# taz.de -- taz-Serie Inklusion (3): Streiter für die Sonderschule
       
       > In Nordrhein-Westfalen kämpfen Eltern für den Erhalt der Förderschule.
       > Sie befürchten, dass ihre Kinder in der Regelschule untergehen könnten.
       
 (IMG) Bild: Von den landesweit 128.000 SchülerInnen in NRW mit sonderpädagogischem Förderbedarf besuchten bislang drei Viertel eine Förderschule.
       
       KÖLN taz | Max hatte sich auf die Schule gefreut. Doch als er in die
       Grundschule kam, begann das Martyrium. Er lernte nicht so schnell wie die
       anderen. Jeden Tag stieß er an seine Grenzen. Er wurde immer trauriger.
       „Mama, ich bin dumm. Ich kann nur Sport“, sagte er seiner Mutter. Tina
       Brune sprach viel mit den LehrerInnen, aber ihr Sohn wurde immer
       unglücklicher.
       
       Zu Beginn des zweiten Schuljahrs absolvierte Max eine achtwöchige Probezeit
       auf der Förderschule. Und blieb. Es ging schnell bergauf. Max machte
       Fortschritte, gewann Selbstbewusstsein und wurde wieder fröhlich. Seine
       neue Klasse ist kleiner, die Lehrkräfte können ihn gezielt unterstützen.
       „Ich glaube nicht, dass eine Regelschule das leisten kann“, sagt seine
       Mutter. Inklusion sei nicht für jedes Kind die richtige Lösung, findet sie.
       
       Doch das politisch gesetzte Ziel, deutlich mehr Kinder mit Förderbedarf an
       Regelschulen zu unterrichten, wird dazu führen, dass es künftig deutlich
       weniger Förderschulen gibt. Max’ Mutter ist empört und hat eine
       Onlinepetition zum Erhalt der Förderschulen auf den Weg gebracht, die sich
       an Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) richtet. „Wir fordern den Erhalt
       aller Förderschulen und deshalb die Abschaffung einer Mindestschülerzahl
       für Förderschulen“, heißt es dort. Die Petition hat bereits mehr als 11.500
       UnterstützerInnen.
       
       Wie Brune denken auch andere Müttern und Vätern in Nordrhein-Westfalen,
       deren Kinder eine Förderschule besuchen. Sie haben gute Erfahrungen damit
       gemacht, dass ihre Söhne oder Töchter mit anderen zusammen lernen, die
       ähnliche Schwierigkeiten haben. „Wir wissen, dass unsere Kinder dort gut
       aufgehoben sind“, sagt Brune.
       
       ## Rechtsanspruch auf Inklusion
       
       Von den landesweit 128.000 SchülerInnen in NRW mit sonderpädagogischem
       Förderbedarf besuchten bislang drei Viertel eine Förderschule. Wie viele
       der 94.000 Förderschüler zu Beginn des neuen Schuljahrs auf eine
       Regelschule wechseln, ist noch nicht statistisch erfasst.
       
       Als eines der ersten Bundesländer haben in NRW SchülerInnen der ersten und
       der fünften Klassen ab 1. August einen Rechtsanspruch auf Inklusion. Damit
       setzt die regierende rot-grüne Regierung die UN-Behindertenkonvention um,
       die Deutschland bereits 2009 ratifiziert hat.
       
       Eltern in NRW sollen demnach künftig die Wahl haben, ob sie ihr Kind in
       eine Förder- oder Regelschule schicken. „Aber Wahlfreiheit gibt es nur,
       wenn es auch Förderschulen gibt“, sagt Tina Brune. Unter den 6.228 Schulen
       in NRW sind zurzeit 690 Förderschulen mit sieben verschiedenen
       Schwerpunkten wie „Lernen“, „Sprache“ oder „geistige Entwicklung“. Ungewiss
       ist, welche von ihnen die nächsten Jahre überleben. Gerade in ländlichen
       Gebieten wie dem Sauerland, wo Brune mit ihren Kindern lebt, könnten
       Förderschulen geschlossen werden, weil es zu wenig Schüler gibt.
       
       Die bis vor Kurzem vorgeschriebenen Mindestgrößen für Förderschulen
       stammten aus dem Jahr 1978. „Damals ging es vorrangig darum, für
       Schülerinnen und Schüler mit einem Bedarf an sonderpädagogischer
       Unterstützung überhaupt ein Schulangebot sicherzustellen“, sagt ein
       Sprecher des NRW-Schulministeriums. „Die sehr niedrigen Mindestgrößen
       sollten für die Schulträger ein Anreiz sein, Förderschulen zu errichten.“
       
       ## Halbwegs wohnortnaher Schulplatz
       
       In den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts waren Eltern froh,
       wenn sie überhaupt einen halbwegs wohnortnahen Schulplatz für ihr Kind mit
       Handicap in einer Sonderschule fanden und der Sohn oder die Tochter nicht
       täglich stundenlang im Schulbus sitzen musste.
       
       Das hat sich geändert. Heute heißen Sonderschulen Förderschulen, und es
       gibt viele davon. Gleichzeitig wird der Besuch einer Regelschule mehr und
       mehr zum Normalfall. Das Land hat deshalb neue Vorgaben für die Schulen
       erlassen. Zwar gilt weiterhin der Grundsatz, dass eine Schule mindestens
       144 SchülerInnen haben muss. Aufgehoben wurde aber die Sonderregelung, dass
       diese Schulen auch mit der Hälfte der Mindestgröße weitermachen dürfen. „
       
       Die neue Mindestgrößenverordnung wird vor allem Auswirkungen auf die
       Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen haben, weil immer mehr
       Eltern für ihre Kinder den Besuch einer allgemeinen Schule wünschen“, sagt
       der Sprecher des Schulministeriums voraus. Die Schulen haben ein Jahr Zeit,
       sich auf die neuen Anforderungen vorzubereiten. Von „Galgenfrist“ spricht
       Tina Brune.
       
       Max’ Mutter fürchtet, dass die Schule ihres Sohnes mit dem
       Förderschwerpunkt Lernen geschlossen oder mit einer anderen zusammengelegt
       wird. Zum neuen Schuljahr wird sich noch nicht viel ändern. Aber im
       übernächsten Schuljahr könnte es zu Schulschließungen kommen. Im Bereich
       der Förderschulen mit Schwerpunkt Lernen werde es zu „Konzentrationen“
       kommen, heißt es auch im Schulministerium.
       
       ## „Er will nicht zurück auf die Regelschule“
       
       Auf Max’ Schule gehen derzeit 90 Kinder. Das sind genug, weil sie zum
       Teilstandort einer anderen Schule ernannt worden ist. Die Schule heißt
       jetzt anders, aber bleibt, wo sie ist. „Es kann sein, dass nächstes Jahr
       die Schülerzahl nicht mehr reicht“, sagt Tina Brune. Ihrem Sohn graue
       davor. „Er will nicht zurück auf die Regelschule“, sagt sie. Max erinnere
       sich mit Angst und Panik daran, dass die Kinder in der anderen Schule ihn
       gehänselt haben. Die LehrerInnen hätten sich durchaus bemüht, sagt seine
       Mutter. „Man wollte Max helfen, aber die Rahmenbedingungen ließen es nicht
       zu.“
       
       Auch andere Eltern werden aktiv, weil sie Schulschließungen fürchten. Nach
       Angaben des NRW-Landesverbands Eltern und Förderer sprachbehinderter Kinder
       und Jugendlicher haben sich an 18 Standorten Initiativen für den Erhalt von
       Förderschulen mit dem Schwerpunkt Sprache gegründet. Die bestehenden 70
       Sprachförderschulen nicht fortzuführen, sei ein „absoluter Rückschritt“,
       sagt der Vorsitzende Jochen-Peter Wirths.
       
       „Es wird ein funktionierendes System zerstört“, kritisiert der Wuppertaler
       Anwalt. Die Regelschulen könnten nicht die gleiche Unterstützung
       gewährleisten, weil dort nicht genug qualifizierte Lehrkräfte verfügbar
       sind. Sprachförderung könne nur in kleinen Klassen erfolgreich sein. „Die
       Bedingungen, die die Kinder brauchen, sind in den Regelschulen nicht
       vorhanden“, sagt er. „Die Kinder gehen unter.“
       
       Das Schulministerium erwartet, dass keine Förderschule mit Schwerpunkt
       Sprache schließen wird. „Wir gehen davon aus, dass diese Schulen weiterhin
       die erforderliche Mindestgröße erreichen“, heißt es. Die Mindestgröße liegt
       hier bei 55 SchülerInnen in den Klassen eins bis vier und 66 in der
       Sekundarstufe I. Überleben können Sprachförderschulen auch mit weniger
       Kindern, wenn sie einen Verbund mit anderen Förderschulen bilden. Doch
       davon halten Jochen-Peter Wirths und seine MitstreiterInnen nichts.
       „Verbundschulen sind ungünstig für Sprachbehinderte“, sagte er. Von dort
       würden deutlich weniger Kinder in die Regelschule gehen. „Deshalb wehren
       wir uns dagegen.“
       
       ## Neuanmeldungen gehen drastisch zurück
       
       Der Vater fürchtet, dass die Förderschulen über kurz oder lang ausbluten
       werden. Schon jetzt würden die Zahlen der Neuanmeldungen drastisch
       zurückgehen. „Die Schulämter beraten die Eltern einseitig in Richtung
       inklusive Regelschule“, glaubt er. Gleichzeitig sinke der Anreiz für
       Eltern, Kinder auf der Förderschule Sprache anzumelden. Früher habe eine
       Lehrkraft sieben oder acht Kinder unterrichtet, ab dem kommenden Schuljahr
       werden es neun oder zehn sein. „Die Lehrer werden von den Förderschulen
       abgezogen, weil sie für die Inklusion in den Regelschulen gebraucht
       werden“, sagt Wirths. „Man senkt damit das Niveau und macht die
       Förderschulen unattraktiver.“
       
       Das Schulministerium bestreitet das. Eine Lehrerin an einer
       Sprachförderschule unterrichte jetzt nur genauso viele Kinder wie auch an
       Schulen mit anderen Förderschwerpunkten, heißt es im Ministerium. „Haben
       Schulen dringenden LehrerInnenbedarf, können sie zusätzliche Kräfte
       beantragen“, betont eine Sprecherin.
       
       Während Eltern wie Tina Brune oder Jochen-Peter Wirths für den Erhalt der
       Förderschulen kämpfen, ringen andere um die Inklusion an Regelschulen. Zu
       ihnen gehört Eva-Maria Thoms von der Elterninitiative „mittendrin“. „Ich
       kann die Angst der Eltern nachvollziehen, deren Kinder auf Förderschulen
       gehen“, sagt sie. Diese Eltern dürften nicht im Regen stehen gelassen
       werden, fordert sie.
       
       Doch Thoms ist davon überzeugt, dass Eltern, die einen Förderschulplatz für
       ihr Kind wollen, auch einen bekommen. Aber die allergrößte Mehrheit der
       Eltern wolle das eben nicht. Deshalb schmelze der Bedarf an Förderschulen.
       „Man muss auch sehen, dass die Kinder bisher in Förderschulen gezwungen
       worden sind“, sagt sie. Wenn sich das ändert, ist das in ihren Augen ein
       großer Fortschritt. „Auch wenn es nicht genug Ressourcen für eine optimale
       Ausstattung gibt, muss es mit der Inklusion endlich einmal losgehen“, sagt
       sie.
       
       20 Aug 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Anja Krüger
       
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