# taz.de -- Merve-Geschäftsführer über neue Denker: „Theorie mit Verve und Affekt“
       
       > Merve-Chef Tom Lamberty übers Büchermachen, über die Kapitalismuskrise
       > und über aktuelle Diskurse in Deutschland und im Internet.
       
 (IMG) Bild: „Die Kunst ist extrem korrumpiert gerad, und es ist schwierig, da interessante Positionen rauszufiltern“, sagt Tom Lamberty.
       
       Der Merve Verlag wurde 1970 gegründet und verlegte, gegen die Verhärtung
       der politischen Fronten in Deutschland, zunächst die undogmatischeren
       italienischen und französischen Marxisten. Ende der 1970er schwenkte der
       Verlag auf poststrukturalistische Theorie aus Frankreich um und näherte
       sich in den 80er Jahren dem Kunstbetrieb an. Peter Gente verließ den Verlag
       2007 als letztes Gründungsmitglied. Seitdem führt Tom Lamberty alleinig
       Merves Geschäfte. 
       
       taz: Herr Lamberty, Sie sind seit 2004 Geschäftsführer bei Merve – was
       haben Sie seither im Verlag verändert? 
       
       Tom Lamberty: Ich habe versucht, junge neue Leute ernster zu nehmen. Nicht
       mehr so viel Import zu machen, sondern eher hier nach guten Leuten zu
       gucken. Oder deutsch-fremdsprachige Ausgaben zu machen mit der Möglichkeit,
       selber Lizenzen zu vergeben. Im Moment kommt eine ganz neue Generation von
       Denkern, nach all den Leuten in den nuller Jahren, die immer nur über
       irgendjemanden gearbeitet haben: über Deleuze oder über Foucault. Aber es
       soll im Verlag nach wie vor eine Bandbreite geben an unterschiedlichen
       Positionen. Merve hat nie eine Programmatik gehabt, die hat sich immer erst
       im Nachhinein herausgestellt.
       
       In der letzten Zeit haben Sie schwerpunktmäßig Akzelerationismus und
       spekulativen Realismus verlegt – warum? 
       
       Ich glaube, diese beiden Theorierichtungen haben einen Nerv getroffen. Bei
       der Berliner „Idee des Kommunismus“-Konferenz 2010 kam ich raus und war
       über die Finanzkrise auch nicht wesentlich schlauer als vorher. Man kann ja
       nicht ewig klein-klein weitermachen. Jetzt gibt es eine neue,
       internationale Bewegung von Leuten, die das Denken nicht immer aufschieben,
       sondern die was auf ihrem Blog raushauen, selbst wenn’s mal unfertig und
       vielleicht peinlich ist. Die machen Theorie mit Verve und Affekt – nicht
       nur über Affekt. Und zwar nicht wutbürgerlich wie die FAZ mit Hans Magnus
       Enzensbergers „Wirf dein Smartphone weg“ auf Seite 1. Sondern im Hier und
       Jetzt, angedockt an den Kulturen, aus denen wir kommen: Musik, Kino, das
       Netz.
       
       Klar, Regression will keiner. Aber seit 2008 ist doch klar, es gibt eine
       Krise, und die Leute warten auf eine Antwort. Haben Ihre Bücher das Zeug,
       zu einem politischen Projekt zu werden? 
       
       Na ja, von dem ersten Akzelerationismus-Band haben wir 2.000 Stück
       verkauft, 1.500 von dem Buch über spekulativen Realismus. Das ist natürlich
       eine begrenzte Zahl, wenn auch verstärkt durch die Diskussion im Internet.
       Aber es gibt schon einen Moment der Aufmerksamkeit gerade – den in
       konkretere politische Projekte zu überführen ist natürlich schwer. Aber ich
       hoffe schon, dass daraus längerfristige Befreiungsprozesse erwachsen.
       
       Wirklich? Ihr Autor Ray Brassier bezeichnet kollektive politische Aktion
       als „sentimentalen Pathos“. Da hängen noch Klischees der 1980er Jahre in
       der Luft, als wären es Wahrheiten – warum eigentlich? 
       
       Weil man’s irgendwann ritualisiert hat: Demonstrationen wurden in einem
       bestimmten politischen Kontext uncool, und die Leute wiederholen das jetzt
       in Endlosschleife, ohne noch zu wissen, warum. Natürlich sind diese
       Diskussionen noch nicht zu Ende geführt. Da müsste man noch mal an die
       Ausgangspunkte zurückgehen – von mir aus auch so wie Badiou in seiner
       „Kommunistischen Hypothese“.
       
       In Großbritannien oder den USA finden gerade politischere Debatten statt.
       Warum bringen Sie nicht mehr solche Bücher, zum Beispiel Mark Fishers
       „Kapitalistischen Realismus“? 
       
       Wir können ja nicht alles machen. Und manchmal verpennt man halt auch was.
       
       Anders gefragt: In Deutschland wird Theorie oftmals von der Kunstszene
       beeinflusst und fühlt sich genauso weltfremd an, wie Sie die
       70er-Jahre-Marxisten beschreiben. Wo bleiben die Leute, die empirischer und
       politischer denken? 
       
       Wir müssen aus der Kunstecke rauskommen: Die Kunst ist extrem korrumpiert
       gerade, und es ist schwierig, da interessante Positionen rauszufiltern.
       Aber empirischere Sachen sind halt echte Fleißarbeit. Thomas Piketty hat
       das beispielsweise geleistet, und wir bringen bald einen seiner Artikel in
       „Euro Trash“. Wenn der statt das „Kapital im 21. Jahrhundert“ auf 700
       Seiten mir einen Text auf 100 Seiten anbieten würde, dann würde ich den
       sofort drucken.
       
       Wie müsste denn allgemein ein Buch aussehen, das politisch etwas bringt und
       trotzdem noch Kunst genug ist, um bei Ihnen verlegt zu werden? 
       
       So ein Buch müsste auf der Höhe der Zeit sein, was Technologien, aber auch
       etwa die Finanzmärkte angeht. Ich will kein Buch machen über Cognitive
       Capitalism von Leuten, die nichts von den dazugehörigen Maschinen
       verstehen. Man kann natürlich wie Joseph Vogl versuchen, mit Aristoteles
       die Finanzkrise zu erklären. Ist auch ein schönes Buch, „Das Gespenst des
       Kapitals“. Aber das erklärt mir noch nicht genug.
       
       Sie wollen erklären? 
       
       Natürlich will ich wissen, wie diese Mechanismen funktionieren. Und wenn
       die Finanzmärkte das selbst schon nicht wissen, dann erst recht. Wenn man
       strategisch mit solchen Situationen umgehen will, dann muss man doch
       wenigstens drei Eckpfeiler davon verstehen.
       
       Sehen Sie in Akzelerationismus und spekulativem Realismus denn valide
       Analysen? 
       
       Ich sehe darin Ansätze zu valideren Analysen als bisher. Und zumindest
       haben die keine Berührungsängste, sich mal mit anderen Leuten zu
       unterhalten, als das Linke normalerweise so tun.
       
       Ihr Gesamtkatalog 2014 trägt ein Zitat des britischen Philosophen Nick Land
       – wie wird so ein umstrittener Typ zum Aushängeschild für Merve? 
       
       Als Aushängeschild ist der natürlich zu ambivalent. Aber Nick Land ist
       schnell und weiß extrem gut Bescheid über Finanzmärkte und -theorie. Wie
       der damit umgeht, finde ich auch schwierig, da gibt es eine neoliberale
       Ecke – aber das wiederum ist auch gebrochen.
       
       Ist Ambivalenz denn an sich schon reizvoll? 
       
       Natürlich, da können Sie schon die Carl-Schmitt-Bücher bei uns im Programm
       als Beispiel nehmen. Aber so jemand wie Nick Land kann auch denken,
       natürlich drucke ich das dann. Die Leute, die denken können und auch noch
       cool sind beziehungsweise hot – die, die wirklich dabei sind und mitmachen
       wollen –, solche Leute fehlen immer.
       
       20 Aug 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jette Gindner
       
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