# taz.de -- Im Slum von Kreuzberg: Jesus, Mama und der Müll
       
       > „Free Cuvry“, wurde hier gefordert, gegen Gentrifizierung protestiert –
       > nun herrschen auf der Cuvrybrache am Kreuzberger Spreeufer vor allem
       > Armut und Gewalt.
       
 (IMG) Bild: Auf der Cuvrybrache sind bereits kleine "Straßen" entstanden.
       
       In der Schlesischen Straße reiht sich ein Ausgehlokal ans nächste. Bars,
       Cafés, Restaurants. Nur an der Ecke Cuvrystraße klafft eine Lücke. Hinter
       einem mit bunten Plakaten vollgekleisterten Bauzaun ragen Bäume, Sträucher
       und bemalte Holzhütten hervor. Eine quer gespannte Wäscheleine weist den
       Weg in Kreuzbergs Favela.
       
       Das Gelände mit Spreezugang ist schon seit vielen Jahren unbebaut. Ein
       Brachland im Wartezustand und ein widerständiges Stückchen Kreuzberg:
       Investorenträume von Einkaufszentren scheiterten hier genauso wie eine
       temporäre Nutzung als „BMW Guggenheim Lab“. Seitdem sich im Sommer 2012 die
       ersten Camper als Protest gegen das Lab dort niedergelassen hatten, ist die
       Cuvrybrache erst ein Zeltdorf, dann eine Zeltstadt geworden, in der
       Aussteiger und Freaks gegen den Mainstream leben und feiern.
       
       Eigentlich wollte der Berliner Immobilienentwickler Artur Süsskind, der
       2011 das Gelände vom Senat kaufte, auf den gut 10.000 Quadratmetern eine
       Wohnanlage mit Spreeterrasse, Kita und Supermarkt bauen. Als die Pläne der
       Nieto GmbH für die „Cuvryhöfe“ bekannt wurden, formierte sich Widerstand im
       Bezirk. Brachenbewohner und Anwohnern forderten: „Free Cuvry!“ Die
       Zeltstadt sollte bleiben, als soziales Experiment und sichtbarer Protest
       gegen die Aufwertung der Gegend.
       
       ## Die Stimmung ist gekippt
       
       Das war 2012. Jetzt, im dritten Jahr der Besetzung, ist die Stimmung
       allerdings gekippt. Die Nachbarn auf der Schlesischen Straße sind nicht
       mehr gut zu sprechen auf die Cuvrybrache. „Räumung, sofort“, fordert eine
       Anwohnerin. Die Zustände seien nicht mehr tragbar, sagt ein Ladeninhaber.
       Müllberge, Ratten, Krankheiten – „das geht nicht mehr lange gut“.
       Namentlich will niemand in der Zeitung erwähnt werden. Man fürchtet die
       Rache der Brachenbewohner, die als unberechenbar beschrieben werden.
       
       Ein Besuch am frühen Nachmittag zeigt: Aus der fröhlichen „Free
       Cuvry“-Zeltstadt ist inzwischen ein Slum geworden. Ein Elendsquartier, auf
       dem sich die versammeln, die sonst nicht wissen, wohin. Etwa fünfzig Zelte
       und Holzhütten stehen inzwischen auf dem Gelände. An der Uferkante sitzen
       ein paar Leute und lassen die Beine baumeln, es riecht nach Müll und nassen
       Klamotten. Die Bar an der Spree, ein zusammengezimmerter Tresen, ist
       verwaist. Casey, eine der Betreiberinnen, hat gerade andere Probleme.
       „Diamond!“, ruft sie und humpelt in Nylonstrümpfen über das Gelände – „mit
       meinen Highheels komm ich hier nicht weit“, sagt sie. Casey, 23 Jahre alt,
       ist klein, zierlich, trägt ein lila Hütchen auf dem Kopf und reichlich
       Make-up. Nur vereinzelte Bartstoppeln und der Adamsapfel verraten, dass sie
       biologisch ein Mann ist. Nicht mehr ganz nüchtern, tappt sie auf der Suche
       nach ihrem Welpen übers Gelände, fragt alle, die sie trifft. Das betrunkene
       Punkerpärchen, das auf einer alten Sofagarnitur am Fluss sitzt, nuschelt
       Unverständliches. Ein junger Franzose, der in einem Beet werkelt, vermutet:
       „Der ist zu den Polen gelaufen.“ Auf dem Weg zu „den Polen“ verrät Casey,
       dass sie aus Neukölln stammt, auch schon auf der Straße gelebt habe – und
       hier seit einigen Monaten ihren Frieden gefunden habe.
       
       Na ja. Frieden trifft es nicht so ganz: Sie bleibt dort stehen, wo
       rumänische Roma-Familien eine ganze Straße mit akkuraten Hütten errichtet
       haben, vor denen Wäsche hängt und Kinder spielen. „Die da“ hätten wenig
       Toleranz für alternative Lebensentwürfe wie den ihren, sagt Casey. Auch mit
       anderen, denen die Drogen das Hirn vernebelten, gebe es oft Stress. „Jeden
       Abend Schlägerei“, sie seufzt. Aber besser als auf der Straße sei es doch.
       
       Die Unterkünfte auf der Brache sind so vielfältig wie ihre Bewohner: Vom
       zerfetzten Igluzelt bis zum zweistöckigen Blockhaus mit Blumen vorm Fenster
       ist alles dabei. Von der ursprünglichen Bewohnerschaft, Hippies und
       Aussteiger, sind nur noch wenige übrig. Einen Gemeinschaftsraum aus den
       Anfangszeiten der Besetzung haben die jetzigen Bewohner abgetragen, um mit
       dem Holz eigene Hütten zu bauen. Auch der „Flieger“ genannte Musiker, der
       anfangs die Gemeinschaft zusammenhielt, ist weitergezogen, nachdem sein
       Tipi abgefackelt wurde.
       
       Hier macht jeder jetzt sein Ding: Ein paar bulgarische Wanderarbeiter aus
       der geräumten Eisfabrik in Mitte gehen arbeiten und grillen nach Feierabend
       vor den Hütten. Die rumänischen Familien leben wie auf dem Dorf, die
       polnischen Straßenkids organisieren sich Wodka und Drogen.
       
       Zwischen 100 und 200 Menschen leben auf dem Gelände, wie viele genau, weiß
       keiner: Die Fluktuation ist hoch, auch Obdachlose, Durchreisende und
       Flüchtlinge vom Oranienplatz kommen zeitweise hier unter.
       
       Ein Ort ohne Regeln, auf privatem Gelände? Der Eigentümer sieht keinen
       Anlass, einzuschreiten: Die derzeitige Situation sei „unglücklich“, räumt
       Artur Süsskinds Sprecher Daniel Mamrud ein. Ab und zu lasse man den Müll
       entsorgen, ansonsten warte man erst einmal die Baugenehmigung ab. Doch das
       kann dauern: Der ursprüngliche Bebauungsplan sah eine gewerbliche Nutzung
       vor. Für ein reines Wohnkonzept, wie es die Nieto GmbH nun plant, ist ein
       neues Verfahren nötig.
       
       Im Juni 2013 reichte die Nieto GmbH einen Antrag auf Einleitung eines
       vorhabenbezogenen Bebauungsplans ein, seitdem kommen die Verhandlungen mit
       dem Senat nur langsam voran. Auf Konfrontation scheint das Unternehmen seit
       der gescheiterten Anwohnerversammlung nicht mehr erpicht. Statt mit einer
       Räumung die Kreuzberger zu reizen, wartet der Investor jetzt wohl ganz in
       Ruhe ab, bis sich die Sympathien für die Brachenbewohner ganz verflüchtigt
       haben. So wie es derzeit aussieht, keine schlechte Strategie.
       
       ## Die Brache im Wandel
       
       Einen besonderen, langjährigen Blick hat Peter Berz auf das Gelände. Der
       Kulturwissenschaftler lebt seit 15 Jahren in der Cuvrystraße 1, in direkter
       Nachbarschaft zur Brache. Er hat aus seinem Fenster die Wandlungen und
       Häutungen des Geländes beobachtet. Er kennt noch den alten Bunker, der
       heute nur noch eine Kuhle ist, die Lagerhallen, in denen der Karneval der
       Kulturen seine Umzüge vorbereitete, den Club Yaam, der 1998 weichen musste.
       
       Anfang der nuller Jahre war Berz selbst Teil einer Bürgerinitiative,
       kämpfte beim Senat gegen ein geplantes Einkaufszentrum. Heute kann er nur
       noch selten das Fenster öffnen, der Feuer wegen, die Tag und Nacht auf der
       Brache lodern. Aber beschweren will sich Berz auch nicht richtig: „Wir
       Anwohner sind selber schuld“, sagt er. „Wir hätten das Gelände selbst
       gestalten können, etwa als Nachbarschaftsgarten. Jetzt ist es eben so
       gekommen.“
       
       Diamond, der gesuchte Hund findet sich tatsächlich in der Hütte der Polen.
       Casey steigt die Leiter in den ersten Stock hinauf und verhandelt, es geht
       um Joints. Unten sitzen drei junge Männer und schauen aus glasigen Augen.
       Woher kommen sie, was machen sie? Revolution, Evolution, Orgasmus, lallt
       der eine. Casey hat sich inzwischen in ein Wortgefecht mit einer jungen
       Frau verstrickt. Die nennt sie „Mama“, sie murmelt „Fotze“, eine
       Wodkaflasche kreist.
       
       In der Bibliothek, dem einzig verbliebenen Gemeinschaftsraum, sitzen ein
       Bärtiger und ein Kurzgeschorener vor einem Gaskocher. Der Wallebart, der
       nichts trägt außer schwarzen Shorts, stellt sich als Cuvry-Urgestein vor:
       Gestatten, Micha aus Nürnberg, genannt Jesus. Gleicher unter „Schnorrern,
       Flaschensammlern, Drogendealern“, so beschreibt er seine Mitbewohner. Beim
       Reden kratzt sich Micha unaufhörlich. Auch der Teenager, der frustriert vom
       Amt kommt, wo man ihm wegen „scheiß fünf Minuten Verspätung“ kein Geld
       ausgezahlt habe, hat offene Stellen an Gesicht und Körper.
       
       Die hygienischen Verhältnisse sind schlecht auf der Cuvry: es gibt weder
       fließendes Wasser noch Toiletten. Ihr Geschäft erledigen die Bewohner in
       zwei Gruben in Spreenähe, aus denen es bestialisch stinkt. Wer könne, sagt
       Micha, dusche im Schwimmbad. Er zeigt seine Schlafstätte: Eine Zeltplane
       über der Erde, daneben eine Handvoll Habseligkeiten und eine Gitarre, mit
       der er in Kneipen ein paar Euro verdient. Jeden Abend kriecht Micha in das
       Erdloch, das er seine „Stellung“ nennt. „Mehr brauch ich nicht“, sagt er.
       
       Wenn ein 28-Jähriger aus freien Stücken in einem Erdloch wohnen will: Warum
       nicht? Aber was ist mit den Fäkalien, den Müllhaufen, der Gewalt? Immerhin
       leben nicht wenige Kinder auf dem Gelände. Im Mai des vergangenen Jahres
       lag ein Toter vier Tage auf der Brache – bis Nachbarn die Polizei anriefen.
       Der alte Mann hatte vor seinem Zelt einen Herzinfarkt gehabt. Erst vor
       Kurzem wurde ein Mann festgenommen, der Bewohner und Nachbarn mit
       Eisenstangen blutig geschlagen hatte. Kann man Kindern zumuten, so zu
       leben? „Die kennen es doch nicht anders“ – auch wenn es niemand so deutlich
       ausspricht wie Micha, der Jesus von der Cuvrybrache: nicht wenige scheinen
       so zu denken. Oder wie sonst ist es zu deuten, dass sich weder die Anwohner
       noch die Behörden über die Zustände auf diesem Fleckchen Innenstadt
       empören?
       
       ## Frage der Zuständigkeit
       
       Der Eigentümer lässt ausrichten, von Polizeieinsätzen oder Toten habe man
       bisher nie gehört. Beim Stadtentwicklungssenat gibt man sich betroffen –
       leider sei man aber nur fürs Bauliche zuständig. Auf dem Gelände habe der
       Eigentümer das Sagen. „Der Investor hat die Verantwortung für das
       Grundstück, unabhängig vom derzeitigen Stand des Baurechts“, betont
       Sprecherin Daniela Augenstein. Bei Gefahr für die öffentliche Sicherheit
       und Ordnung müsse die Polizei eingreifen. Oder das Bezirksamt.
       
       Beim Bezirk wiederum verweist man auf die Zuständigkeit des Senats. Anfang
       der nuller Jahre habe der Senat die Zuständigkeit wegen besonderer
       städtebaulicher Bedeutung an sich genommen, weil der Bezirk sämtliche
       Investorenpläne blockierte. „Jetzt ist eben ausschließlich der Senat für
       das Gelände zuständig“, sagt der grüne Kreuzberger Stadtrat Hans Panhoff.
       
       Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann sagte der taz: „Das Jugendamt
       Friedrichshain-Kreuzberg hat die Lage der Menschen in der Cuvrybrache im
       Blick.“ Da der Bezirk aber nicht in der Lage sei, den Familien Wohnungen
       anzubieten, hieße die Alternative: die Kinder in staatliche Betreuung
       geben. Aber Familien auseinanderzureißen sei dem Kindeswohl bestimmt nicht
       zuträglich, so Herrmann: „Nach den Erfahrungen des Jugendamts nicht nur im
       Bezirk, sondern auch anderer Kommunen gestaltet sich eine Inobhutnahme von
       Kindern aus Roma-Familien als sehr schwierig. Insbesondere würde sich
       dadurch die Lebenssituation der Betroffenen rapide verschlechtern.“
       
       Auf der Brache hat es derweil angefangen zu regnen. Ein paar Jugendliche
       flüchten sich in einen Bretterverschlag in der Senke. Ein Junge mit
       Rastalocken zieht seine Freundin hinter sich her: „Komm, ich zeig dir meine
       WG!“, ruft er begeistert. Erst einmal aber müssen sie vorbei an einem
       stinkendem Loch, an dem „Gästeklo“ steht. Die Freundin schaut skeptisch.
       
       6 Jun 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Nina Apin
       
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