitarbeiterin in Elternzeit vertreten
       werden soll oder zur Erprobung eines neuen Beschäftigten.
       
       Dem Einzelhandelsverband Deutschland (HDE) reicht das noch nicht. Er
       kündigte Anfang des Jahres in allen Bundesländern die Manteltarifverträge,
       forderte flexiblere Arbeitszeitmodelle und Niedriglohngruppen für Kassierer
       und Regalauffüller. Beschäftigte haben dagegen in den vergangenen Monaten
       immer wieder gestreikt. Der Streit ist mittlerweile in vielen Bundesländern
       beigelegt, der Manteltarifvertrag unverändert wieder in Kraft gesetzt. Doch
       die Fleximodelle werden nicht eingeschränkt. Und der Konflikt im
       Einzelhandel ruht nur. HDE und Ver.di werden bald grundsätzlich über
       Tätigkeiten und deren Entlohnung verhandeln. Dann beginnt das Kräftemessen
       erneut.
       
       ## Speerspitze der Flexibilisierung
       
       Dabei ist der Einzelhandel bereits seit den 1990er Jahren Speerspitze der
       Flexibilisierung: Zeitkonten, Jahresarbeitszeitmodelle, Teilzeitkräfte,
       Minijobber, Stundenlöhner und Befristungen ermöglichen es, Personal gezielt
       nur dann einzusetzen, wenn es gebraucht wird.
       
       „Natürlich muss die Branche zum Teil große saisonale Schwankungen
       ausgleichen“, sagt Dorothea Voss, Forscherin an der gewerkschaftsnahen
       Hans-Böckler-Stiftung. „Aber es gibt schon viele Instrumente, damit
       umzugehen. Allerdings erfordert das aufseiten der Arbeitgeber, rechtzeitig
       und gut zu planen und den Betriebsrat oder die Beschäftigten vertrauensvoll
       in diese Planung einzubeziehen."
       
       ## Es geht es auch ohne "Flexis"
       
       In der Berliner H&M-Filiale Friedrichsstraße Ecke Französische Straße ist
       für ein Teil der Beschäftigten die Zeit der Unsicherheit jedoch vorbei.
       „Wir sind das gallische Dorf der H&M-Welt“, sagt Jan Richter, der
       34-jährige Betriebsratsvorsitzende. Mittlerweile seien rund 80 Prozent der
       59 Beschäftigten in seiner H&M-Filiale gewerkschaftlich organisiert. „Am
       Anfang hatten viele Angst. Aber alle haben gemerkt, so geht es mit den
       Arbeitszeiten nicht weiter.“
       
       2006 verlangten Betriebsrat und Beschäftige, eine Kollegin auf Vollzeit
       aufzustocken, statt neue Stundenlöhner einzustellen. Die Filialleitung
       stellte sich stur und verlängerte vier befristete Verträge nicht. „Im Laden
       brach das Chaos aus. Aber wir haben trotzdem nur das Nötigste gearbeitet“,
       erzählt Richter. Schließlich knickte die Filialleitung ein. Zwei
       Stundenlöhner wurden auf Vollzeit aufgestockt, später folgten neun weitere
       Kollegen. Mehr als die Hälfte der fast 60 Beschäftigten arbeitet
       mittlerweile in Vollzeit.
       
       „Ich war total froh. Jetzt habe ich ein Kind. Ohne ein bisschen Sicherheit
       hätte ich mir das nicht zugetraut“, erzählt eine 30-jährige Arbeitskollegin
       von Richter, die anonym bleiben will. Aber längst nicht überall gibt es
       Betriebsräte. Bei H&M nach Angaben der Pressestelle nur in 112 von 400
       Filialen.
       
       *Namen geändert
       
       15 Dec 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Eva Völpel
       
       ## TAGS
       
 (DIR) H&M
 (DIR) Tarifvertrag
 (DIR) Zusteller
 (DIR) Minijob
 (DIR) Streik
 (DIR) Textilarbeiter
 (DIR) Dirk Niebel
 (DIR) Bangladesch
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Nach 88 Zeitverträgen in 17 Jahren: Post stellt Zustellerin endlich fest an
       
       Ewig in befristeten Jobs für die Post AG: Eine Frau aus
       Mecklenberg-Vorpommern hatte davon die Nase voll und klagte. Das Verfahren
       endete jetzt mit einem Vergleich.
       
 (DIR) Armutsjob Zeitungszusteller: Ein Job wie Flaschensammeln
       
       Zeitungszusteller gehören zu den Armutslöhnern in Deutschland: Vier Cent
       bekommt Irina Feldmann pro „gesteckter“ Tageszeitung.
       
 (DIR) Streiks bei der PIN AG: Es geht doch!
       
       Der Berliner Postzusteller bezahlt seine Mitarbeiter ab Januar endlich nach
       Tarif. Ver.di spricht von einem „bundesweiten Signal“.
       
 (DIR) Textil-Mindestlohn in Bangladesch erhöht: Billigmode für 50 Euro monatlich
       
       In Bangladesch steigt der Mindestlohn für NäherInnen. Doch das bringt ihnen
       wegen hoher Inflation wenig. Die Gewerkschaften sind unzufrieden.
       
 (DIR) Niebels letzter Auftritt: Mindestlohn bei H&M
       
       TextilarbeiterInnen in Indien oder Bangladesch sollen existenzsichernde
       Löhne erhalten. Selbst der scheidende FDP-Minister ist dafür.
       
 (DIR) Fabrikeinsturz in Bangladesch: Die Glücksritter vom Rana Plaza
       
       Mit wenig Geld und einem wackeligen Geschäftsmodell haben zwei
       Fabrikbesitzer in Bangladesch jahrelang gut verdient. Dann brach alles mit
       dem Rana Plaza zusammen.