# taz.de -- Debütroman von Vaddey Ratner: Das Mädchen und die Roten Khmer
       
       > „Im Schatten des Banyanbaums“ erzählt in einer weisen und zugleich
       > unschuldigen Sprache vom Überleben unter dem kambodschanischen
       > Terrorregime.
       
 (IMG) Bild: Menschenleere Straße in Kambodscha.
       
       Eines Abends sitzt der Vogel so lange in der Lotusblüte, bis sie sich über
       ihm schließt. Die ganze Nacht verbringt er in Gefangenschaft der Blüte. Als
       er am nächsten Morgen nach Hause fliegt, duftet der Vogel wie eine Blume.
       
       Für Raami endet die Geschichte hier, den Rest verschweigen ihr die Eltern.
       Ähnlich märchenhaft beginnt der Roman von Vaddey Ratner: statt Happy End
       gibt es ein Happy Beginning. Unter dem Titel „Im Schatten des Banyanbaums“
       erzählt die Schriftstellerin aus der Perspektive eines Mädchens von der
       Machtübernahme der Roten Khmer.
       
       Es handelt sich also mitnichten um ein Kinderbuch. Als die Roten Khmer 1975
       das „Demokratische Kambodscha“ ausriefen, war die Autorin fünf Jahre alt.
       Wie die Familie ihrer Protagonistin gehört sie zu den Nachkommen des König
       Sisowath. Als solche hätte sie auch gleich erschossen werden können.
       Stattdessen schicken die Rebellen sämtliche Kambodschaner zunächst aufs
       Land – zur „Umerziehung“.
       
       Das ist kaum besser: Etwa zwei Millionen Kambodschaner sterben an
       Krankheit, Hunger und Erschöpfung, viele werden gefoltert und erschlagen.
       Nach vier Jahren Zwangsarbeit gelingt es der Mutter von Vaddey Ratner, mit
       der inzwischen neunjährigen Tochter über Thailand in die USA zu fliehen.
       Heute lebt die Autorin in Washington D. C.
       
       Die Geschichte, die sie in ihrem Debüt erzählt, ist also in weiten Teilen
       ihre eigene. Um die Gräueltaten der Gewaltherrschaft zu beschreiben, webt
       sie mythische Erzählungen in ihren Bericht. Statt die Schrecken aber zu
       verharmlosen oder zu dramatisieren, macht Ratner sie erlebbar. Das
       beeindruckt mehr als Fakten.
       
       ## Für Raami sind die Rebellen böse Geister
       
       In einer gleichzeitig unschuldigen und weisen Sprache berichtet das Mädchen
       Raami erst von ihrer Kindheit in einem Haus voller Geschichten und
       liebevoller Erwachsener. Raami kann seit einer Kinderlähmung nicht mehr
       richtig laufen, ansonsten entspricht ihre Welt der einer Prinzessin. Als
       sie von den Roten Khmer verjagt wird, flieht die Familie in ein Sommerhaus.
       Noch gelingt es Raami, die schwarz gekleideten Rebellen als böse Geister in
       ihre Fantasiewelt einzubauen.
       
       Doch dann wird die Familie immer weiter aufs Land getrieben und schließlich
       getrennt. In den Reisfeldern stirbt die kleine Schwester von Raami an
       Malaria, Raami fühlt sich schuldig. „Es werden nur so viele überleben, wie
       im Schatten eines Banyanbaums Platz finden“, hatte „Großmutter Königin“
       gesagt. Sie behält recht. Bald erfährt Raami das Ende der Vogelgeschichte:
       Als der Vogel nach der Nacht in der Lotusblüte zu seiner Familie
       zurückkehrt, trifft er nur noch seine wütende Frau. Ein Waldbrand hat das
       Nest zerstört.
       
       Inzwischen sind nur noch Raami und ihre Mutter übrig. Für den Bau eines
       Deichs müssen sie Erde schaufeln, viele Zwangsarbeiter sterben dabei. Raami
       stellt sich vor, sie bauten ein Grab für einen Drachen-Yiak, einen
       Riesendrachen. Bisher war es der Protagonistin fast immer gelungen, Sinn
       und Schönheit zu entdecken. Sei es an der bemalten Decke eines geschändeten
       Tempels, in zwei ineinanderverschlungenen Palmen oder im Charakter eines
       Wahlverwandten.
       
       So wirkt das Buch unerwartet bereichernd. Ohne es auszusprechen, vermittelt
       die Geschichte das Gefühl, dass man sich auf den Lebenswillen verlassen
       kann.
       
       ## Geschichten als Ausgleich für ein krankes Bein
       
       Bei der Arbeit in den Gräben verliert das ausgehungerte Mädchen jedoch
       schließlich die Vorstellungskraft und damit ihre Sprache. Tatsächlich ist
       der Roman an dieser Stelle am kürzesten. Erst viel später, als Raami ein
       Gedicht vom Vater findet, beginnt sie wieder zu sprechen.
       
       Sie erinnert sich: Kurz bevor ihr Vater sich für immer verabschiedet, hatte
       er der Tochter erklärt, dass er ihr die Geschichten als Ausgleich für ihr
       krankes Bein erzählt habe. Sie sollten ihre Flügel sein. Ohne Kontext
       klingt das kitschig - unter der Gewaltherrschaft stellt sich die Fantasie
       als überlebenswichtig heraus.
       
       12 Mar 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Catarina von Wedemeyer
       
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