# taz.de -- taz-Serie Inklusion (1): Rampenfieber
       
       > Das deutsche Bildungssystem klebt am Ausschlussverfahren für Behinderte.
       > Dabei würden alle von inklusiven Schulklassen profitieren.
       
 (IMG) Bild: Viele Schulen sind auf Rollstuhlfahrer nicht ausreichend vorbereitet
       
       Ein Mädchen kommt in die Schule. Es lernt, aber langsamer als die anderen
       Schulanfänger. Der Mutter wird geraten, das Kind auf eine Förderschule zu
       schicken. Ihre Tochter werde vermutlich sowieso keinen Hauptschulabschluss
       schaffen. Die Mutter ist zunächst dagegen. Ob sie die Lernschwäche ihrer
       Tochter etwa leugnen wolle, fragt man sie. Sie tue ihr doch keinen
       Gefallen. Schließlich beugt sie sich dem Druck. Das Mädchen besucht eine
       Förderschule für Lernbehinderte.
       
       Willkommen in Deutschland, wo seit 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention
       in Kraft ist. Nach dieser dürfen Kinder aufgrund einer Behinderung nicht
       vom Besuch einer Grund- oder weiterführenden Schule ausgeschlossen werden.
       Die Realität sieht anders aus, wie dieses Beispiel aus dem „Schwarzbuch
       Inklusion“ zeigt, herausgegeben von Eltern, Lehrern und
       Behindertenvertretern.
       
       Warum ist Inklusion im Schulalltag so schwer umsetzbar? Von Lehrerprotesten
       gegen die Unterzeichnung der UN-Konvention ist nichts überliefert, alle 16
       Bundesländer haben sich zudem zum Ziel der Inklusion bekannt. Aber wenn es
       konkret wird, stehen Lehrer und Eltern ziemlich allein da.
       
       Bezeichnend der Fall des zehnjährigen Henry aus Baden-Württemberg. Die
       Eltern des Jungen, der mit dem Downsyndrom geboren wurde, wollten ihn nach
       der Grundschule auf ein Gymnasium schicken. Die Schule lehnte ab, die
       Mutter kämpfte öffentlich. Sie erhielt eine Einladung in die Talkshow von
       Günther Jauch, die Türen des Gymnasiums blieben ihrem Sohn verschlossen.
       Jetzt stehen die Lehrer als Integrationsverweigerer da, während die Eltern
       des Jungen sich vorwerfen lassen müssen, ihre eigenen Ambitionen über das
       Wohl des Kindes zu stellen. Und der zuständige Bildungsminister? Hielt sich
       raus. Eltern und Schule müssten das untereinander ausmachen, so die feige
       Argumentation. So aber verlieren alle.
       
       ## Größtmögliche Unverbindlichkeit
       
       Was fehlt, ist der politische Wille für ein bundesweites inklusives
       Schulsystem. In der Kultusministerkonferenz, in der die Länder ihre
       Schulpolitik abstimmen, einigten sie sich auf größtmögliche
       Unverbindlichkeit. Jedes Land soll Inklusion je nach Fasson und Tempo
       umsetzen, so die Abmachung. Nicht die Rechte der Kinder mit
       Beeinträchtigungen, sondern politische Rücksichtnahme steht im Vordergrund.
       Im Hintergrund lauert die Furcht vor den Wählern und den Kosten der
       Inklusion.
       
       Will man den gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Förderbedarf
       so organisieren, dass alle profitieren, müssten die Bundesländer jährlich
       bis zu 660 Millionen Euro zusätzlich aufbringen – das hat der
       Bildungsökonom Klaus Klemm vor zwei Jahren in einer Studie für die
       Bertelsmann Stiftung ausgerechnet. Das klingt teuer. Aber das Geld wäre gut
       investiert. Förderschüler profitieren vom gemeinsamen Unterricht, darin ist
       sich die Fachwelt weitgehend einig.
       
       Die Schulen müssten allerdings entsprechend vorbereitet und ausgestattet
       werden. Mit einer Rampe für Rollstuhlfahrer ist es nicht getan. Knapp
       500.000 Schülern wurde im Schuljahr 2012/13 sonderpädagogischer
       Förderbedarf attestiert, über die Hälfte davon in den Bereichen „soziale
       und emotionale Entwicklung“ oder „Lernen“. Während die Zahl der
       lernschwachen Schüler zurückging, hat sich die Zahl der
       verhaltensauffälligen Kinder sogar verdoppelt. Diese Kinder brauchen
       Schulhelfer, die ihnen zur Seite stehen, sie brauchen Räume, in denen sie
       auch einzeln unterrichtet werden können, sie brauchen Zeit und Zuwendung.
       
       ## Dünne Personaldecke
       
       Doch aufgrund der dünnen Personaldecke werten viele Schulen Stunden, die
       eigentlich zur Förderung dieser Kinder gedacht sind, als
       Vertretungsstunden. Verständlich. Eine Schulleiterin, die vor der Wahl
       steht, entweder eine ganze Klasse nach Hause zu schicken oder ein einzelnes
       Kind, wird die Interessen der Mehrheit schützen.
       
       Aber es liegt nicht allein am fehlenden Geld oder fehlenden Personal. Viele
       können sich leider gar nicht vorstellen, dass behinderte und
       nichtbehinderte Kinder miteinander lernen und voneinander profitieren
       können.
       
       In Deutschland ist es schließlich traditionell so, dass Menschen mit
       Behinderungen in speziellen Einrichtungen untergebracht sind. Ein
       differenziertes Förderschulsystem für sieben verschiedene Arten von
       Behinderung sorgt heute noch dafür, dass Schüler mit sonderpädagogischem
       Förderbedarf überwiegend, und zwar zu 70 Prozent, in gesonderten Schulen
       unterrichtet werden.
       
       Viele Lehrer, die an regulären Schulen arbeiten, fühlen sich angesichts der
       neuen Herausforderung überfordert. Wie soll das gehen, einer Klasse von 30
       Schülern den Dreisatz zu erklären, wenn ein Junge – nennen wir ihn Oliver –
       nebenbei seinen Stuhl zerlegt? Klare Antwort: Das geht nicht, wenn alles so
       weitergeht wie bisher.
       
       ## Wandel der Schulkultur
       
       Der Lehrerverband Bildung und Erziehung fordert kleinere Klassen, mehr
       Fortbildungen und eine bessere Ausbildung. Noch entscheidender aber ist ein
       Wandel der Schulkultur. Kinder sind verschieden, unabhängig davon, ob sie
       mit oder ohne Beeinträchtigungen geboren wurden. Um ihren Besonderheiten
       gerecht zu werden, müssten Lehrer binnendifferenziert unterrichten, also
       auf die jeweiligen Bedürfnisse und das Lerntempo jeder Schülerin und jedes
       Schülers eingehen. Sie müssten darauf verzichten, an alle das gleiche Maß
       anzulegen, vielmehr sollen sie individuelle Rückmeldungen über den
       Lernfortschritt geben. Zensuren passen so wenig zur inklusiven Schule wie
       Lernen im Gleichschritt.
       
       Nimmt man die UN-Behindertenkonvention beim Wort, dann müsste jede Schule
       in Deutschland eine inklusive Schule werden. Das Gymnasium genauso wie die
       Gesamtschule. Das würde konsequenterweise ein Ende des gegliederten
       Schulsystem in seiner jetzigen Form bedeuten, basiert dieses doch auf dem
       Fundament der Auslese und auf der Separierung derjenigen, die irgendwie
       anders, die komisch oder zu langsam sind.
       
       Genau diese Kinder aber gehören dazu. Sie gehören in die Schulen und als
       Erwachsene in die Mitte der Gesellschaft. Das geht. Wirklich. Dafür gibt es
       viele gute Beispiele.
       
       7 Aug 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Anna Lehmann
       
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