# taz.de -- Illegale Bernsteinsuche in Kaliningrad: Mit einem Bein im Knast
       
       > Die Suche nach Bernstein ist für Roman Risov riskant, aber einträglich.
       > Für hundert Gramm gibt es auf dem russischen Schwarzmarkt hundert Euro.
       
 (IMG) Bild: Hobbysammler und Touristen suchen vom Meer angespülten Bernstein, die Profis graben in der Erde.
       
       KALININGRAD taz | Mit Daumen und Zeigefinger hält Roman Risov einen etwa
       fünf Zentimeter großen Stein gegen die Sonne. Er muss blinzeln. Das grelle
       Licht bricht sich darin in einem Farbspiel irgendwo zwischen Karamell,
       Honig und Whiskey. „Hier ist eine kleine Fliege eingeschlossen“, ruft der
       31-Jährige seinem Freund zu. Wladimir Simonov steht zwei Meter tiefer in
       einem Erdloch, wo er mit einer großen Schaufel in der schlammigen Erde
       gräbt.
       
       Kurz setzt er ab und wirft über den Rand der Grube einen Blick auf das
       Fundstück. Bernstein – die beiden Freunde suchen jeden Tag danach. Dafür
       nehmen sie große Risiken in Kauf, denn was sie tun, ist illegal. In
       Russland hat der Staat das Monopol auf Bernstein.
       
       Die russische Exklave Kaliningrad bildet den Ostseezugang Russlands – über
       1.200 Kilometer von Moskau entfernt. Bis 1945 gehörte die Region Königsberg
       zu Ostpreußen. Gut neunzig Prozent der weltweiten Bernsteinvorkommen sind
       hier an der Küste des Samlands, das zwischen Litauen, Polen und den
       Nehrungen in die Ostsee ragt, zu finden. Der Bernstein ruht in einer
       bestimmten Sedimentschicht, der Blauen Erde, drei bis sechzig Meter tief
       unter der Erdoberfläche.
       
       Während Touristen und Hobbysammler den Ostseestrand nach Bernsteinnuggets
       absuchen, die das Meer anspült, fahren Roman Risov und Wladimir Simonov Tag
       für Tag mit dem Auto zu ihrem Grabungsfeld. Wie mindestens fünfzig andere
       Männer auch an diesem sonnigen Vormittag. Ein weitläufiges Terrain,
       eingefasst von Dünen, einer Landstraße und dichtem Kiefernwald. Inzwischen
       gleicht der Acker einer Mondlandschaft, nur viel grüner. Ein Krater reiht
       sich an den anderen.
       
       ## Wertvolle Fossilien
       
       Braun gebrannt, wettergegerbte Haut, die blonde Kurzhaarfrisur mit Gel in
       Form gebracht, gibt sich Roman Risov cool. Noch vor fünf Jahren schuftete
       er in einer Konservenfabrik für umgerechnet knapp fünfhundert Euro im
       Monat. Jetzt kommt er auf das Vierfache, kann sich einen Geländewagen
       leisten und etwas zur Seite legen für den Winter, wenn der Boden gefroren
       und das Graben unmöglich ist. Seine Eltern halten ihn für leichtsinnig.
       Denn Polizei und FSB, der russische Inlandsgeheimdienst, gehen mit aller
       Macht gegen die Bernsteinjäger vor.
       
       Ihre Beute verkaufen Roman Risov und Wladimir Simonov auf dem Schwarzmarkt.
       Dort bestimmt die Mafia die Preise. Im Schnitt erhalten sie für hundert
       Gramm Bernstein hundert Euro. Dafür müssen sie aber manchmal einen Monat
       lang buddeln. Und: Eingeschlossene Insekten sind zwar bei Touristen
       beliebt, aber wirklich wertvoll wird Bernstein erst, wenn kleine Echsen
       oder Käfer darin eingeschlossen sind. Sie verdrei- oder vervierfachen den
       Wert.
       
       Die Bernsteinjäger haben ein simples Warnsystem: Immer schiebt einer Wache
       an der Landstraße, beobachtet, wer sich dem Feld nähert, und gibt im
       Zweifelsfall Alarm. Nur wer schnell ist, kann dann rechtzeitig wegrennen
       und hoffen, auf der Flucht nicht von Polizisten gestellt zu werden.
       
       ## Leitern und Stromaggregate
       
       Doch heute ist alles ruhig. Rhythmisch sticht Roman Risov mit der Schaufel
       in die Erde und durchforstet Zentimeter um Zentimeter das Sediment. Auf dem
       Feld, auf dem sich Krater an Krater reiht, stehen Grüppchen von Männern
       zusammen. Hier und da laufen Stromaggregate, mit denen die frisch
       gegrabenen Löcher trockengepumpt werden. Die Kaliningrader Bernsteingräber
       helfen sich gegenseitig, Leitern zu stellen und sicher abzusteigen. Romans
       hölzerner Leiter fehlen die unteren beiden Sprossen, weil das vom Schlamm
       morsche Holz das Gewicht der Männer nicht mehr trug.
       
       Die bis zu vier Meter tiefen Löcher können auch einstürzen. Es heißt, zwei
       Menschen würden auf diese Weise jedes Jahr verschüttet. „Dann sind sie
       einfach zu gierig gewesen“, erklärt Roman Risov. „Das passiert nur, wenn
       man den Grund des Lochs zu weit aushöhlt, sodass die Wände keinen Halt mehr
       haben.“ Er, versichert er lächelnd, sei selbstverständlich vorsichtiger.
       
       Der junge Russe wäscht sich notdürftig den Matsch von den schwarzen, bis zu
       den Knien reichenden Gummistiefeln in einer klaren Wasserlache. Die
       Ausbeute des heutigen Tages ist nicht schlecht. Vier große Nuggets und eine
       Handvoll mittelgroßer bis kleiner Steine haben sie aus der Erde geholt. Er
       steckt die Brocken in die Hosentaschen und lässt sich von seinem Freund
       Wladimir eine halbe Stunde später zu Hause absetzen.
       
       ## Versteinerte Tränen
       
       Viele Mythen ranken sich um das Gold der Ostsee. Die alten Römer glaubten,
       Bernsteinnuggets seien die versteinerten Tränen der Götter. Der litauischen
       Legende nach wohnte die Meeresgöttin Jurate in einem prächtigen
       Unterwasserschloss, das komplett aus Bernstein bestand. Tatsächlich beginnt
       die Entstehung des Bernsteins vor über 35 Millionen Jahren. Im Eozän
       standen da, wo heute die Ostsee ist, Kiefernwälder. Das ausgetretene
       Baumharz hat sich abgelagert, ist unter hohem Druck versteinert und so zu
       Bernstein geworden. In der Blauen Erde ist die Konzentration von Bernstein
       am höchsten. Hier kommen im Durchschnitt auf einen Kubikmeter Erde an die
       drei Kilogramm Bernstein. Die Chancen für Bernsteingräber stehen also gar
       nicht so schlecht.
       
       Mit seiner Frau Katalina und der gemeinsamen Tochter lebt Roman Risov in
       einem Plattenbau in Jantarny an der Westküste der Oblast Kaliningrad. Gut
       eine Autostunde ist die gleichnamige Hauptstadt mit den goldenen
       Zwiebeltürmchen und ihren Einkaufszentren entfernt. Jantarny dagegen wirkt
       grau und verloren – auch wenn Jantar auf Russisch Bernstein heißt.
       
       Zu dritt lebt die Familie Risov hier auf 24 Quadratmetern. Das
       Abwassersystem im Haus ist marode, im ganzen Gebäude hängt meist ein
       miefiger Geruch. Katalina Risov ist wenig begeistert von Romans Job. Die
       Sorge, dass er erwischt wird, ist jedes Mal da, wenn er das Haus verlässt.
       Aber sie versucht, es nicht zu sehr an sich heran zu lassen. Irgendwo muss
       das Geld für den Haushalt ja herkommen, und ab und an ins Kino nach
       Kaliningrad-Stadt will sie auch. „Jeder macht das hier. Das war halt schon
       immer so“, sagt sie etwas schmallippig. Als sie sich in ihn vor vier Jahren
       verliebte, war Roman Risov auch schon Bernsteinjäger.
       
       ## Gigantischer Schmuggel
       
       Im Dezember 2013 hat die russische Polizei in dem Küstenort mit seinen
       5.500 Einwohnern illegal geförderten Rohbernstein in 22 großen Säcken
       gefunden. Der Gesamtwert betrug über zwanzig Millionen Euro. Roman kennt
       den Schmuggler, der jetzt in Haft sitzt, vom Sehen. Und er weiß, dass ihn
       selbst ein ähnliches Schicksal ereilen könnte. Außerdem gilt die russische
       Polizei nicht als zimperlich. „Ich habe schon von Männern gehört, die
       verprügelt wurden oder denen die Nase gebrochen wurde“, berichtet Risov.
       Hohe Geldstrafen und Gefängnisaufenthalt drohen den Verurteilten.
       
       Legal gefördert wird Bernstein ausschließlich im staatlichen Kombinat in
       Kaliningrad, dem einzigen Bernsteintagebau weltweit. Die riesige Anlage ist
       seit 1947 in Betrieb und hat zu Sowjetzeiten die gesamte Region ernährt.
       Auf einer Fläche von etwa acht Fußballfeldern wird die Erde maschinell
       durchsiebt. Von der ursprünglichen Landschaft ist nichts mehr übrig. Dafür
       sind Bagger, Kräne und Laufbänder zugange, den wertvollen Bernstein aus dem
       Boden zu waschen. Theoretisch könnte Roman Risov auch hier arbeiten, aber
       für das magere Gehalt, sagt er, lohne sich ja das Aufstehen kaum.
       
       Der Jahresumsatz des offiziell geförderten russischen Bernsteins beträgt
       über zwanzig Millionen Euro, aber das große Geschäft machen die
       Nachbarländer, die billigen, aus Kaliningrad geschmuggelten Rohbernstein
       weiterverarbeiten und veredeln. Laut der Zeitung Nowije Kolesa werden über
       500 Tonnen Rohbernstein pro Jahr illegal aus dem Land geschafft. Im Jahr
       2011 verzeichnete Russland beispielsweise einen Bernsteinumsatz in Höhe von
       knapp 15 Millionen Euro. Polen kam dagegen auf 450 Millionen Euro – also
       das Dreißigfache –, und das, obwohl es dort nicht ansatzweise so viel
       Bernstein gibt wie in Kaliningrad. Nach Schätzungen von Geologen belaufen
       sich die Bernsteinvorräte an der Küste des Samlands auf 300.000 Tonnen.
       
       ## Die halbe Miete
       
       Mit der Tochter an der Hand holt Roman Risov eine kleine, elektrische
       Briefwaage aus der Küchenschublade. Der größte der an diesem Tag gefundenen
       Bernsteinnuggets kommt auf 58 Gramm. Das satte Dunkelrot leuchtet auf dem
       abgegriffenen Weiß der alten Waage. Insgesamt wiegt der Bernsteinfund
       zweihundert Gramm. Damit ist die Miete für diesen Monat immerhin schon mal
       halb bezahlt. So ertragreich wie der heutige Tag sind andere Tage bei
       Weitem nicht. Oft buddeln Roman Risov und seine Kumpels tagelang ohne
       Treffer.
       
       Die Bernsteinnuggets sammelt Familie Risov in einer Plastiktüte unter der
       Spüle. Erst wenn die voll ist, macht sich Roman mit Wladimir auf den Weg,
       sie zu verkaufen. An bekannten Szenetreffpunkten irgendwo zwischen den
       Ostseedünen warten immer Zwischenhändler auf frischen Rohbernstein. Der
       Schwarzmarkt gedeiht – nicht zuletzt, weil die Grenzen zwischen Polizei und
       Mafia in Kaliningrad mehr als schwammig sind.
       
       Roman Risov hofft, irgendwann einen Bernsteinnugget mit einem komplett
       erhaltenen Echsenfossil zu finden. Den würde er dann am liebsten selbst
       behalten. Aber er weiß auch, dass er sich das nie wird leisten können.
       
       27 Jul 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Marlene Giese
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Kaliningrad
 (DIR) Russland
 (DIR) Mafia
 (DIR) Russland
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Ex-Yukos-Eigentümer siegen in Den Haag: 50 Milliarden Dollar von Russland
       
       Erst die EU-Sanktionen, jetzt auch noch das: Russland muss dafür zahlen,
       dass es die Besitzer des Ölkonzerns zwangsenteignet hat. Der Kreml will das
       Urteil anfechten.
       
 (DIR) Fotoausstellung über Kaliningrad: Auf der Suche nach Hammer und Sichel
       
       Fotografien von Arndt Beck: "Kaliningrad ohne Heimweh" ist die Replik auf
       die deutsche Sehnsucht nach Königsberg.
       
 (DIR) Kaliningrader gegen Putin: Die Exklave muckt auf
       
       In der russischen Exklave Kaliningrad demonstrieren tausende Menschen gegen
       Steuern, Gouverneur und Wladimir Putin. Der Auflauf alarmiert den Kreml.