# taz.de -- Odessa am Wahlsonntag: „Ich wähle Julia“
       
       > Am Tag der Präsidentschaftswahl in der Ukraine ist die Bevölkerung
       > Odessas gespalten. Oberflächlich ist es ruhig, aber die Stimmung ist
       > gereizt.
       
 (IMG) Bild: Gedenken an die Toten des 2. Mai: vor dem Gewerkschaftshaus in Odessa.
       
       ODESSA taz | „Dona nobis pacem“ singt der Kirchenchor der lutherischen
       Gemeinde in der Luteranskaja-Straße von Odessa. Anschließend betet der
       Pfarrer ein Friedensgebet, dankt Gott für seine Unterstützung beim
       interreligiösen Gebet und bittet Gott um ein friedliches Zusammenleben
       aller Menschen mit unterschiedlichen politischen Positionen. Die Gemeinde,
       die sich vor allem aus deutschstämmigen Ukrainern des Gebietes Odessa
       zusammensetzt, betet und singt andächtig mit. Was der Pfarrer betet ist
       sehr aktuell für jeden Gläubigen.
       
       Direkt gegenüber der evangelischen Kirche ist ein Wahllokal. Hier herrscht
       zwar kein Gedränge, aber regelmäßiger Betrieb. Zehn Polizisten stehen, zum
       Teil rauchend, vor dem Wahllokal. Schwierigkeiten erwarten sie an diesem
       Tag keine. Zumindest nicht in den Wahllokalen. Es sind über 200 Menschen,
       die jede Stunde dieses Vormittags das Wahllokal betreten, um ihre Stimme
       abzugeben. Unter ihnen auch viele der lutherischen Kirchgänger.
       
       „Nun ja“, sagt eine Frau. „Ich habe mich entschieden, Poroschenko meine
       Stimme zu geben. Der Mann weckt in mir Vertrauen. Meine Schwester ist in
       seiner Firma beschäftigt, und sie ist sehr angetan vom Arbeitsklima dort.
       Ich denke, wenn Poroschenko den Staat so führen wird wie seine Firma, haben
       wir nichts zu befürchten.“ Sie kauft Poroschenko ab, dass er ehrlich ist,
       tatsächlich die Korruption bekämpfe und Odessa von den Banditen befreien
       werde, wie er auf seinen Wahlplakaten angekündigt hatte.
       
       Auch wer nicht in der Kirche war, ist sonntäglich angezogen. Wer zur Wahl
       geht, hat sich in Schale geworfen. Einige hundert Meter weiter, ebenfalls
       in der Nowoselskaja-Straße, das gleiche Bild: ein Dutzend Polizisten, zwei
       ukrainische Fahnen, zwei Fahnen der Stadt Odessa, ein Hinweisschild zum
       Wahllokal und im Durchschnitt jede Minute ein oder zwei Wähler, die ihre
       Stimme abgeben wollen.
       
       ## Poroschenko und die Schokolade
       
       Auch im Institut für „Food Technology“ ist die Stimmung unaufgeregt.
       Zwanzig Personen warten geduldig, bis sie an die Reihe kommen, keine Spur
       von politischen Emotionen. „Ich wähle Julia“, meint ein Rentner. „Die Frau
       ist Profi, weiß sich durchzusetzen und kann sicherlich auch mit Putin gut
       verhandeln. Poroschenko ist zwar nett, aber er sollte lieber weiter bei
       seiner Schokolade bleiben. Ich glaube nicht, dass er unserem Land
       irgendetwas gutes tun kann.“
       
       Ganz anders das Bild vor dem Haus der Gewerkschaften, hundert Meter vom
       Bahnhof entfernt. Hier hatten am 2. Mai mehrere Dutzend Aktivisten der
       Anti-Maidan-Bewegung offiziellen Angaben zufolge bei einem Brand in dem
       Haus ihr Leben verloren, in das sie vor Pro-Maidan-Demonstranten geflüchtet
       waren. Aktivisten der Anti-Maidan-Bewegung sprechen gar von zweihundert
       Toten.
       
       Ein Meer von Blumen und Photos der Aktivisten, die am 2. Mai hier starben,
       erinnert direkt am Eingang an die Toten. Das Gebäude ist hermetisch
       abgeriegelt. Und trotzdem muss es betreten worden sein. Auf einigen
       Fenstersimsen liegen Blumen, vom Dach weht eine rote Fahne mit Hammer und
       Sichel.
       
       Zweihundert Menschen, mit Sankt-Georgs-Bändchen, Aufklebern „Der Faschismus
       kommt nicht durch“ und Plakaten „Wir boykottieren diese Wahl“, haben sich
       um 14 Uhr vor dem Gewerkschaftshaus versammelt. Es ist eine seltsame
       Mischung aus Sowjetunion-Nostalgikern und orthodoxen Christen mit
       religiöser Symbolik und zwei Ikonen, die liebevoll neben einem Photo eines
       getöteten Anti-Maidan-Aktivisten aufgestellt sind.
       
       ## Regelmäßiges Gedenken
       
       Seit den Todesfällen harren hier regelmäßig einige Aktivisten der
       Anti-Maidan-Bewegung aus. Am Wahlsonntag waren es nachmittags über
       zweihundert Menschen. „Der 2. Mai 2014 war für mich so wie der 30. Januar
       1933“, erklärt ein Mann mit Sankt-Georgs-Bändchen am Revers den
       Journalisten. „Wie sollte ich nach diesen Ereignissen noch an dieser Farce
       von Präsidentschaftswahl teilnehmen“, fragt er wütend.
       
       „Ich glaube nicht, dass diese Wahlen irgendetwas verändern. Im Gegenteil,
       sie verschärfen die Lage noch weiter. Besser wäre es, ein Referendum zu
       organisieren, über die Einführung eines föderativen Staates“, meint die
       pensionierte Lehrerin Lidia, die aus einem Vorort der Hafenstadt kommt. Ihr
       ganzer Stolz ist ihre Tochter, die es geschafft hat, in Russland in der
       Stadt Rostow-am-Don eine Stelle als Ärztin zu bekommen.
       
       Oberflächlich scheinen die Wahlen am Sonntag in Odessa ganz im Sinne der
       Kiewer Machthaber abgelaufen zu sein. Seit dem 2. Mai wurden alle
       politischen Demonstrationen abgesagt. Aber es gärt unter der Oberfläche die
       Stimmung ist gereizt. Es ist nicht auszuschließen, dass diejenigen, die
       geduldig jeden Tag vor dem Gewerkschaftshaus der Toten gedenken, langsam
       zahlreicher werden.
       
       25 May 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Bernhard Clasen
       
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