# taz.de -- Kaliningrader gegen Putin: Die Exklave muckt auf
       
       > In der russischen Exklave Kaliningrad demonstrieren tausende Menschen
       > gegen Steuern, Gouverneur und Wladimir Putin. Der Auflauf alarmiert den
       > Kreml.
       
 (IMG) Bild: Dieses Bild von einem Moskauer Protestmarsch gegen Putin könnte auch aus Kaliningrad stammen.
       
       KALININGRAD taz | "Die Menschen waren stolz und glücklich, weil sie auf
       einmal wieder ihre eigene Stärke spürten", sagt Konstantin Doroschok. Wer
       das erlebt habe, sei bereit, sich auch weiter zu engagieren. Ende Januar
       rief der 40-jährige Familienvater und Aktivist der Gruppe Sprawedliwost
       (Gerechtigkeit) in der russischen Ostsee-Exklave Kaliningrad zu einer
       Protestkundgebung auf. "Sie strömten in Scharen", Doroschok kann es immer
       noch nicht recht glauben. Stundenlang harrten mehr als 12.000 Menschen auf
       dem Zentralplatz vor dem Haus der Räte aus, wo einst die Ruinen des
       Königsberger Stadtschlosses standen.
       
       Auf dessen Trümmern errichtete die KPdSU vor 40 Jahren einen
       zwanzigstöckigen Kasten. Hoch wollte man damals hinaus, vergaß darüber aber
       den schwankenden Boden. Das Haus der Zukunft wurde nie bezogen. Nächtens
       bespielen werbende Laserstrahlen die Fassade. Es ist ein traurig öder Ort,
       an dem die größte Demonstration Russlands in der Ära Putin stattfand.
       
       Zunächst ging es um soziale Belange. Die Demonstranten forderten den
       Gouverneur Georgi Boos auf, eine Erhöhung der Kfz-und Grundsteuern
       zurückzunehmen und Kürzungen im Gesundheitswesen rückgängig zu machen.
       Besonders die Kfz-Steuer brachte die Kaliningrader in Rage. Sie sollten
       nämlich erheblich mehr zahlen als im russischen Kernland. 6.000 Autofahrer
       und Biker taten ihren Unmut schon im vergangenen Dezember kund. Vergeblich.
       
       Aus den sozialen Anliegen wurden im Nu politische Forderungen. Die Menge
       verabschiedete eine Resolution, in der sie die Entlassung des Gouverneurs
       und die Wiedereinführung der Gouverneurswahlen verlangte. Der damalige
       Präsident Putin hatte sie vor Jahren abgeschafft. Gewählte Gouverneure
       galten dem Kreml als unsichere Kantonisten - ungeeignet für die rigide
       Hierarchie der Macht. Fortan wurden die Statthalter in den Provinzen
       ernannt.
       
       Der Gipfel der Aufmüpfigkeit indes war die Forderung nach dem Rücktritt des
       Regierungschefs in Moskau, Wladimir Putin. 12.000 Demonstranten - von
       400.000 Einwohnern - rüttelten an den Grundfesten des Systems Putin. Dass
       die Biker auf Transparenten den begeisterten Motorradfreak Georgi Boos mit
       sofortiger Wirkung aus ihren Reihen ausschlossen, war da nur noch eine
       amüsante Fußnote. "Georgi, wir schämen uns deiner", war da zu lesen.
       
       Der extravagante Boos war ohnehin nicht in der Stadt. Sein Privatjet
       landete gerade, als die Veranstaltung den Höhepunkt erreichte, auf der
       portugiesischen Insel Madeira, wo er einen zweiwöchigen Urlaub antrat.
       
       Die Nachricht von der Protestwelle an der Ostsee kam in Moskau wie ein
       Tsunami an. Die Kommandozentrale schien zunächst gelähmt und reagierte
       kopflos. Eilig wurden Schuldige gesucht, und das Vereinigte Russland (VR),
       die Regierungspartei, kündigte sogleich eine machtvolle Gegendemonstration
       an. Verschreckte Parteigenossen vor Ort wuschen sich flugs die Hände in
       Unschuld. Hinter dem Missmut der Bürger sahen sie dunkle Kräfte am Werk,
       die dem "Imperialismus und weltweiten Zionismus" nahestanden. Damit gab
       sich Moskau, das zuweilen auch zur Einfalt neigt, nicht zufrieden. Eine
       hochkarätige Delegation aus Staatsanwälten, Parteifunktionären und Putins
       Sonderbeauftragten für den Nordwesten eilte in die rebellische Exklave. In
       Moskau rollte der erste Kopf. Dem für Kaliningrad zuständigen
       Referatsleiter in der Präsidialadministration wurde fristlos gekündigt.
       
       Alarmsirenen schrillten. Denn an der Veranstaltung nahmen nicht nur die
       "unversöhnliche" außerparlamentarische Opposition und die ewig nörgelnden
       Bürgerrechtler teil, die systemkonformen Kommunisten und Nationalisten
       waren erstmals auch in einem breiten Bündnis mit von der Partie. "Vor allem
       aber", erinnert sich der nachdenkliche Organisator Doroschok, "die meisten
       Bürger waren solche, die mit Politik eigentlich nichts am Hut hatten." Jene
       stumme Mehrheit, die lange bereit war, Putin und sein System gewähren zu
       lassen.
       
       Nach der Inspektion vor Ort wurde die Idee von der Gegendemonstration
       lautlos ad acta gelegt. Dass die Solidaritätskundgebung für die VR nicht
       ganz freiwillig gewesen wäre, hätte sich schnell herumgesprochen, meint der
       Vorsitzende der Patrioten Russlands an der Pregel, Michail Tschessalin.
       "Ein Rohrkrepierer sozusagen." Tschessalin sitzt im Gebietsparlament und
       gründete vor zwölf Jahren eine unabhängige Hafenarbeitergewerkschaft. "Ich
       war auch mal Docker", kokettiert der Bürokratenschreck, der seine beiden
       Hochschulabschlüsse zunächst verheimlicht. Er ist bekannt wie ein bunter
       Hund. Seit 60 Wochen ziehen die Patrioten jeden Freitag vor das
       Regierungsgebäude und protestieren gegen die Schließung eines Krankenhauses
       der Fischereiinnung. "Wir sind so was wie die Schule des zivilen
       Widerstands in der Stadt." Als Beleg mag gelten, dass der Kreml ihn nach
       Moskau zitierte, "um sich ein Bild von dem zu machen, was hier passiert".
       Sie seien die eigentlichen Organisatoren der Demonstration, will er ihnen
       gesagt haben.
       
       "Die Frustration über den Gouverneur und Moskaus Desinteresse hat sich über
       Jahre angestaut", sagt Wladimir Kafidow, kommunistischer Abgeordnete im
       Regionalparlament. "Wir verwahrlosen in Kaliningrad zusehends, als
       Wirtschaft wie als Gesellschaft." Und sein Kollege von den Patrioten
       Russlands, Wladimir Sultanow, ergänzt: "Die Regierungspartei kontrolliert
       alles. Loyalität und Unterwerfung werden verlangt. Wer sich weigert,
       bekommt keinen Fuß auf den Boden und als Unternehmer keine Aufträge." Wer
       Widerstand leiste, dem würden die staatlichen Ordnungsorgane das Leben
       schwermachen. Darum beteiligten sich so viele Bürger aus der Mittelschicht
       an den Protesten. "Im Fernsehen zeigen sie blühende Landschaften, trittst
       du vor die Tür, stehst du in der Wüste", sagt Sultanow.
       
       Moskau hat nicht nur den Kontakt zum Volk verloren, es fühlt sich ihm
       gegenüber auch nicht in der Verantwortung. Als die Wirtschaft noch
       florierte, nahm die Mehrheit daran kaum Anstoß. Das ändere sich allmählich,
       sagt Doroschok.
       
       Über kurz oder lang werde auch in anderen Landesteilen Protest gegen die
       Entmündigung entstehen. In Samara, Irkutsk und Nowosibirsk gingen im
       Februar denn auch schon mehrere tausend Menschen auf die Straße. "Die
       Bewegung muss sich auf Probleme vor Ort konzentrieren. Versteifen wir uns
       auf die Politik in Moskau, lockt das niemanden hinter dem Ofen vor", meint
       Doroschok. Gouverneur Boos rief ihn nach der Demo an und versprach, sich
       mit der Opposition zu treffen. Das Gespräch fand bisher nicht statt, wurde
       immer wieder verlegt. "Die Machthaber wissen nicht, wie sie mit der
       Situation umgehen sollen." Da sie auf die Forderungen nicht eingingen,
       wolle man im März wieder demonstrieren. "Nächstes Mal kommen mindestens
       30.000", sagt Doroschok mit leuchtenden Augen.
       
       Der Kreml steckt in einer Zwickmühle. Gibt er nach, macht dies Schule.
       Selbst wenn staatliche Medien den Protest wie im Januar verschweigen,
       spricht es sich herum. Andererseits birgt das Verbot einer Massenkundgebung
       in der aufgeheizten Atmosphäre der Ostseestadt unkalkulierbare Risiken.
       Zumal eine regionale Besonderheit hinzukommt. Viele Kaliningrader dienten
       in der Flotte oder sind familiär mit Marine und Militär verbunden.
       Sicherheitskräfte werden kaum gegen ihresgleichen vorgehen. Was tun?
       
       Der Verleger der investigativen Wochenzeitung dwornik (Hausmeister),
       Arsenij Machlow, rät dem Kreml, so schnell wie möglich einzulenken und Geld
       für ein umfangreiches Entwicklungsprogramm zur Verfügung zu stellen.
       Machlow trägt schwarze Lederkluft, Dreitagebart und raucht Kette. Neben der
       Zeitung betreibt er noch eine Verpackungsfabrik und gehört mit zu den
       Organisatoren des Protests. Dem Unternehmer ist mulmig zumute. Gewalt
       schließt er nicht aus, wenn der Kreml nicht einschwenkt.
       
       Konstantin Doroschok ist zuversichtlicher. Manche nennen den ehemaligen
       Fernsehtechniker scherzhaft den Lech Walesa von Kaliningrad, nach dem
       Anführer der polnischen Gewerkschaft Solidarnosc, die den Kommunismus ins
       Wanken brachte. Einige Mitstreiter träumen gar von einer Revolution wie in
       der Ukraine, diesmal in den goldenen Farben des Bernsteins, der an der
       Ostseeküste abgebaut wird.
       
       "Die Kaliningrader sind privilegiert. Sie können vergleichen, denn sie sind
       häufiger im Westen als in Russland. Was hat sich in Polen seit dem Ende des
       Kommunismus getan? Was in Deutschland? Und was bei uns?", fragt der beredte
       Agitator rhetorisch. Jedem dämmere langsam, dass Russlands wirtschaftliche
       Schwierigkeiten politische Ursachen hätten. Während er noch räsoniert,
       klingelt sein Handy. Der FSB-Geheimdienst ist am Apparat und würde ihn
       gerne zu einem "Gedankenaustausch" einladen, erklärt Doroschok schmunzelnd.
       Die Herren vom FSB haben ihm mehrfach nahegelegt, er möge auf sich
       aufpassen.
       
       Noch hält sich Doroschok an die Tugendlehre Immanuel Kants, der nur einen
       Steinwurf vom Haus der Räte entfernt an der Dommauer ruht: "Wer sich zum
       Wurm macht, kann nachher nicht klagen, wenn er mit Füßen getreten wird."
       
       24 Feb 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Klaus-Helge Donath
       
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