# taz.de -- Nachrichten von 1914 – 1. Juli: Sarajewo nach der Bluttat
       
       > Nach dem Attentat herrscht in Sarajewo gespannte Ruhe. Dagegen kam es in
       > der Provinz zu anti-serbischen Kundgebungen.
       
 (IMG) Bild: Das Auto, in dem das Thronfolgerpaar erschossen wurde, steht heute in einem Wiener Museum.
       
       Sarajewo, 30. Juni
       
       Sarajewo bietet heute das Bild einer völlig ruhigen Stadt, obwohl heute
       früh hier zahlreiche Touristen, namentlich Ungar, ankamen, um die Stadt
       anzusehen. Alles photographierte die Stellen des Attentats und die
       demolierten serbischen Läden und Häuser.
       
       Im Laufe des Vormittags begann man die Trümmer und Reste der demolierten
       Häuser wegzuräumen und Mittags war von den Verwüstungen außer
       eingeschlagenen Fenstern und weggetragenen Auslagekasten keine Spur mehr zu
       sehen. Das Standrecht übt seine Wirkung; es kam zu keinem weiteren
       Zwischenfall. Hier und da durchzieht eine Militärpatrouille die ziemlich
       belebten Straßen. Die kroatischen und muslimischen Zeitungen erscheinen nur
       in kleinen Sonderausgaben, von den serbischen ist nur eine einzige
       erschienen.
       
       Die Stadt durchlaufen die abenteuerlichsten Gerüchte, denen jedoch sofort
       Dementis folgen. Als gestern das Palais des Metropolitan demoliert wurde,
       wurde der Metropolit an der Hand verletzt. Der Kaufmann Mitejecwitsch, der
       bekanntlich wegen Abgabe eines Schusses verhaftet wurde, ist freigelassen
       worden, weil erwiesen ist, dass er nur einen Schreckschuss in die Luft
       abgab. Im Laufe der letzten zwei Tage sind mehr als fünfzig Personen
       verletzt worden.
       
       Einige Schwerverletzte erhielten Hilfe bei der Polizei und dem
       Stadtphysikat. Die geschädigten Serben erschienen gestern und heute bei der
       Handelskammer und der Landesregierung und baten um Hilfe. Während in
       Sarajewo Ruhe herrscht, kam es in der Provinz zu Unruhen und Kundgebungen.
       Im Mostar wurden auch heute patriotische, antiserbische Demonstrationen
       veranstaltet, bei denen bei einigen serbischen Häusern die Fenster
       eingeschlagen wurden. Ein katholischer Bürger namens Boskowitsch kam zu dem
       serbischen Kaufmann Glozowitsch, um einzukaufen. Bei dieser Gelegenheit
       machte der serbische Kaufmann beleidigende Äußerungen über den Kaiser,
       worauf der Katholik ein Messer zog und dem Serben in die Brust stach.
       
       In Capljina kursieren Gerüchte, dass angeblich bewaffnete Serben gegen die
       Stadt ziehen. Von Mostar ist darauf hin Militär nach Capljina abgegangen.
       Eine amtliche Bestätigung hat die Nachricht noch nicht gefunden. Im Ganzen
       sind in Sarajewo bis jetzt beinahe hundert Verhaftetet nach kurzem Verhör
       wieder entlassen worden. Über die Unterstützung des Attentats wird
       allseitig strengstes Stillschweigen beobachtet. Man sucht fortwährend nach
       den Complicen der Täter. Erwiesen ist bisher nur, dass die Verschwörung von
       Serbien aus unterstützt wurde.
       
       Wien, 30. Juni
       
       Die letzte Nacht ist in Sarajewo vollkommen ruhig verlaufen. Es wurden bloß
       sechs Personen wegen geringfügiger Vergehen, zumeist wegen
       Widersetzlichkeit gegen erteilte Befehle verhaftet und nach Feststellung
       ihrer Identität freigelassen. Die Verfassung wird auf keinen Fall
       aufgehoben werden, doch wird das Standrecht ziemlich lange in Kraft
       bleiben. Der Landtag wird geschlossen, damit die Immunität der Abgeordneten
       erlischt und die Untersuchung auf serbische Abgeordnete ausgedehnt werden
       könne.
       
       Unter den verhafteten Serben befindet sich ein junger Mann, der ein
       Arbeitsbuch aus Belgrad besitzt und sich über seinen fünftägigen Aufenthalt
       in Sarajewo nicht ausweisen konnte. Es ist bezeichnend, dass Serben jetzt
       weder auf den Straßen noch in den öffentlichen Lokalen zu sehen sind. Immer
       stärker werden die Beweise, dass die Fäden des Komplotts nach Belgrad
       laufen. Im Laufe des gestrigen Tages trafen hier zahlreiche serbische Beis
       aus der Umgebung ein; sie befürchten, dass ihre Landhäuser von den Kmelen
       angegriffen werden könnten. Allgemein spricht man hier davon, dass
       Waffenpensionierungen in öffentlichen Ämtern Sarajewos bevorstehen sollen,
       die bis zu höchsten Stellen reichen.
       
       Es wird insbesondere darauf hingewiesen, dass Erzherzog Franz Ferdinand bei
       seiner Rückkehr vom Rathaus trotz des ersten Attentats nicht durch einen
       Militärkordon geschützt wurde. Es heißt, dass die aus Anlass des Besuches
       in Sarajewo weilenden fremden Detektivs jede Verantwortung ablehnten, wenn
       kein Kordon aufgestellt würde. Übrigens waren die Detektivs durch gelbe
       Konkarden gekennzeichnet, so dass man sie sofort bemerken musste. So konnte
       es geschehen, dass der Mörder Princip vor seiner Tat sich an einen Detektiv
       mit der Frage wenden konnte, in welchem Wagen der Erzherzog sitze. Der
       Rechtspraktikant Cermak, der Augenzeuge des Revolverattentats war,
       erklärte, er habe deutlich gesehen, dass rechts und links von den Auto des
       Erzherzogs je ein junger Mann hervorgetreten sei, und dass beide geschossen
       hätten. Einer sei entkommen. Die gleiche Wahrnehmung machte auch ein Sohn
       des Sektionschefs Hörmann.
       
       Prag, 30. Juni
       
       Wie aus Beneschau verlautet, trafen or der Abreise des Thronfolgers nach
       Bosnien auf Schloss Konopitsch zahlreiche anonyme Zuschriften ein, in denen
       der Erzherzog vor der geplanten Reise nach Bosnien gewarnt wurde.
       
       Quelle: Berliner Tagblatt
       
       1 Jul 2014
       
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