# taz.de -- Die Wahrheit: Fenster der Trance
       
       > Wer fernsieht, dem kommen die absonderlichsten Kindheitserinnerungen
       > wieder hoch, etwa an Kameraden, deren Kopf bearbeitet werden musste.
       
 (IMG) Bild: Achtung: Lesen kann ihrem Wohlbefinden schaden.
       
       Viele Nachmittage haben wir damit verbracht, Stephan den Kopf zu kraulen.
       Wie viele genau, weiß ich nicht mehr, ich war ja erst neun, aber in der
       Rückschau würde ich sagen: entschieden zu viele. Selbstverständlich trugen
       wir gelbe Rollkragenpullis, orangefarbene Hemden und braune Cordhosen mit
       Schlag, manche von uns vielleicht sogar Plateauschuhe, aber über den
       Zeitraum hinweg, in dem wir Stephan den Kopf gekrault haben, müssen die
       Sachen eigentlich längst schon wieder aus der Mode gekommen sein.
       
       Kürzlich lief im Fernsehen eine neuere Verfilmung von Jules Vernes’ „Reise
       zum Mittelpunkt der Erde“. Da sausten die Helden reichlich spektakulär mit
       einer Lore durch ein altes Bergwerk, und ich dachte: Hey, genauso hatte ich
       mir damals die Stollen unter dem Haardter Berg vorgestellt! Die Stollen, in
       denen man unter Tage in einer Lore bis in die vier Kilometer entfernte
       Oberstadt von Siegen sausen konnte! Die tollen, supergeheimen Stollen, die
       nur ein Mensch auf der Welt überhaupt noch kannte!
       
       Dieser Mensch war Stephan, ein spindeldürrer Typ mit einem großen Kopf, auf
       dem dünne blonde Locken wuchsen. In seinem Gesicht saß eine kastenförmige
       Brille mit superdicken Gläsern, hinter denen seine blassblauen Augen riesig
       hervortraten. Wir Kinder sagten „Glubschaugen“ dazu, die Erwachsenen
       nannten es „Basedow“.
       
       Nun muss man wissen, dass in unserer südwestfälischen Gegend früher Erz
       gefördert wurde. Unter der bewaldeten Oberfläche ist das Mittelgebirge
       durchlöchert wie ein Käse. Eines Tages beim Spielen vertraute uns Stephan
       an, er wisse einen geheimen Einstieg in das System der Schächte und
       Stollen, das die früheren Gruben des Siegerlandes miteinander verbindet.
       Das Schienennetz sei intakt, viele Loren noch funktionsfähig.
       
       Wir waren völlig aus dem Häuschen. Allesamt kannten wir das Schaubergwerk
       unter dem Stadtmuseum im Oberen Schloss und stellten es uns irre romantisch
       vor, in einer Lore zu sitzen und im Schein der Grubenlampen dorthin
       rüberzusausen. Bedauerlicherweise hatte Stephan allerdings den genauen Ort
       des Einstiegs vergessen. Er wusste nur noch, dass dieser sich im Wald
       oberhalb des Universitätsneubaus verbarg. An seiner Erinnerung wollte er
       jedoch arbeiten. Wir alle konnten ihm helfen, indem wir seinen Kopf und
       seine Schläfen kraulten. Dann würde er vielleicht in jene Trance fallen, in
       der ihm die Lage der Luke unweigerlich wieder in den Sinn käme.
       
       Wir waren sofort einverstanden. Stephan setzte sich auf ein Treppchen
       zwischen den Wohnblocks und bekam den Kopf unter dem schütteren Haar
       gekrault. Seine dick verglasten Augen schlossen sich, hin und wieder stieß
       er ein wohliges Brummen aus. Als er mit einem geisterhaften Zittern in der
       Stimme Wörter wie „Waldweg“, „Baumschule“ und „Trafohäuschen“ von sich gab,
       glaubten wir freudig erregt, dass es jetzt so weit sei. War es aber nicht.
       Nach anderthalb Stunden, in denen jedes von uns acht oder neun Kindern
       reihum mit dem Kraulen dran war, schlug er die Augen auf und sagte
       bedauernd, dass es heute leider nicht geklappt habe.
       
       So ging das über Wochen. Wir versammelten uns nachmittags, kraulten der
       Reihe nach Stephans Kopf und bekamen hernach immer neue Worte des Bedauerns
       zu hören. Wenn ihn jemand der Angeberei bezichtigte oder ihm vorwarf, es
       gebe dieses Stollensystem gar nicht, zuckte er nur mit den Schultern. Das
       wäre unsere Entscheidung, sagte er ernst und blickte uns aus riesigen Augen
       an. Er wisse nun mal, was er wisse.
       
       Sehnsüchtig blickten wir hinab ins Tal, hinüber zum weit entfernten
       Siegberg mit dem Oberen und Unteren Schloss, zwischen denen das goldene
       Krönchen der Nikolaikirche aufblitzte. Darunter befand sich möglicherweise
       ein supergeheimes Stollensystem, durch dessen nassen Fels wir eines Tages
       kurven konnten. So machten wir zähneknirschend weiter.
       
       Irgendwann waren wir es dann allerdings doch leid, Stephans Kopf zu
       kraulen. Wegen des offenkundigen Schwindels fiel er bei uns in Ungnade und
       zog auch kurze Zeit später mit seinen Eltern weg.
       
       Hey, sprach ich nun zu mir, was mochte wohl aus Stephan geworden sein? Vor
       dem Googeln hätte ich erwartet, dass er Zaubertinkturen verkaufte oder
       Werber geworden war, vielleicht gar … – Schriftsteller? Lockten die nicht
       Menschen mit dem ständigen Versprechen, Geheimnisse zu enthüllen? Nährten
       sie nicht Sehnsüchte, die sie gleichzeitig ungestillt lassen mussten? Und
       riskierten sie für Ruhm und Erfolg nicht stets, am Ende fortgejagt zu
       werden?
       
       Es war aber alles völlig anders. Stephan hatte Karriere im
       öffentlich-rechtlichen Rundfunk gemacht, es bei einem Sender zum
       Chefredakteur gebracht. Das erschien mir noch viel einleuchtender: In einer
       solchen Position braucht man den Leuten keine aufwendig erfundenen
       Geschichten erzählen. Da stehen sie ganz von selbst Schlange, um einem den
       Kopf zu kraulen.
       
       MARK-STEFAN TIETZE
       
       2 Mar 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Mark-Stefan Tietze
       
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