# taz.de -- Der Islamische Staat und wir selbst: Das Böse in uns
       
       > Wie wird eine ganze Nation zu Mördern? Die Terrormiliz Islamischer Staat
       > ist auch der Alptraum der Generation um die 30.
       
 (IMG) Bild: Kämpfer der Terrormiliz IS in Raqqa, Syrien.
       
       Der Islamische Staat IS hat mich gepackt. Die Brutalität, die
       Abgebrühtheit, das Morden, die Gleichzeitigkeit von vermeintlichem
       Mittelalter und modernem YouTube-Pop, das alles ist auf schreckliche Weise
       faszinierend. Weil es so wahnsinnig wirkt, so unberechenbar, so entfesselt.
       
       Ich will das Grauen verstehen. Jahrelang habe ich mich im Studium mit dem
       Islam und dem Nahen Osten befasst. Ich müsste doch etwas sagen können, das
       über die klischeehaften, reißerischen Reaktionen von Politikern und Medien
       hinausgeht, die vom „Kalifat des Schreckens“ oder der „Isis-Bestie“
       sprechen.
       
       Vielleicht mischt sich in mein Unverständnis auch eine Art irrationaler
       Wut. Seit Jahren stelle ich mich gegen antimuslimische Vorurteile, versuche
       Freunden zu erklären, warum vieles im Nahen Osten so ganz anders ist, als
       man es aus dem Fernsehen kennt. Versuche zu erklären, dass der Islamismus
       zwar brutal und verquer ist, man ihn aber aus der Geschichte der Region
       heraus erklären kann. Und was ich auch immer sage: Dass die allermeisten
       Muslime nichts damit zu tun haben, sondern darin eine Perversion ihrer
       Religion sehen.
       
       Und nun kommt die Isis, die sich mittlerweile nur noch IS nennt: Eine
       radikalislamistische Organisation, die selbst al-Qaida in den Schatten
       stellt, und jedes Vorurteil, das über arabische Muslime kursiert, noch
       übersteigt. Ich muss einsehen, dass es nichts bringt. Fünf Jahre Studium
       bringen mich dem Verstehen keinen Schritt näher. Selbst ausgewiesene
       Nahost-Kenner waren auf den IS nicht vorbereitet. Fast alle waren
       überrascht, wie leicht der IS riesige Gebiete im Irak und in Syrien einfach
       überrannte.
       
       Freunden aus der Region geht es ähnlich. In Istanbul arbeitete ich kürzlich
       mit einem jungen Syrer zusammen. Auch er, der mit seiner Familie seit drei
       Jahren im syrischen Bürgerkrieg ausharrt, der die politische Lage vor Ort
       tagtäglich verfolgt, hat keine Erklärung. Auch auf ihn wirkt der IS wie
       eine Heimsuchung, eine Plage von beinah biblischem Ausmaß.
       
       ## So weit wie möglich von sich weisen
       
       Der Freund ist einer dieser angenehm bescheidenen Menschen, die einem vor
       Augen führen, wie viel Stärke ein Mensch aus seiner Religion ziehen kann.
       Die brutale, missionarische Ideologie des IS ist für ihn so weit weg wie
       für mich. Eine Organisation, die gewaltsam Moscheen und jahrhundertealte
       muslimische Heiligtümer zerstört, die sogar auf Twitter verkündet, sie
       wolle die Kaaba zerstören – wo soll das herkommen?
       
       Der IS wendet sich gegen jede etablierte muslimische Tradition, in der der
       syrische Freund aufgewachsen ist, gegen die syrische Kultur. Der IS will
       all das zerstören, er instrumentalisiert politische Unterschiede, bringt
       Sunniten gegen Schiiten auf, und alle gegen Christen, Jesiden und andere
       Minderheiten. Und er wendet sich gegen die große Vielfalt, die diese Region
       seither ausmacht und die bei allen Kriegen doch vielerorts überlebt hat.
       
       Der Reflex meines Freundes ähnelt also meinem eigenen: Man will den IS so
       weit wie möglich von sich weisen.
       
       Dieser Reflex, das Böse so weit wie möglich von sich zu weisen, es für
       radikal anders zu erklären, erinnert mich an Deutschland: In einer
       Emnid-Umfrage von 2002 wurden deutsche Jugendliche gefragt, ob ihre
       Großeltern Nazis waren. Glaubte man den Jugendlichen, dann haben nur ein
       Prozent der Deutschen in der NS-Zeit Verbrechen begangen. Auch die Nazis
       werden bis heute als „entmenschlicht“, als „wahnsinnig“, als „Monster“
       beschrieben.
       
       ## 30.000 jungen Männern
       
       All das ist weit von uns entfernt, und doch müssen wir uns fragen, wie es
       passieren konnte, dass eine ganze Nation zu Mördern wurde. Hannah Arendt
       hat dieses Problem, das sie im Angesicht der Nazis und meine Generation
       angesichts der IS umtreibt, sehr griffig mit der „Banalität des Bösen“
       beschrieben.
       
       Für mich heißt das nicht, dass das Böse an sich banal ist, sondern dass der
       Weg dahin mit vielen, scheinbar banalen Schritten gepflastert sein kann. Es
       kann beim Familienvater anfangen, der in die NSDAP eintrat, weil er sich
       davon bessere Verdienstchancen erhoffte.
       
       Und es kann heute bei dem jungen Mann anfangen, der im Irak, in Syrien oder
       auch in Westeuropa aufgewachsen ist, keinen Job findet, sich ausgegrenzt
       fühlt und deshalb in den Glaubenskrieg zieht. Um sich seine Männlichkeit zu
       beweisen oder weil er ein Abenteuer erleben will. Ist diese Erklärung zu
       klischeehaft? Zu abgedroschen? Die gängige Zuschreibung, dass die 30.000
       jungen Männern, die bisher der IS beigetreten sind, allesamt einfach nur
       wahnsinnig oder verrückt sind, geht aber auch nicht auf.
       
       Man kann ein Phänomen wie den IS militärisch bekämpfen. Doch wenn man
       verhindern will, dass die Ideologie weiterbesteht, dann müssen wir
       verstehen, was diese Männer (und einige Frauen) antreibt. Sicher, der IS
       stürzt sich auf eine kulturelle Symbolik, die ihn für uns sehr fremd
       erscheinen lässt. Männer mit Bärten, eine Öffentlichkeit ohne Frauen,
       Menschen, die mit Messern enthauptet werden, – das wirkt vorsintflutlich.
       Doch viele der Kämpfer reisen aus Europa ein und es sind nicht nur
       arabisch- oder türkischstämmige Einwandererkinder, auch deutsche
       Konvertiten. Wenn wir verstehen wollen, was diese Gewalt möglich macht,
       dann müssen wir bei uns selbst anfangen.
       
       ## Von ausufernder Gewalt umgeben
       
       Wie nah diese Welten beieinander liegen, wurde mir neulich beim Kaffee mit
       einem Freund klar. Er ist Brite mit südafrikanischen Wurzeln, wir haben
       zusammen an einer Londoner Uni studiert. Er hatte gerade einen dieser
       YouTube-Clips gesehen, auf der ein britischer Dschihadist der Welt erklärt,
       warum seine Gewalt gerechtfertigt ist. Mein Freund imitierte den Londoner
       Multikulti-Akzent des jungen Mannes, der mittlerweile als „Jihadi John“
       bekannt ist.
       
       An unserer Uni studierten Hunderte junge Männer aus Einwandererfamilien,
       etliche islamisch sozialisiert, die genauso sprechen. Für mich waren sie
       Briten, die das repräsentierten, was London ausmacht: Menschen, die sich
       wie selbstverständlich zwischen verschiedenen Kulturen bewegen. Es sind
       junge Männer, die sehr eloquent sind, die wütend sind, wenn britische
       Medien die Gesamtheit der Muslime für die Taten einiger in Geiselhaft
       nahmen. Meistens aber waren sie einfach junge Männer, die ich etwas um ihre
       multikulturelle Herkunft beneidete. Ich glaube nicht, dass einer dieser
       Männer heute für den IS kämpft. Aber es ist auch nicht unmöglich.
       
       Schaut man von Europa nach Syrien oder in den Irak, dann lassen sich noch
       leichter Gründe finden, die das vielleicht erklären können. Wer seit drei
       Jahren von ausufernder Gewalt umgeben ist wie in Syrien, für den mag schon
       der Erfolg des IS anziehend sein. Wenn man von keiner Seite Gerechtigkeit
       erwarten kann, dann ist man vielleicht lieber mit den Starken als gegen
       sie.
       
       Mag sein, dass uns die Gewalt, mit der der IS vorgeht, nur deshalb so
       verrückt erscheint, weil die Umstände, die sie ermöglicht haben, für uns so
       weit weg sind. Gerade für meine Generation, die in Frieden und Sicherheit
       aufgewachsen ist. Kann auch sein, dass mich der IS deshalb so fasziniert,
       weil er deutlich macht, was für eine Errungenschaft die demokratischen
       Institutionen und die Sicherheit sind, in der wir hier leben. Der IS ist
       wie ein Albtraum, der in diese scheinbar heile Welt hineinbricht. Doch
       jeder Albtraum – egal wie verrückt – ist ein Teil von uns. Der IS zeigt
       uns, wie fragil die Barrieren sind, die wir gegen das Böse errichten.
       
       20 Sep 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Julia Ley
       
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