# taz.de -- Keimzelle der Revolution in Tunesien: Zu Ehren des Minenarbeiters
       
       > Begegnungen in der bizarren Bergarbeiterregion im Süden Tunesiens. Hier
       > begann der Widerstand gegen den Despoten.
       
 (IMG) Bild: Im Büro der Patriotischen Demokraten in Redeyef
       
       Metlaoui ist eine staubige Bergbaustadt am Übergang der tunesischen
       Steppenlandschaft zur Wüste. Bergwerks- und Verladestationen sowie große
       Wohnsiedlungen für die Arbeiter prägen das Ortsbild. Metlaoui ist
       provinziell, unspektakulär, schmutzig. Dennoch treffen wir hier viele
       Touristen. Sie fahren mit der Touristenbahn Lézard Rouge (Rote Eidechse) in
       die Seldja-Schlucht. Durch canyonartige, über 100 Meter hohe, steile
       Felswände, durch unbeleuchtete Tunnel. Zwischendrin weitet sich das Tal und
       gibt den Blick auf eine palmenbestande Berglandschaft frei. Eine großartige
       Landschaft, ein Touristenhighlight.
       
       Die Strecke wurde für den Arbeiterzug, „train arabe“, von den Franzosen
       gebaut. Er fuhr zweimal täglich von Metlaoui nach Redeyef und brachte die
       Arbeiter zu den Phosphatabbauhalden. Die Städte Metlaoui, Redeyef und
       Moulares sind Ende des 19. Jahrhunderts unter den französischen
       Kolonialherren entstanden. Beduinen und Stämme aus dem Süden Tunesiens
       ließen sich hier nieder, um in den Phosphatminen zu arbeiten. Der
       französische Tierarzt Philippe Thomas hatte den wertvollen Bodenschatz 1885
       entdeckt.
       
       Mehdi Daly, der Lehrer und Gewerkschafter aus Gafsa, der Provinzhauptstadt
       des Phosphatbeckens, begleitet uns zu den Abraumhalden. Vorbei an den alten
       Förderanlagen, die sich wie riesige schwarze Raupen durch die trockene,
       bergige Landschaft fressen. Der Abbau des einzigen Bodenschatzes Tunesiens
       hinterlässt Spuren: Krater von Sprengungen für den Phosphatabbau machen die
       ohnehin ausgetrocknete Erde zur unwirtlichen Mondlandschaft. Mehdi Daly hat
       die Geschichte der Phosphatregion, der Gewerkschaftsbewegung und der
       staatlichen Phosphatgesellschaft aufgeschrieben.
       
       Sein Buch ist eine Geschichte über Aufstieg, Ausbeutung und Niedergang.
       „Aber auch von Widerstand“, sagt der Chronist Mehdi. „Hier nahm die
       tunesische Revolution mit den Aufständen von 2008 gegen die staatliche
       Phosphatgesellschaft ihren Ausgang.“ Hier liege die Keimzelle der
       Revolution vom Januar 2011.
       
       ## Der Reichtum fließt nach Tunis ab
       
       „Unserer Forderung, dass 20 Prozent der erwirtschafteten Gewinne in der
       Region bleiben, schenkte man in Tunis nie Gehör“, sagt Mehdi. Und so reihte
       sich das Phosphatbecken in die vernachlässigten Regionen des tunesischen
       Landesinneren ein, obwohl hier ein Großteil des Reichtums des Landes
       erbracht wurde. Ein Drittel seines Bruttoinlandsprodukts bekommt es aus der
       Förderung und dem Export von Phosphat. Futtermittel, Dünger, Waschpulver,
       Farbe – Phosphat wird überall verwendet. Tunesien ist der fünftgrößte
       Produzent weltweit, doch die Produktion bricht ein – die marokkanische
       Konkurrenz ist stark.
       
       Die Phosphatförderung liegt in der Hand zweier Unternehmen: der Compagnie
       des Phosphates de Gafsa (CPG) und der Groupe Chimique Tunisien (GCT). Sie
       sind beide halbstaatlich und teilen sich einen Verwaltungsrat. „Die
       Bewohner des Bergbaureviers kannten die Umsätze der CPG: 2008 waren es etwa
       350 Millionen Euro. Sie wussten auch, dass der Preis für Phosphat steigt.
       Sie wollten teilhaben am Reichtum, der mit ihren Händen erwirtschaftet
       wird“, sagt Mehdi.
       
       Sie wollten nicht nur schuften und die fatalen Begleitfolgen tragen: Saure
       Böden, Staub, Entzündungen der Atemwege, starke Lungenentzündungen schon
       bei Kindern, Missbildungen bei Neugeborenen und Nierenerkrankungen sind in
       der Region keine Seltenheit. Aber vor allem: In der gesamten Gegend ist
       eine ungewöhnlich hohe Krebsrate zu beobachten.
       
       ## Die hohe Krebsrate ist ein Tabuthema
       
       Ein Tabuthema. „Die Zähne vieler Bewohner sind gelb-bräunlich, auch die
       vieler Kinder. Wir vergiften uns mit unserem Trinkwasser“, sagt Mehdi. „Und
       selbst Kamele brechen plötzlich zusammen, da sie an Knochenschwund leiden,
       weil sie vergiftetes Wasser aus den Flüssen und an den Wassersenken
       trinken.“
       
       In dem 6.000 Quadratmeter großen Phosphatbecken gibt es riesige
       Waschanlagen. Um eine Tonne Phosphat exportfähig zu machen, werden fünf
       Tonnen Wasser benötigt. Wasserengpässe in dieser ohnehin trockenen Region
       sind so vorprogrammiert. Mindestens ein Drittel des mit Chemikalien
       versetzten Wassers gelangt nach der Reinigung des Phosphats ins
       Grundwasser. „Wir leben inmitten einer ungeheuerlichen Umweltkatastrophe“,
       sagt Mehdi.
       
       Landwirtschaft sei hier nicht möglich. Und selbst der wenige Regen, der
       hier fällt, werde durch den hohen Schadstoffausstoß bei der
       Phosphatförderung sauer. „Selbst das Ministerium für regionale Planung
       stellt in einem offiziellen Papier fest, dass im Umgang mit der knappen
       Ressource Wasser Handlungsbedarf besteht – konkrete Schritte gibt es
       nicht.“
       
       ## Auch die Infrastruktur darbt
       
       Wir besuchen Redeyef. Der Ort mit seinen 30.000 Einwohnern – ein Schock.
       Die Arbeiterstadt hat keine geteerten Straßen und außer den Kolonialvillen
       der Franzosen, die den Phosphatabbau einst als Erste betrieben, besteht
       Redeyef nur aus einfachsten Häusern, kleinen budenartigen Läden, einem
       vermüllten, ausgetrockneten Flussbett. Das ärmliche Zuhause des
       Arbeiteradels, zu dem sich die schon früh gewerkschaftlich aktiven
       Phosphatarbeiter zählten. „Verdienen die meisten Arbeiter Tunesiens gerade
       einmal den Mindestlohn von etwa 140 Euro im Monat, so zahlt die CPG fast
       400 Euro im Monat plus Prämien“, sagt Mehdi. Doch die Compagnie des
       Phosphates hat ihre Arbeitsvermittlung in Gafsa längst geschlossen.
       
       Mit dem Ende des Untertagebergbaus Mitte der achtziger Jahre schrumpfte die
       Zahl der Arbeiter im Phosphatabbau von 15.000 auf heute 6.000. „Vor der
       Revolution 2011 waren 5.000 Personen bei dem staatlichen Bergbaukonzern
       beschäftigt. Um die Leute ruhig zu stellen, hat man dann nach der
       Revolution einige Arbeitsplätze mehr geschaffen“, sagt Mehdi. Das ändere
       nichts an der tristen Realität: Jeder Dritte in der Region sei arbeitslos,
       unter den Hochschulabsolventen gar jeder zweite. Hinzu käme: Die
       Phosphatproduktion sei nach der Revolution 2011 eingebrochen: „von 9
       Millionen Tonnen im Jahre 2010 auf höchstens 3 Millionen Tonnen 2013“.
       
       Mehdi Daly führt uns ins Büro der Patriotischen Demokraten in Redeyef.
       Sticker, Fotos und Plakate mit dem Bild des im letzten Frühjahr ermordeten
       Parteichefs Chokri Belaid zeigen dessen Bedeutung. Ein Märtyrer. Aktivisten
       der Phosphatarbeiter- Aufstände von 2008 sind gekommen und erzählen vom
       Widerstand gegen den Polizeistaat unter Ben Ali, von Folter, Gefängnis und
       Arbeitsverlust.
       
       Der Aufstand der Bergarbeiter von 2008 dauerte ein halbes Jahr: Die
       Zentrale des staatlichen Bergbaukonzerns und der Gewerkschaft wurden
       besetzt. 4.000 Polizisten Ben Alis hielten Redeyef im Würgegriff. 34
       Menschen starben.Tausende wurden festgenommen, die lokalen Streikführer
       verurteilt und ins Gefängnis geworfen. Die Arbeiter forderten vor allem
       gerechtere Verteilung der immer weniger werdenden Arbeit, ein Ende der
       Korruption, Investitionen in die Region, in Schulen und Gesundheitszentren
       und einen ökologischen Ausgleich.
       
       ## Nicht nur die Männer, vor allem Frauen kämpften
       
       Es sind durchweg traurige, berührende Geschichten, die die Männer erzählen.
       „Nicht nur wir Männer“, sagt ein junger Aktivist, der zwei Jahre inhaftiert
       war und noch heute Narben der Folter trägt, „vor allem unsere Frauen haben
       Widerstand geleistet.“
       
       Heute werde die Phosphatgesellschaft von einem Parteigänger der
       islamistischen Ennahda kontrolliert. Nichts sei besser geworden. Das
       Bergbaurevier brauche dringend eine wirtschaftliche und soziale
       Entwicklung, neue Ideen, darin sind sich die Männer im Parteibüro einig.
       
       Sie verfluchen die Politiker und Beamten in der Hauptstadt Tunis, die diese
       Region jahrzehntelang ausgebeutet und vernachlässigt haben. Und sie sind
       tief enttäuscht von der anhaltenden politischen und wirtschaftlichen
       Stagnation nach der Revolution, von den kleinlichen Machtkämpfen der
       Politiker in Tunis. Der Phosphatabbau soll nun liberalisiert werden.
       Südkoreaner und Chinesen bauen eine neue Phosphatfabrik. Auch Mehdi Daly,
       der Geschichtsschreiber dieser Region, bezweifelt, dass dadurch die
       Bedingungen der Menschen besser werden.
       
       ## Die römischen Wasserbecken ohne Wasser
       
       Gafsa ist eine quirlige Provinzhauptstadt mit einer langen Geschichte. Der
       gewagte Sprung von einer malerischen Palme ins gut gefüllte römische
       Wasserbecken war jahrzehntelang das Postkartenmotiv der Stadt. Die
       römischen Wasserbecken im Stadtzentrum sind inzwischen ausgetrocknet, die
       stattliche Palme davor ist längst verdorrt. Gafsa wirkt heruntergekommen:
       löchrige Straßen, vergilbte Fassaden; ein beißender Schwefelgeruch liegt in
       der Luft.
       
       Wir treffen Ghzela Mhamdi, Aktivistin der Bergarbeiteraufstände von 2008,
       im kitschigen Touristenhotel Jughurta Palace mit den ausladenden, barocken
       Möbeln, dem heruntergekommenen Swimmingpool und dem fantastischen Blick auf
       die Berge. Ghzela nahm 2008 teil an den Sit-ins der Bergarbeiterfrauen, die
       die Gleise der Phosphatzüge blockierten. Sie sammelte Unterschriften,
       demonstrierte, trat in den Hungerstreik. Die Polizei Ben Alis hat sie
       mehrmals zusammengeschlagen, ihr Knie schmerzt bis heute. Barack Obama hat
       sie dafür ausgezeichnet und als Widerstandskämpferin in sein Land
       eingeladen.
       
       „Früher war der Feind klar erkennbar: Ben Alis Polizei. Nun gibt es neue
       Feinde: Reaktionäre und Salafisten. Die Übergriffe nach der Revolution sind
       unberechenbarer geworden. Seit 2011 habe ich mehr Angst“, gesteht Ghzela.
       Unser Begleiter Mehdi Daly war ihr Lehrer. „Die Lehrer der Region haben
       entscheidend zum Bewusstsein der Bergarbeiter beigetragen“, sagt Ghzela.
       Seit 2011 gebe es viele Frauen, die in Vereinen und politischen Parteien
       aktiv sind. „Und obwohl die Frauen auch früher immer kämpften: Es war
       damals viel schwerer, sich zu organisieren.“
       
       Abidi Mahjoub, der Künstler, gesellt sich zu uns. Er hat konkrete Pläne für
       die Phosphatregion. Auf großen Papierbögen breitet er sie vor uns aus: drei
       riesige Porträts in den zur Abenddämmerung rötlich schimmernden Berg
       gehauen, gleich hinter dem Hotel, sind darauf zu sehen – zu Ehren des
       Minenarbeiters, zu Ehren Jedlas, der Berberfrau, und zu Ehren Balkis, der
       Königin von Sheba. Abidi träumt von einer Art Mount Rushmore in der Provinz
       Gafsa. Er will den Menschen hier ein Denkmal setzen und einen
       Industrietourismus in dieser bizarren Bergarbeiterregion fördern. Eine
       schöne Idee. Investoren werden gesucht.
       
       11 Jan 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Edith Kresta
       
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