# taz.de -- Die Wahrheit: Zum Essen bei Branz
       
       > Im Hause des Branz herrscht zwar Gastfreundschaft, aber ein merkwürdig
       > ungnädiger Umgangston. Ferner sind sonderbare Erscheinungen zu erwarten.
       
       Ich war entsetzlich hungrig. „Na, dann kommen Sie doch zu mir“, lud Branz
       mich ein, „bei mir gibt es gleich Abendessen. Ich nahm dankend an und
       folgte ihm in seine Wohnung. Zuerst wurde ich in eine geräumige Küche
       geführt, wo vier wie Köchinnen gekleidete ältere Frauen arbeiteten. Mir
       erschien das sonderbar, doch zählte jetzt nur, dass es mir zu einer
       Mahlzeit verhelfen würde.
       
       Wir begaben uns ins Esszimmer und nahmen am Tisch Platz. Branz füllte
       unsere Gläser mit Rotwein, und wir stießen auf meinen Hunger an. Jeden
       Augenblick musste das vermutlich opulente Mahl serviert werden. Die Zeit
       verging, Branz rauchte eine Zigarre. Mir knurrte der Magen, doch nichts
       geschah, aus der Küche war kein Laut zu vernehmen. Nun schien es auch Branz
       zu lange zu dauern.
       
       „Gretchen!“, brüllte er mit einem Mal auf ganz rohe Weise. „Wo bleibt,
       verdammt noch mal, das Essen?“ Dem glaubte ich entnehmen zu können, dass
       nur eine der vier Damen fürs Servieren zuständig war. Der ungnädige
       Umgangston, in den Branz ihr gegenüber verfiel, störte mich zwar, doch
       blieb mir nicht viel Zeit, mich mit solchen Empfindungen
       auseinanderzusetzen, denn es ereignete sich etwas, von dem ich nie gedacht
       hätte, dass es sich ereignen könnte. Eine Erscheinung, ein Wesen oder was
       auch immer, kam flink ins Zimmer gelaufen und schoss unablässig zwischen
       Tisch, Anrichte und Tür hin und her, ohne irgendeinen Sinn dieses Tuns
       erkennen zu lassen.
       
       Höchstens einen halben Meter groß war das Phänomen und mit einem grauen
       Tuch verhüllt. Man hätte von einer vollständigen Verschleierung sprechen
       können, wenn dieser Begriff nicht hauptsächlich auf das Gesicht angewendet
       würde. Hier aber war jede Verschleierung überflüssig, denn es gab gar
       keinen Kopf. Der höchstgelegene Punkt des Körpers war die Schulterpartie.
       Kurze, dünne Ärmchen waren vorwärts in den Raum gestreckt, am anderen Ende,
       unterhalb des Tuchsaums, bewegten sich kleine Füße, ob mit Schuhen oder
       ohne, war nicht zu unterscheiden. Was mochte es sein, das da mutwillig im
       Zimmer umhersauste?
       
       Auf eine Erklärung hoffend, sah ich den Gastgeber an. Dessen Gesicht war
       grau geworden und verriet enorme Anspannung. Nach Kräften schien er sich
       darauf zu konzentrieren, das ihm unliebsame Geschehen zu ignorieren, als ob
       er versuchte, mit seinem gewaltsamen Leugnen die Präsenz der Erscheinung
       auch aus meinem Bewusstsein zu tilgen. Schließlich ächzte er: „Ich glaube,
       das wird heute nichts mit dem Essen. Verhungern kann man in diesem Haus!“
       
       Es gab keinen Grund, länger am Schauplatz solcher Possen zu bleiben, daher
       erhob ich mich von meinem Platz. Ich hatte den Eindruck, dass Branz nichts
       davon mitbekam. Der Blick des Mannes war starr, sein Bart wirkte wie
       angeklebt. Unterdessen zog das winzige, kopflose Ding weiter fliegenhaft
       seine Bahnen. Es war nicht auszuhalten. Nach einem flüchtigen Blick in die
       jetzt wirklich menschenleere Küche sah ich zu, dass ich hinauskam.
       Inzwischen war es früher Abend, und ich musste endlich etwas Nahrhaftes
       essen.
       
       21 Apr 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Eugen Egner
       
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