# taz.de -- Emanzipation von der Nationalität: Nur Nazis mögen keinen Fisch
       
       > Zu Hause ist man zu deutsch, draußen bleibt man immer der Ausländer. Über
       > die Vor- und Nachteile des Migrantendaseins.
       
 (IMG) Bild: Jeden Freitag gibt es Neonazi-Partys: Plattenbauviertel in Leipzig.
       
       „Bild dir ja nicht ein, dass das deine Freunde wären. Für die anderen
       Kinder wirst du immer der Russe bleiben.“ Immer ein Fremder, niemals
       gleichwertig. Mein Vater injiziert mir diese Worte, als ich zehn bin. Zu
       diesem Zeitpunkt leben wir seit zwei Jahren in Deutschland. Eigentlich
       sollte es nach Israel gehen. Stattdessen wohnen wir im achten Stock eines
       Betonkolosses in Grünau, einem Leipziger Plattenbauviertel.
       
       Es sind die Mittneunziger: Arbeitslosigkeit und „die da oben“ sind vielen
       im Wohnkomplex 8 Grund genug, rechtsextrem zu werden. Der Sticker an der
       Tür unserer Nachbarin erklärt Rudolf Heß zum Volkshelden. Im siebten Stock
       sind jeden Freitag Neonazi-Partys. Zum Glück weiß ich noch nicht, wer
       Rudolf Heß ist, und habe auch noch keine Angst, in den Fahrstuhl mit fünf
       Erwachsenen zu steigen, die allesamt an Haarausfall zu leiden scheinen. Was
       mir dagegen Sorgen bereitet, ist, dass mein Vater recht haben könnte.
       
       Ich möchte nicht jeden verdächtigen müssen, dass er mich wegen meiner
       Herkunft ablehnt. Aber immer wenn ich mit meinem Schulfreund Danny streite,
       lautet sein letztes Argument: „Scheiß-Russe!“ Und weil Danny sehr beliebt
       ist, denken alle in meinem „Freundeskreis“ so. Vielleicht wurde ich deshalb
       nicht zu Steffens Geburtstag eingeladen und bin im Fußballteam so
       unbeliebt? Ich weiß nicht, womit ich die anderen sonst gegen mich
       aufgebracht haben könnte. Ich weiß nur, dass Nationalität eine verdammt
       wichtige Sache zu sein scheint.
       
       „Das versteht du eben nicht. Du bist zu deutsch dafür, einer von denen!“
       Ich bin inzwischen fünfzehn und Mutter macht mir Vorwürfe. Auslöser ist ein
       abgelehnter Fisch beim Abendessen. Mir schmeckt Fisch nicht und Gräten
       nerven. Diese Nahrungspolitik macht mich familienintern zum Deutschen. Das
       und dass ich den Witz mit dem Bären und dem Wodka nicht lustig finde. Und
       die miese Mathenote. Für Mutter alles Zeichen meiner elenden
       Germanisierung.
       
       Wir leben immer noch in Grünau. Ich habe gelernt, dass Rudolf Heß nicht
       mein Freund ist, und spucke regelmäßig an die Tür meiner Nachbarin. Was ein
       Neonazi ist, weiß ich sehr gut, seit mir Faschos eine Zigarette auf dem Arm
       ausgedrückt haben. Ansonsten klappt es aber ganz gut mit dem Ausdrücken.
       Danny ist sauer auf mich, weil ich seine Muttersprache inzwischen besser
       spreche als er.
       
       ## Deutsch sprechen, oder Russisch
       
       Die Chicks am Gymnasium stehen drauf, wenn ich ans Telefon gehe und
       plötzlich Russisch spreche. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlt es sich
       cool an, Ausländer zu sein. Was dagegen nervt, ist, dass meine Eltern mich
       immer öfter korrigieren. Einmal sage ich sehr ungeschickt auf Russisch,
       dass sie aus meinem Zimmer gehen und mich auf alleine Einsamkeit („Na
       Odinokasti“) lassen sollen. Sie lachen den ganzen Abend über die Phrase.
       Ich schäme mich.
       
       Ich würde am liebsten ins Deutsche wechseln, aber dann schäme ich mich erst
       recht. Schließlich haben wir ja mein ganzes Leben lang miteinander Russisch
       geredet. Ich bin doch kein Fremdkörper! Oder doch? Vielleicht sollte ich
       ein paar russische Bücher lesen. Irgendwas krass Klassisches mit
       komplizierten Worten. Auf jeden Fall weiß ich, dass Nationalität eine Sache
       ist, über die verschiedene Menschen sehr verschieden denken. Und dass Maria
       mich vielleicht wegen meiner ihre Brüste anfassen lässt.
       
       „Der Staat als ethnopolitischer Unternehmer.“ Meine Bachelorarbeit beweist,
       dass Nationalität nur ein politisch instrumentalisiertes Konstrukt ist.
       Finanziert wird die Arbeit vom Bildungsministerium – Deutschlandstipendium.
       Ich weiß, dass jeder vernünftige Mensch sich vom Nationalitätsgedanken
       emanzipieren sollte. Mache mir aber Sorgen, wer bei der WM für Deutschland
       im Mittelfeld spielt – jetzt, da Khedira sich das Kreuzband gerissen hat.
       Ich bin 27 und der deutscheste Anti-Anti-Deutsche-Migrant, den ich kenne.
       
       Vater hält bis heute an seinem Ratschlag fest. Es tut mir sehr weh, wenn er
       versucht Deutsch mit mir zu sprechen. Dann unterbreche ich ihn schnell und
       sage etwas auf Russisch. Mutter nennt den Heizungsablesedienst inzwischen
       einfach Heizungsablesedienst und sagt, dass ihr der korrekte russische
       Ausdruck dafür „wurscht ist“. Fisch schmeckt mir inzwischen großartig.
       Danny ist, glaube ich, zur Bundeswehr gegangen.
       
       1 Jan 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dmitrij Kapitelman
       
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