# taz.de -- Coming-of-Age-Roman für Erwachsene: Dieser gleißende Sommer
       
       > Gibt es Coming-of-Age-Bücher auch über Erwachsene? Jetzt schon. Marion
       > Braschs Entwicklungsroman über einen leicht verpeilten Hutträger.
       
 (IMG) Bild: Im Zug nach irgendwo: „Wunderlich fährt nach Norden.“
       
       Dieses Buch ist ein Blues. Langsam, in langen, stoischen Wellen, schwappt
       der Sound durch die Geschichte. In der Geschichte eines Mannes namens
       Wunderlich ist es Sommer. Zwischen schwer niedergehenden Gewittern liegt
       die Hitze wie dicker Brei über der Landschaft, in der sich alles ereignen
       wird. Flache Weiten, verschwimmende Horizonte, leere Alleen, Ziellosigkeit.
       Und zu all dem hört, wer hören möchte, diesen Blues. Es ist eine langsame
       Gitarre, die ohne Angst vor Kitsch durch die Buchseiten zittert.
       
       Diese Geschichte hat kein Ziel. Sie passiert. Und der, dem sie passiert,
       Wunderlich, ist ein irritierter mittelalter Mann. Ihm läuft die Freundin
       weg, irgendwie hat es nicht gepasst zwischen den beiden. Marie steigt aus
       dieser Liebe wie aus zu engen Schuhen. Zurück bleibt Wunderlich, allein mit
       diesem Sommer und seinem Blues. Er macht sich auf eine Reise, die acht Tage
       währen wird und deren Richtung – Norden – von Anfang an so allgemein
       markiert ist, dass ausreichend Platz bleibt für Pathos und Witz und
       Absurdes.
       
       Aufgeschrieben hat diese Geschichte Marion Brasch. Sie habe, sagt sie, ein
       Buch schreiben wollen über einen, „der sich lieber treiben lässt, als ein
       Ziel zu verfolgen; der lieber reagiert statt zu agieren“. Ihr Wunderlich
       sei eben „kein Getriebener. Na ja, und zugegeben: Einige Eigenschaften
       haben wir durchaus gemeinsam.“
       
       Wie schon in ihrem vorhergehenden Buch, der kaum verfremdeten Geschichte
       von Braschs Familie, geht es also auch in „Wunderlich“ um das Selbst der
       Autorin in den jeweiligen Zeitläuften. Aber anders als in „Ab jetzt ist
       Ruhe“, das ein Leben von der DDR der Sechzigerjahre bis ins vereinigte
       Deutschland erzählt, ist die Hauptfigur diesmal irritierend bedürfnislos,
       irgendwo im Nirgendwo des entwickelten Kapitalismus bundesdeutscher Prägung
       kreisend. Nichts tut weh, weil nichts mehr berührt.
       
       ## Er ist nicht am Ende
       
       Das Schlimmste, was dem Zeichenlehrer Wunderlich in der kommoden Mitte
       seines Lebens passieren konnte, ist ja schon passiert: Marie hat ihn
       verlassen. Ja, er ist unglücklich deshalb. Aber nein, er ist nicht am Ende.
       Er hat Lebenserfahrung, er hat ein Auskommen, eine Wohnung, etwas
       Erspartes. Und er hat unverhofft diesen gleißenden Sommer zur Verfügung,
       nun, da niemand anderes mehr über seine Zeit verfügen will.
       
       Und dann zieht er los. Er packt einen Rucksack, stiefelt zum Bahnhof,
       steigt in den ersten Zug Richtung Norden und wird wenig später von einer
       brutalen Schaffnerin auch schon wieder hinausgeworfen. Er landet auf einem
       dieser stillgelegten Bahnhöfe, die es mittlerweile haufenweise gibt, und
       trifft dort den Trinker Finke. Der, ein Sprücheklopfer von Format, nimmt
       ihn mit in seine Bude, sie saufen und reden, Finke mackert rum. Dann zieht
       er los zur Tankstelle ins Nachbardorf, um noch ein bisschen Stoff zu
       besorgen – und kehrt nie mehr zurück.
       
       Stattdessen marschiert nun Toni in die Geschichte, ein ruppiges, androgynes
       Mädchen, eine Frau mit einem leicht pissigen Tonfall, der sich aber noch
       ändern wird. Denn nicht nur, dass Wunderlich und Toni einander immer besser
       kennenlernen werden. Es werden auch Dinge geschehen, die bar jeder Logik
       sind. Und die dafür sorgen, dass die Geschichte von Wunderlich und Toni
       zwar immer mehr an Fahrt aufnimmt, dabei aber ganz schön unlogische
       Richtungswechsel hinlegen wird.
       
       ## Ein Sommermärchen
       
       Es treten im Folgenden auf: eine Katze, ein schöner Wirt, Finkes
       spätlesbische Exfrau, eine Dorfbande, eine hübsche Polizistin, ein
       verlorener Sohn. Zudem ein Baum, an dessen Stamm blaues Zauberharz
       austritt. Das Harz heilt alle Wunden, aber es löscht auch die Erinnerung an
       den erlittenen Schmerz. Zwischendurch erhält Wunderlich immer mal wieder
       Hinweise von seinem selbstständig gewordenen Handy. Es ist: ein
       Sommermärchen.
       
       Der Wechsel erzeugt den Ton. Diesen Blueston. Der Wechsel zwischen realen,
       eingeübten Bildern, die jeder kennt, der schon mal durch Mecklenburgs
       einsame Dörfer gefahren ist, und den mitunter logikbefreiten Wendungen der
       Geschichte. Marion Brasch traut sich etwas nur noch Seltenes in der
       Literatur: Pathos, Überzeichnung, Unordnung. Sie dosiert das aber gerade
       noch richtig.
       
       Ihrem Helden verpasst sie einen weichen Hut, als sei er ein Tramp. Der Wirt
       im Nachbardorf ist ein Strizzi mit aufgerissener Hemdbrust und fehlendem
       Schneidezahn. Die androgyne Toni trägt an einem dunklen Geheimnis und kaut
       deshalb ihre Nägel runter. Ganz schön dick aufgetragen, das alles.
       
       Aber seltsam, es funktioniert. Brasch erzählt ein Märchen im Heute. Eine
       Geschichte, die jede Menge Assoziationen weckt. An ziellose Losgelöstheit
       der Jugend. An verpasste Elternschaft. An Verlockungen des Rauschs. Eben
       alles, was ein guter Bluessong braucht.
       
       9 Aug 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Anja Maier
       
       ## TAGS
       
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