# taz.de -- Als Einzelkind aufgewachsen: Von wegen Egoisten!
       
       > Hartnäckig halten sich Vorurteile über Einzelkinder. Ohne Geschwister
       > aufzuwachsen, scheint jedoch keine negativen Folgen für die Psyche zu
       > haben.
       
 (IMG) Bild: Jedes vierte Kind in Deutschland ist ein Einzelkind.
       
       MÜNCHEN taz | Als Sabine Bach (Namen geändert) ihren Mann kennenlernte und
       erfuhr, dass er keine Geschwister hat, war sie erst mal ein wenig
       skeptisch. „Auch ich hatte die Vorurteile verinnerlicht, die man
       Einzelkindern gewöhnlich anhängt: die denken doch nur an sich“, sagt die
       45-Jährige, die selber einen älteren Bruder hat, im Rückblick. Doch heute,
       nach 15 Jahren Ehe und drei gemeinsamen Kindern, kann sie sagen: „Das
       stimmt nicht. Rücksichtnahme ist für Michael ein wichtiges Thema.“
       
       Dabei ist Michael Bach keineswegs ein Ausreißer aus der Statistik.
       Zahlreiche Studien aus den vergangenen 30 Jahren belegen, dass sich
       Geschwister- und Einzelkinder kaum in ihrer Persönlichkeit oder in ihrem
       Sozialverhalten unterscheiden. Auch wenn die Studien oft methodisch nicht
       einwandfrei waren, so gehen Experten jedoch davon aus, dass Bruder und
       Schwester nicht so einen starken Einfluss haben wie angenommen.
       
       Und trotzdem halten sich die Urteile über die Geschwisterlosen hartnäckig.
       Und das ist auch kein Wunder, denn die Einzelkinder waren früher eine
       Seltenheit, waren oft unehelich, arm und wuchsen darum isoliert auf. Oder
       ein Elternteil war krank oder tot. All dies hinterließ natürlich Narben in
       der Kinderseele, machte Sonderlinge aus ihnen.
       
       Auch die ersten Forscher prägten das negative Bild nachhaltig. „Verwöhnt,
       narzisstisch, sozial inkompetent“ – so lautete das Urteil des Psychologen
       G. Stanley Hall in den frühen 1920er Jahren über Einzelkinder. „Ein
       Einzelkind zu sein, ist für sich genommen eine Krankheit.“
       
       Ein anderer Grund dafür, dass Einzelkinder auch heute noch als
       bedauernswerte Geschöpfe gelten: Es liegt doch irgendwie nahe, dass Eltern
       von Einzelkindern ihren Nachwuchs verwöhnen, sie überfördern und mit
       Geschenken überfrachten. Auf der anderen Seite gilt das Leben mit
       Geschwistern als soziale Schule, als nährende Beziehung, die die Reifung
       vorantreibt.
       
       Doch die Forschung konnte diese logische Schlussfolgerung nicht belegen.
       Richtig ist natürlich, dass Kinder ohne Geschwister meist mehr
       Aufmerksamkeit und auch mehr finanzielle Ressourcen von den Eltern
       erhalten. Allerdings fördert dies alles laut wissenschaftlicher Studien
       offenbar nicht den Narzissmus, sondern eher eine zügige Sprachentwicklung,
       verbessert berufliche Erfolgschancen und steigert den IQ.
       
       Laut einer kalifornischen Studie erreichten die Einzelkinder etwa einen
       höheren Bildungsabschluss. „Die Kinder eignen sich offenbar eine große
       Anpassungsfähigkeit an, und diese geht dann mit einem höheren Intellekt
       einher“, so erklärt es der Wissenschaftsjournalist Jeffrey Kluger in seinem
       Buch „The sibling effect“. Auch wenn Unterschiede hier nur sehr gering
       waren, so scheint dies sogar ein Vorteil des Einzelkindlebens zu sein.
       
       Allerdings steigt mit diesen elterlichen Investitionen auch der Druck,
       erfolgreich zu sein. Diese Erwartungshaltung gegenüber Einzelkindern ist
       besonders ausgeprägt in China, wo seit 1979 die Ein-Kind-Politik verfolgt
       wird.
       
       Toni Falbo, Psychologin an der University of Texas, führte eine Studie mit
       4.000 chinesischen Kindern durch und sagt: „Ihnen wird gesagt, gehorsam zu
       sein, hart zu arbeiten und dass das Wohl der ganzen Nation auf ihnen läge.“
       Und dies hat vermutlich doch negative Folgen. So hat eine US-Studie vom Mai
       2013 zwar keine Belege dafür finden können, dass die „chinesischen Kaiser“
       egoistischer sind als Gleichaltrige aus Mehrkindfamilien. Sie besagte
       jedoch, dass die Einzelkinder eher risikoscheu sind, den Wettbewerb meiden,
       pessimistischer und empfindlicher sind.
       
       ## Überwiegend Positives
       
       In Deutschland lebenden Einzelkindern scheint es da besser zu gehen. Der
       Psychologe Hartmut Kasten, emeritierter Professor an der LMU München,
       beschäftigte sich viele Jahre mit der Geschwisterforschung und auch mit dem
       Wohlergehen der Einzelkinder. Und er kann überwiegend Positives berichten.
       
       „So sind die Betroffenen in Kindergruppen oft sehr beliebt und werden gerne
       als Anführer angenommen“, sagt er. Zudem investieren Einzelkinder offenbar
       mehr in Sozialbeziehungen, in Freundschaften, versuchen gute Kontakte auch
       zu Kollegen zu halten.
       
       „Das ist verständlich, denn diese Beziehungen sind ja nicht so sicher wie
       die Geschwisterbeziehung“, findet Kasten.
       
       Dass die Kinder manchmal altklug wirken, könnte daran liegen, dass sie sich
       schnell die Kommunikationsweise der Erwachsenen angewöhnen und sich an
       ihnen orientieren, daher oft vernünftiger als ihre Altersgenossen sind.
       
       ## Jedes vierte Kind
       
       Doch die Interaktion mit Gleichaltrigen ist sehr wichtig. Daher empfiehlt
       etwa Rudolf Leu, Wissenschaftler am Deutschen Jugendinstitut (DJI), die
       Kinder bereits früh mit anderen Kindern zusammenzubringen, etwa in
       Spielgruppen.
       
       Hierzulande gibt es seit dem Zweiten Weltkrieg unverändert rund 25 Prozent
       Einzelkinder. Das Thema erhält seine Aktualität dadurch, dass laut Umfragen
       Frauen sehr unter der Belastung Muttersein und Beruf leiden. Mit einem
       Einzelkind ist eine berufliche Verwirklichung jedoch einfacher. Bessere
       wissenschaftliche Erkenntnisse hierzu könnten also dazu dienen, Frauen das
       schlechte Gewissen zu nehmen, wenn dem ersten Kind kein Geschwisterchen
       folgt.
       
       Die Politik hingegen favorisiert Mehrkindfamilien, der Geburtenrückgang in
       Europa versetzt vor allem Ökonomen in Panik. „Darum besteht kein Interesse
       daran, das Thema Einzelkind wirklich gut zu erforschen“, vermutet Kasten.
       
       30 Aug 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Kathrin Burger
       
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