# taz.de -- Normalität als Plastik: Meister des mittleren Maßes
       
       > Gerhart Schreiter war der eigentliche Begründer der Bremer
       > Bildhauerschule, die sich durch ein Beharren auf dem Gegenstand
       > auszeichnet. Sein Werk prägt ein fast absurder Drang, in der
       > Ewigkeitsgattung Plastik den Alltag festzuhalten.
       
 (IMG) Bild: Von Gerhart Schreiter für die Bildhauerei entdeckt: Fahrradfahrer aus dem Jahr 1960.
       
       BREMEN taz | Ein bisschen peinlich ist es dann doch. Denn mitten in der
       Führung durch die Ausstellung „Gestalter des Alltags“ im Bremer
       Gerhard-Marcks-Haus, und ausgerechnet im Raum mit den Fahrradfahrern – und
       die hat Gerhart Schreiter doch nun wirklich als Sujet für die Bildhauerei
       erst entdeckt! – sprich: Vor den wohl besten Arbeiten des Künstlers stellt
       Kuratorin Veronika Wiegartz eine radikale Frage: Was Gerhart Schreiter uns
       denn heute noch zu sagen habe, „mal abgesehen davon, dass er eine
       kunsthistorisch bedeutende Position einnimmt“.
       
       Die funktioniert nicht als rhetorische Frage – ja mehr noch: Obwohl sie
       seit 2009 das wissenschaftliche Werkverzeichnis des 1909 im Erzgebirge
       geborenen, 1974 in Bremen gestorbenen Bildhauers erstellt hat, hat nicht
       mal Wiegartz eine echte Antwort darauf, sondern nur den subjektivistischen
       Platzhalter, „weil es Spaß macht, sich mit seinen Arbeiten
       auseinanderzusetzen“.
       
       Autsch. So schlimm? Denn macht Spaß – das benennt höchstens die Schwelle
       des Verdämmerns und Vergessens. Und Schreiter nebst seinen Kleinplastiken
       befindet sich längst jenseits davon: Kein Vergnügen währt halt ewig.
       
       Und woher könnte der Anstoß kommen, Freude an diesen Plastiken zu haben?
       Was soll Lust darauf machen, sie neu zu entdecken? Das Werk selbst
       vermeidet ja geradezu hysterisch alles, was anstößig auch nur sein könnte.
       Noch die konventionellste Frauenakt-Figurine hat Schreiter sittsam mit
       Tüchern bedeckt. Nackte Männer gibt es nicht.
       
       Für die Kunstgeschichte Bremens ist Schreiters Bedeutung groß: Er ist 1956
       der zweite nach dem Krieg an die örtliche Kunstschule berufene
       Bildhauer-Prof, sein Vorgänger, der Vollnazi Herbert Kubica, wird aus
       ungeklärten Gründen 1954 entlassen; fast 20 Jahre lehrt er und wird so zum
       eigentlichen Gründer der Bremer Bildhauerschule mit ihrem ungewöhnlichen
       Beharren auf der Gegenständlichkeit. Das alles reicht locker, um zu
       rechtfertigen, dass Bremens Bildhauermuseum 2009 den Nachlass erwarb. Dass
       man ihn nun, nach wissenschaftlicher Erschließung, auch mal öffentlich
       zeigen will – logisch.
       
       Um sich dafür zu interessieren, ist es aber sinnvoll, auf die Zeit zu
       schauen, aus der sich die wichtigste Tendenz seines Werks speist: ein heute
       fast absurd wirkender Drang, gerade das Alltägliche als das Kostbarste zu
       verewigen, was es in seiner Zeit geben kann, es in der Ewigkeitsgattung
       Plastik festzuhalten, und dabei alles Überragende tunlichst zu vermeiden.
       Gelegentlich, so Wiegartz, „hat Schreiter auch große Plastiken gemacht“.
       Bloß „haben die ihm dann hinterher nicht gefallen“ – und er hat sie
       zerstört, immer wieder.
       
       Wieder – das Wort ist die Signatur der 1950er-Jahre: Wiederaufbau,
       Wiedergutmachung, Wiederbewaffnung und Wieder-Wer-Sein. Dabei sind Erfolge
       zu verzeichnen, die aber nicht die Regel werden: bloß keine Sonderrolle.
       Hat es nie gegeben. Das große Ziel der 1950er-Jahre ist die Normalisierung
       – die Wiederherstellung der Norm, die es freilich so nie gegeben hatte.
       
       Bestes Beispiel dafür ist zweifellos die Programmatik der CDU. So tritt die
       Kanzler-Partei Anfang der 1950er noch für Vergesellschaftung des Kapitals
       ein und für gleiche Lohn- und Arbeitsbedingungen von Frauen und Männern. Im
       Laufe des Jahrzehnts aber wird sie das ehernste Familienbild aller Zeiten
       entworfen haben. Und Schreiter gießt Kleinfamilien-Kleinbronzen. Die
       evangelische Kirche, bei Kriegsende in die zwei Lager der
       Widerstandskämpfer und der servilsten Bestätiger des Hitlerismus gespalten,
       wird wieder Verkünderin des Guten und des Wahren – Schreiter gestaltet ihr
       schöne Leuchter und tolle Portale. Die Banken, fett und reich geworden
       durch Enteignungen, brauchen dringend wieder neue Fassaden – Schreiter
       weiß, wie’s geht.
       
       Es hat etwas fast Zwanghaftes, wie er diese Dynamik in Form bringt. Dass
       Schreiter seine Hände nie still habe halten können, wird über ihn gesagt.
       Auch im geselligen Zusammensein, immer irgendwo am Rumfummeln, „wenn da
       eine Kerze stand, war es um die Kerze geschehen“, berichtet Wiegartz, und
       mindestens die setzkastenkompatiblen Nano-Plastiken sollen aus diesem Tic
       gewonnen sein, sculptures automatiques. Insofern haben diese Plastiken
       mindestens dokumentarisch großen Wert: Wer sich die Frage stellt, wie ab
       den 1950er-Jahren bundesrepublikanische Normalität entworfen und
       verwirklicht wird, muss sich mit Schreiter beschäftigen.
       
       Aber die Figuren gehen darüber hinaus, sie erweitern sie, machen sie
       elastisch – und das macht sie tatsächlich zu spannender Kunst. Denn nicht
       nur als zulassender Lehrer, der seine Schüler zu Versuchen mit allen
       möglichen neuartigen Materialien motiviert, sondern auch als Künstler
       verweigert sich Schreiter dem kategorischen Imperativ der Adenauer-Ära,
       Experimente bitte zu unterlassen. Er respektiert zwar den engen und
       vielfach beengenden Rahmen seiner Zeit, nichts von Sprengkraft ist zu
       sehen.
       
       Aber Schreiter erkundet gestaltend, was in jener beschränkten Welt möglich
       und zulässig erscheint, erprobt tastend – wäre nicht Adenauer selbst auf
       den Rand des ihm verbotenen roten Teppichs der Siegermächte getreten? – die
       Verhältnisse von Körper zu Körper, von Körper zu Raum. 1960 lässt er ein
       Peloton massiger, ineinander verschmelzender Rücken auf einem drahtzarten
       Gewirr bronzener Reifen dynamisch-dramatisch schweben. Die Individualität
       und Autonomie aller Figuren behauptet er auch in den aus heutiger Sicht
       leicht spießig anmutenden Familiengruppen, die so in Konstellation
       zueinander treten, in eine spannungsreiche Beziehung zwischen Abhängigkeit
       und Verselbstständigung, Attraktion und Widerwillen: So entsteht
       Gesellschaft.
       
       Und das ist bemerkenswert. Denn oft genug sind, auch schon in der Plastik
       der klassischen Moderne, bei Ernst Barlach oder Käthe Kollwitz,
       Kinderfiguren in derartigen Kleingruppen bloße Ausklumpungen eines
       Mutterkörpers, ihr immer streng hierarchisch untergeordnet. Eine Tendenz,
       die bald darauf erst ihre volle Bedeutung entfaltet: Sagt nicht der
       Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich, dass dem Führerkult eher die Imago
       einer primitiven Muttergottheit entspricht?
       
       Gerhart Schreiters Lösung aus dieser Tradition formuliert sich am
       charmantesten vielleicht in einer Vater und Sohn-Plastik von 1972: Der
       Mann, mit Mütze, Pfeife, Regenmantel von derselben Silhouette wie Monsieur
       Hulot, trägt den Sohn auf den Schultern. Beider Arme bilden, ineinander
       verschränkt, eine Brücke, doch es wirkt fast, als ob jenes schwerelose Kind
       den Erwachsenen emporzieht, weg von der schweren Erde – in den Himmel
       seiner toten Ideale.
       
       ## „Gerhart Schreiter – Gestalter des Alltags“: bis 7. 9., Bremen, Gerhard
       Marcks Haus
       
       19 Jun 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Benno Schirrmeister
       
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