# taz.de -- Aus „Le Monde diplomatique“: Die Clans der Ukraine
       
       > Das Land ist seit Jahrzehnten in der Hand von Oligarchen. Sie beherrschen
       > Wirtschaft, Medien und Politik. Die Korruption bestimmt den Alltag.
       
 (IMG) Bild: Die Mächtigen des Staates friedlich vereint mit Blumen in den Händen.
       
       Die ukrainische Politik hat im September erneut eine überraschende Wende
       genommen. Noch vor Kurzem sprach der ukrainische Verteidigungsminister von
       einem großen Krieg, wie ihn Europa seit 1945 nicht gesehen habe. Und
       US-Politiker beschrieben die Ukraine als Schauplatz eines Krieges Russlands
       gegen Europa, der sich jederzeit noch ausweiten könne.
       
       Doch dann folgte Mitte September eine Vereinbarung, die auf einen
       Kurswechsel hinausläuft, der den Konflikt um die Zukunft der Ukraine
       entschärfen könnte: Zwar soll der wirtschaftliche Teil des
       EU-Assoziierungsabkommen am 1. November 2014 in Kraft treten, doch seine
       volle Implementierung ist auf Ende 2015 verschoben.
       
       Ebenso wichtig: Den umkämpften Territorien im Osten wird für drei Jahre
       eine weitgehende Autonomie gewährt. Das wäre in der Tat ein Ausweg aus der
       größten innenpolitischen Katastrophe des Landes seit dem Zweiten Weltkrieg,
       die bereits mehr als 3 500 Tote gefordert und eine Million Ostukrainer aus
       zerstörten Städten und Dörfern vertrieben hat.
       
       Doch in Kiew kritisieren oppositionelle Stimmen, allen voran Julia
       Timoschenko, die relative Waffenruhe im Osten des Landes als Kniefall vor
       Moskau und kündigen eine Verfassungsbeschwerde an. Aktivisten der
       Maidan-Bewegung sehen die Werte verraten, für die sie protestiert haben;
       ihre militantesten Vertreter fragen sich, wofür sie fünf Monate lang
       gekämpft und Opfer gebracht haben. Dmytro Jarosch, der Führer des „Rechten
       Sektors", warnt Präsident Poroschenko, es könnte ihm ähnlich ergehen wie
       seinem Vorgänger Janukowitsch. Und unter den rechten Milizen im Osten
       wächst die Idee eines Marschs auf Kiew.
       
       ## Überlebenskampf in defekter Demokratie
       
       Kaum jemand stellte die näherliegende Frage, warum man nicht schon früher
       zu einem Kompromiss bereit war, etwa in Form des Fahrplans zu einer
       Verfassungsreform und Neuwahlen, den die Außenminister Frankreichs,
       Deutschlands und Polens im Februar unter Beteiligung der ukrainischen
       Opposition ausgehandelt hatten.
       
       Die Entzauberung der Maidan-Revolution schreitet schneller voran als die
       der Orangen Revolution von 2005. Beide teilen das eigentümliche Schicksal
       eines Ereignisses von globaler Bedeutung, das gleichwohl an den realen
       Machtverhältnissen und den politischen Institutionen der Ukraine genauso
       wenig geändert hat wie an den wirtschaftlichen Strukturen. In ihrem
       Zerfall, der bereits mit dem Amtsantritt Petro Poroschenkos einsetzte, wird
       die Maidan-Bewegung als das erkenntlich, was sie schon bei ihrer Entstehung
       im Spätherbst 2013 war: eine temporäre Koalition höchst unterschiedlich
       motivierter Protestgruppen.
       
       Der gemeinsame Gegner führte soziale Protestbewegungen, nationalistische
       Kampftrupps und um die Macht rivalisierende Eliten zusammen. Was in der
       westlichen Öffentlichkeit als Kampf europäischer Werte gegen einen
       wiederauferstandenen russischen Imperialismus porträtiert wurde, verdeckte
       in Wahrheit die höchst unterschiedlichen Interessen jeder dieser
       Gruppierungen.
       
       Die ursprünglichen Motive für den Protest der ukrainischen Bevölkerung
       gehen aus einer im Dezember 2013 veröffentlichten landesweiten [1][Umfrage
       der International Foundation for Electoral Systems] (Ifes) hervor. Demnach
       handelte es sich in erster Linie um einen Überlebenskampf in einer heillos
       defekten Demokratie. Als die brennendsten Probleme wurden Inflation, Armut
       und Arbeitslosigkeit genannt, gefolgt von Korruption und einem maroden
       Gesundheitswesen.
       
       ## Zwei Drittel misstrauten dem Präsidenten
       
       74 Prozent der Befragten hatten kein Vertrauen zu den politischen
       Institutionen, am wenigsten zu dem von Korruption durchsetzten Parlament
       und zur Regierung, letztlich also zur gesamten politischen Klasse. Zwei
       Drittel misstrauten dem noch amtierenden Präsidenten Wiktor Janukowitsch,
       aber ebenso Oppositionellen wie Julia Timoschenko und Arsenij Jazenjuk und
       vor allem Oleh Tjahnybok, dem Chef der nationalistischen Swoboda-Partei.
       
       Als zentrales Problem sahen die Befragten die Funktionsweise der
       ukrainischen Demokratie als solcher. In diesem Sinne trifft es zu, dass die
       Mehrheit der Maidan-Demonstranten auf einen radikalen Wandel aus war und
       sich nicht mit dem Rücktritt von Janukowitsch begnügte. Verstärkt und
       erweitert wurden diese Motive durch die Eskalation der Gewalt auf dem
       Maidan und die Repression des Regimes.
       
       Die von USAID finanzierte Studie zeigt aber auch, dass zu den Motiven, die
       die Kiewer Bevölkerung auf die Straße trieben, keinesfalls irgendwelche
       geopolitischen Strategien gehörten. Ende 2013 sahen lediglich 14 Prozent im
       Verhältnis zu Russland und nur 4 Prozent im möglichen Beitritt zur
       Eurasischen Union ein Problem. 34 Prozent bevorzugten engere
       Wirtschaftsbeziehungen mit Russland, 35 Prozent mit der EU, während 17
       Prozent hierin keinen Gegensatz erkannten.
       
       Die Initiative ging allerdings seit Februar auf andere Gruppierungen über:
       auf nationalistische Stoßtrupps, die den Rückzug von Janukowitsch
       erzwangen, und auf Mitglieder des Parlaments, die mit der Technik des
       Machterhalts per Fraktionswechsel seit jeher vertraut waren. Die aus dem
       alten Personal zusammengesetzte Übergangsregierung hielt sich an die
       bewährten Muster opportunistischer Regierungsumbildungen. Ein selbst
       ernannter Maidan-Rat, der sich aus Führern der Anti-Janukowitsch-Parteien
       rekrutierte, entschied über die Verteilung der Regierungsämter.
       
       ## Drei große Clans
       
       Die Kontinuität oligarchischer Macht wurde dann im Mai durch die Wahl eines
       neuen Präsidenten gesichert. Petro Poroschenko war der Kandidat des
       westlich orientierten Pintschuk-Clans, der seit einigen Jahren für die
       Aufnahme der Ukraine in EU und Nato plädiert. Der Öffentlichkeit hatte sich
       Poroschenko durch die Liveübertragung der Maidan-Proteste in seinem eigenen
       Sender empfohlen. Mit seinem Sieg war der rivalisierende Achmetow-Clan aus
       Donezk, der hinter der Partei der Regionen, also hinter Janukowitsch,
       stand, in die Defensive gedrängt.
       
       Diese oligarchischen Strukturen sorgen dafür, dass das Verhältnis zwischen
       nationalen Bewegungen, Parteien, Medien und politischer Macht von außen
       kaum zu durchschauen ist. Die dominierenden Clans haben sich im Übergang
       der Ukraine von einer Sowjetrepublik in die Unabhängigkeit herausgebildet.
       Die kommunistische Führung hat dabei das Konzept der staatlichen
       Souveränität von den westukrainischen Nationalisten übernommen - mit dem
       Ziel, sich aus der zerfallenden Sowjetunion herauszulösen und damit ihre
       Machtpositionen zu erhalten.
       
       Der letzte Vorsitzende des Ukrainischen Obersten Sowjets, Leonid
       Krawtschuk, vollbrachte das Kunststück, sich an die Spitze der zuvor
       unterdrückten Nationalbewegungen zu setzen, indem er Ukrainisch zur
       Staatssprache machte und die desaströse Wirtschaftslage dem Moskauer
       Zentrum zuschrieb. Und die Interessen der Fabrikdirektoren und Arbeiter in
       den östlichen Regionen wurden durch die Privatisierung ihrer Industrien in
       ukrainische Hände bedient.
       
       In den ersten fünf Jahren der Transformation ging die Hälfte der
       Unternehmen in privaten Besitz über. Die drei großen „Clans“ der 1990er
       Jahre bildeten die territoriale und sektorale Gliederung der ukrainischen
       Wirtschaft ab. Der Donezker Clan gruppierte sich um Rinat Achmetow, der die
       Schwer- und Metallindustrie dominierte; wichtige Verbündete waren der
       Industrieverband Donbass um Serhij Taruta, Witali Hajduk und die Gebrüder
       Klujew.
       
       ## Pintschuk-Clan unterstützt Klitschko
       
       Die Dnepropetrowsker Gruppe war am engsten mit der politischen Maschine von
       Leonid Kutschma, dem zweiten Präsidenten der Ukraine, verwoben. Wiktor
       Pintschuk, anfangs in der Metallindustrie engagiert, ist Kutschma familiär
       verbunden und stimmte seine Interessen mit der Finanzgruppe Privat von Ihor
       Kolomojskyj ab. Dieser Gruppe hatten sich Julia Timoschenko und Serhij
       Tihipko angeschlossen. Der Kiewer Clan als dritte Kraft profitierte von
       seinen direkten Verbindungen zur Präsidialverwaltung Kutschmas, sah jedoch
       seinen Einfluss unter den veränderten politischen Rahmenbedingungen
       zusehends schwinden.
       
       Am Ende von Kutschmas Amtszeit im Januar 2005 hatten sich die Clans mittels
       Übernahmen und Zusammenschlüssen von ihren jeweiligen Regionen emanzipiert
       und politische Schlüsselämter in Kiew erobert: die Leitung des
       Außenministeriums, des Energieministeriums, der Zentralbank, des Nationalen
       Sicherheits- und Verteidigungsrats sowie der Zollbehörde, aber auch den
       Vorsitz in wichtigen parlamentarischen Ausschüssen.
       
       Für die Massenloyalität sorgt in diesem oligarchischen System die seit Ende
       der 1990er Jahre zugelassene Konkurrenz von Parteien, über die verschiedene
       Kapitalgruppen ihre Interessen koordinierten. Die Öffentlichkeitsarbeit der
       Clans läuft über Fernsehstationen und Zeitungen, [2][die sie über ihre
       eigenen Mediengruppen kontrollieren]. Die Veränderungen der ukrainischen
       Politik seit der Jahrtausendwende gehen auf die wechselnden Koalitionen
       dieser Kapitalgruppen zurück, die wiederum Verschiebungen im Parteiensystem
       bewirken.
       
       Die von Timoschenko gegründete Vaterlandspartei konnte sich die
       Unterstützung des größten Autoproduzenten Tariel Vasadze sichern;
       Janukowitschs Partei Unsere Ukraine konnte auf Poroschenko, Taruta und
       Hajduk zählen. Angesichts dessen war kaum zu erwarten, dass der Sieg der
       Orangen Koalition von 2005 die Geschäftsgrundlage der Politik verändern
       würde. Stattdessen wurden in der Ära Timoschenko die Rivalitäten bei der
       Verteilung der Gewinne aus russischem Gasimporten in die Regierung selbst
       hineingetragen.
       
       ## Keine proeuropäische Politik
       
       Von einer proeuropäischen Politik der Orangen Koalition - im Gegensatz zu
       einer prorussischen Orientierung der vorangegangenen wie der folgenden
       Regierung unter Janukowitsch - kann also kaum die Rede sein. Denn auch die
       außenpolitischen Optionen waren stets von den Investitionsinteressen der
       Industriegruppen instruiert.
       
       Allerdings keineswegs nach dem schlichten Schema „Ost gegen West“. Die im
       Osten der Ukraine operierenden Unternehmen sind längst in der Schweiz,
       Österreich oder Luxemburg registriert. Achmetow besitzt Stahlwerke in
       Italien und Großbritannien. In geschäftlichen Angelegenheiten vertrauen
       diese Konzerne internationalen Unternehmensberatern und Rechtsanwälten,
       Interessenkonflikte werden vor Gerichten in London oder New York
       ausgetragen.
       
       Vor allem Pintschuk ist für einen raschen EU-Beitritt und sponsert den
       Ukrainischen Lunch beim Davoser Weltwirtschaftsforum. Umgekehrt setzten
       Poroschenko und Vasadze noch vor wenigen Jahren auf eine
       liberalisierungskritische Linie, um ihre Produkte weiterhin durch
       Einfuhrzölle gegen europäische Konkurrenz abzuschirmen.
       
       Angesichts des vorherrschenden Opportunismus wäre es also trügerisch, die
       parteipolitische Szenerie der Ukraine in starre innen- und geopolitische
       Lager einzuteilen. Der „westliche“ Präsident Juschtschenko hatte 2005 kein
       Problem, Janukowitsch den Weg zur Rückkehr an die Macht zu ebnen, auf
       Kosten Timoschenkos. Und Poroschenko war Gründungsmitglied der Partei der
       Regionen und 2001 deren stellvertretender Vorsitzender. Als er jetzt im Mai
       zum Präsidenten gewählt wurde, meinte er, mit der neu gebildeten Regierung
       könne er gut zusammenarbeiten, weil er das Personal aus seiner früheren
       Arbeit bestens kenne.
       
       ## Die Rhetorik des Kalten Krieges
       
       Noch 2012 fungierte Poroschenko als Wirtschaftsminister unter Janukowitsch.
       Eine seiner ersten Amtshandlungen als Präsident bestand darin, die
       Unternehmer-Politiker Taruta und Kolomojskij zu Gouverneuren von Donezk
       respektive Dnjepropetrowsk zu ernennen. Aus der Clan-Perspektive hat
       Poroschenkos Wahl den weiteren Vorteil, Timoschenko als die große
       „westorientierte“ Rivalin des Pintschuk-Clans vorerst von der Macht
       fernzuhalten.
       
       In der westlichen Wahrnehmung wurden diese Details der innerukrainischen
       Machtspiele durch die Rhetorik eines neuen Kalten Kriegs zugedeckt. Anders
       in der Ukraine selbst, wo die Ernüchterung bald einsetzte. Im Sommer 2014
       waren auf dem Maidan - als letzte Zeichen des politischen Protests - nur
       noch die Zeltlager übrig, die sich bis zum Chreschtschatyk-Boulevard
       erstreckten. Die Symbole der Militanz - Militärausrüstung, Barrikaden,
       Schutzschilde, Steinhaufen und Reifenstapel - sind zu Stadtmöbeln geworden.
       
       Ähnlich sieht es in den westlicheren Städten aus, wie etwa in Lwiw oder
       Iwano-Frankiwsk: Ukrainische Fähnchen und die schwarz-roten Embleme der
       westukrainischen Nationalisten, Anti-Putin-T-Shirts und Bandera-Plaketten
       werden als Souvenirs feilgeboten, finden allerdings mangels Touristen nur
       geringen Absatz.
       
       Die gewaltsame Räumung der Kiewer Protestzone Anfang August erfolgte nicht,
       weil die Forderungen des Maidan nach einem Ende der Korruption und eines
       von Oligarchen vereinnahmten Staats erfüllt worden wären. Sie sollte
       vielmehr die Kontinuität des politischen Geschäfts demonstrieren und
       gewährleisten. Niemand weiß dies besser als Witali Klitschko, heute
       Bürgermeister von Kiew.
       
       ## Von oben finanziert
       
       Die erfolgreiche Wahlkampagne Klitschkos wurde vom Pintschuk-Clan
       organisiert. Noch im April hatte Klitschko auf die Besonderheiten der
       ukrainischen Demokratie verwiesen: Parteien werden von oben her finanziert,
       ihre Finanziers sichern sich die parlamentarische Repräsentation ihrer
       Interessen durch Vertraute, die sie auf den Parteilisten platzieren. Sobald
       die Alimentierung von oben ausbleibt, fällt eine Partei in sich zusammen.
       
       Die Abgeordneten können auch in Abwesenheit parlamentarisch abstimmen,
       damit politische Verpflichtungen nicht ihre laufenden Geschäfte behindern.
       Achmetow, die Nummer eins der ukrainischen Oligarchen, hatte nach seiner
       Wahl über die Liste der Partei der Regionen 2006 das Parlamentsgebäude kaum
       betreten.
       
       Die Übersetzung wirtschaftlicher Interessen in parlamentarische Stimmen
       sorgt zugleich für einen gewissen „Pluralismus“: Um auf Nummer sicher zu
       gehen, unterstützte Pintschuk Abgeordnete von gleich drei Parteien. Den
       Abgeordneten wiederum verschafft dies eine gewisse Autonomie, weil sie je
       nach politischer Wetterlage ihre Positionen - und ihre Einkommen - durch
       Partei- oder Fraktionswechsel sichern können. So haben nach der Flucht von
       Janukowitsch im Februar 2014 nicht weniger als 72 Abgeordnete dessen Partei
       der Regionen verlassen.
       
       Über die Eigenheiten der ukrainischen Demokratie von oben hatte die
       Bevölkerung spätestens nach dem Verpuffen der Orangen Revolution keinerlei
       Illusionen. Nur wenige Monate nach der Wahl Juschtschenkos zum Präsidenten
       Anfang 2005 glaubte nicht einmal ein Viertel der Ukrainer, dass es mehr
       Demokratie im Lande gebe. Und 60 Prozent der Befragten sahen das Land auf
       einem falschen Weg. Nur 14 Prozent glaubten an einen Rückgang der
       Korruption.
       
       ## „Anti-Terror-Operation“
       
       Die folgenreichste Aktion der neuen Regierung war die
       „Anti-Terror-Operation“ im Osten, in den Medien „ATO“ genannt (wobei sich
       viele einen anderen Anfangsbuchstaben hinzudenken). Es handelt sich um eine
       Art Kriegserklärung, die sich zu sehr an der Feindsemantik von US-Beratern
       orientierte, als dass sie in der Bevölkerung große Begeisterung ausgelöst
       hätte. Und auch die Armee war in sich zu gespalten, um in einem internen
       Krieg voll einsatzfähig zu sein.
       
       Das veranlasste die Regierung, über die Wiedereinführung der Wehrpflicht
       hinaus eine Nationalgarde aufzubauen, die sich auf Freiwilligenverbände
       stützt. Die Kämpfe in den östlichen Regionen werden also von Verbänden ohne
       klare Kommandostruktur geführt, deren Vielfalt kaum überschaubar ist. Die
       Tatsache, dass die Kampfgruppen in den Regionen um Mariupol, Lugansk oder
       Donezk von den Oligarchen Kolomoiskij, Taruta und anderen finanziert
       werden, zeigt dabei, wie weit die Usurpation von Staatsfunktionen durch
       oligarchische Gruppen gediehen ist.
       
       Die nationalistischen Stoßtrupps des Maidan interpretieren ihren
       „Anti-Terror-Einsatz“ als „Einladung“ zum Kampf gegen einen prorussischen
       Separatismus. Allerdings muss man bezweifeln, dass viele Ukrainer von einem
       aufgeheizten Nationalismus beseelt sind. In Kiew sah man im August nur
       wenige Nationalflaggen. Und selbst in der westlichen Ukraine will der
       nationalistische Funke kaum zünden. In den Straßen von Iwano-Frankusk oder
       Lwiw machen die Bürger einen großen Bogen um die Stände von Gruppen, die
       zum Eintritt in die Nationalgarde oder auch nur zu Spenden auffordern.
       
       Die für die Medien inszenierte Zerstörung von Symbolen aus der Sowjetzeit
       war das Werk kleiner rechtsradikaler Minderheiten. In Kiew ist von der
       Leninstatue an der Mündung des Taras-Schewtschenko-Boulevards zwar nur der
       Sockel geblieben, aber am Eingang zur Aula der gleichnamigen Universität
       prangen nach wie vor die Embleme der Sowjetischen Akademie der
       Wissenschaften.
       
       ## Salonfähige Nationalisten
       
       Im Museum zum Großen Vaterländischen Krieg führt man die frisch
       uniformierten Rekruten noch immer durch die gemeinsame Geschichte des
       sowjetischen Siegs über Nazideutschland. Auch in den Museen Lwiws ist von
       einem antirussischen Nationalismus noch nichts zu sehen. Das Personal des
       Lwiwer Stadtmuseums, das unter anderem alte französische Landkarten von
       einer bis in den Kuban hineinreichenden Großukraine präsentiert, drückt
       sich sehr zurückhaltend aus, wenn man nach Symon Petljura, dem
       antisowjetischen Freiheitshelden der frühen 1920er Jahre, fragt.
       
       Man scheint sich darüber im Klaren, dass der ukrainische Nationalismus
       selbst in der heroischen Phase nach dem Ersten Weltkrieg ein
       Minderheitenprojekt war. Die Dominanz nationaler Symbole in der aktuellen
       Politik hat andere Gründe. Seit der Unabhängigkeit wurden nationalistisch
       aufbereitete Themen immer wieder zur politischen Mobilisierung eingesetzt,
       stießen allerdings im Osten kaum auf Resonanz.
       
       In den westlichen Landesteilen dagegen waren nationalistische und
       neofaschistische Kampfgruppen schon immer aktiv. Aber in der Öffentlichkeit
       und bei Wahlen spielten sie eine marginale Rolle. Die radikale Rechte
       überzeugte selbst im Kerngebiet des westukrainischen Nationalismus nur ein
       paar Prozent der Wähler und verunsicherte die Öffentlichkeit von Lwiw
       allenfalls durch Fackelmärsche. Und die paramilitärische
       Studentenvereinigung in Lwiw wurde wegen rassistischer Umtriebe aus dem
       Ukrainischen Studentenverband ausgeschlossen.
       
       Der Aufstieg der Neofaschisten in der ukrainischen Politik geschah erst,
       als Juschtschenko den autoritären Führer der Sozial-Nationalen Partei Oleh
       Tjahnybok in seine Wahlallianz Unsere Ukraine aufnahm und ihm damit
       parlamentarische Respektabilität verschaffte. Seitdem versuchen Tjahnybok
       und seine Gefolgschaft, jetzt im weniger verdächtigen Rahmen der
       Swoboda-Partei, die Bevölkerung durch Kampagnen gegen Korruption und gegen
       die Oligarchen anzusprechen - ebenfalls ohne Erfolg. Die rechte Swoboda
       erreichte bei den Präsidentschaftswahlen im Mai gerade 1,1 Prozent, der
       neofaschistische Rechte Sektor 0,7 Prozent.
       
       ## Rechte Proeuropäer
       
       Dieses schwache Ergebnis darf allerdings nicht über die Funktionalisierung
       der neofaschistischen Subkulturen durch die vermeintlich prowestlichen
       Parteien hinwegtäuschen. Schon Juschtschenko würdigte die faschistischen
       Kampforganisationen der 1930er und 1940er Jahre als nationalen Widerstand.
       Deren Kommandeure Roman Schuschkewitsch und Stepan Bandera wurden trotz
       aller Proteste des polnischen, russischen und auch des Europäischen
       Parlaments offiziell zu „Helden der Ukraine“ ernannt. Ein gigantisches
       Porträt Banderas war noch im August dieses Jahres auf dem Maidan zu sehen.
       
       Auch ohne Wahlerfolge haben rechtsradikale Demagogen ihre Position im
       Zentrum des Staats erstaunlich konsolidiert. Der Rechte Sektor des Maidan
       sieht heute seine Stoßtrupps, jetzt in reguläre Einheiten der Nationalgarde
       umgewandelt, zur Aufstandsbekämpfung im Osten eingesetzt. Und indem
       Swoboda-Chef Tjahnybok sich in der Maidan-Koalition profilieren konnte,
       vermochte er sich den Nimbus eines international respektablen
       „Proeuropäers“ zuzulegen. Noch vor einigen Jahren konnte man die
       ukrainischen Rechten als relativ ungefährlich einschätzen, da sie im
       Gegensatz zu den Politikern der großen Parteien über keine finanziellen
       Mittel verfügten.
       
       Das hat sich geändert, weil inzwischen die Oligarchen Kolomojskij und
       Taruta mehrere Bataillone der Nationalgarde finanzieren, die sich
       hauptsächlich aus westukrainischen „Patrioten“ zusammensetzen. Doch dieser
       Patriotismus der rechten Art spricht die meisten Ukrainer trotz pausenloser
       Berichterstattung von den Fronten des Bürgerkriegs keineswegs an. Weitaus
       mehr Beachtung finden die steigenden Preise und die drohenden
       Sparprogramme. Die Kosten den Bürgerkriegs bekam die Bevölkerung zunächst
       nur in Form zusätzlicher Steuern zu spüren.
       
       Seit Juli wird zusätzlich zu erhöhten Verbrauchsabgaben eine explizite
       Kriegssteuer auf alle Einkommen erhoben. Eine durch IWF-Auflagen erzwungene
       Steuerreform soll künftig auch Monatseinkommen von weniger als 1 700 Dollar
       stärker belasten. Allerdings spielt diese Schwelle zum höchsten Steuersatz
       bei einem offiziellen Durchschnittseinkommen von monatlich 225 Euro für die
       meisten Ukrainer ohnehin keine Rolle.
       
       ## Oligarchen als Realpolitiker
       
       Die seit Monaten angekündigten harten Reformen treffen eine Bevölkerung,
       die im täglichen Leben ohnehin improvisieren muss, um die dürftigen
       formellen Einkommen durch alle möglichen informellen Aktivitäten
       aufzubessern. Nach den Erfahrungen mit früheren IWF-Programmen wissen die
       Leute sehr wohl, was in den kommenden Monaten zu erwarten ist: steigende
       Preise ohne Wachstum.
       
       Das Versprechen Poroscherenkos, das Bruttoinlandsprodukt (BIP) bis 2020 zu
       verdoppeln, wird sich demnächst an dem vom IWF prognostizierten
       BIP-Einbruch von 10 Prozent messen lassen müssen. Genauso unglaubwürdig ist
       die Ankündigung, die Militärausgaben auf 5 Prozent des Sozialprodukts zu
       steigern und die Rüstungsindustrie zum Motor eines wirtschaftlichen
       Aufschwungs zu machen.
       
       Es ist nicht das erste Mal, dass ukrainische Politiker interne Probleme mit
       Verweis auf den äußeren Gegner in Moskau erklären wollen. Die autoritäre
       Formierung der Politik in den 1990er Jahren wurde damit gerechtfertigt,
       dass die Festigung des ukrainischen Staats wichtiger sei als die
       Demokratie. Die Oligarchisierung der Wirtschaft wurde als notwendiger
       Aufbau einer nationalen Bourgeoisie dargestellt.
       
       Und wenn sich jetzt die „Anti-Terror-Aktion“ - angeblich eine Sache von
       Stunden - über Monate hinzieht, wird das eingesickerten russischen Truppen
       zugeschrieben. Dieser Erklärung liegt freilich die fatale Fehleinschätzung
       zugrunde, dass die regionale Polarisierung des Landes auf militärischem Weg
       zu überwinden sei. Dabei wird vergessen, dass die Anläufe zu einer
       „Ukrainisierung der Ukraine“, die 1993/94 und nach 2004 unternommen wurden,
       im Donbass wie auf der Krim sezessionistische Reaktionen ausgelöst hatten,
       die nur durch Konzessionen entschärft werden konnten.
       
       ## Lösung Föderalismus
       
       Mit dem Vorschlag einer Föderalisierung der Ukraine scheint sich diese
       Einsicht langsam durchzusetzen. Die Besinnung auf eine politische
       Konfliktlösung geht bezeichnenderweise wiederum von oligarchischen Kreisen
       aus. Kurz bevor Poroschenko seinen Friedensplan der ukrainischen
       Öffentlichkeit vorstellte, hatte Pintschuk am 14. September beim Davoser
       Weltwirtschaftsforum in Genf zum Ukrainischen Lunch geladen. Das Ergebnis
       war die gemeinsame Erklärung einer paritätisch besetzten Gruppe von
       Vertretern internationaler Konzerne aus der Ukraine, Deutschland, Russland
       und den USA.
       
       Darin wird die Dezentralisierung der Ukraine vorgeschlagen, ferner
       Minderheitenschutz und Sprachenrechte für den Osten und eine
       bündnispolitische Neutralität nach Schweizer oder finnischem Muster. Dazu
       die Empfehlung, das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union so zu
       gestalten, dass es mit Handelsbeziehungen zu Russland und später auch zur
       Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft kompatibel ist.
       
       Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen am 26. Oktober können die Ukrainer zu
       Poroschenkos Vorschlägen Stellung nehmen. Nach der jüngsten Umfrage des
       Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie findet Poroschenkos
       Initiative mehr Zuspruch als die militanteren Positionen der Swoboda, der
       Radikalen Partei und von Julia Timoschenko.
       
       Ein Vertrauensbeweis für den Präsidenten ist das allerdings nur angesichts
       schlechterer Alternativen. Ein realistisches Bild der Lage dürfte die
       letzte Erhebung des Zentrums für Sozial- und Marktforschung (Socis) in Kiew
       geben: 60 Prozent der Befragten stellten keine Verbesserung ihrer
       Lebenssituation fest, ein Viertel konstatierte eine Zunahme der Korruption.
       
       Wie die Korruption im Alltag aussieht, konnte ich Ende Juli an der
       Nationalen Iwan-Franko-Universität Lwiw erleben. Bei ihrer Anmeldung zur
       Immatrikulation wurden zahlreiche Studenten von ihren Eltern begleitet.
       Manche von ihnen wollten sich vor allem vergewissern, dass sie die unter
       der Hand zu entrichtende Aufnahmegebühr in Höhe mehrerer Monatsgehälter gut
       investiert haben. Wenn sie erfahren, dass eine Aufbesserung von Noten am
       Semesterende billiger zu haben ist, werden sie womöglich sogar dankbar
       sein.
       
       Auf den Straßen gehört die Korruption, wenn auch in kleinerem Maßstab, zum
       täglichen Leben. Als ein Kiewer Obsthändler nahe der
       Taras-Schewschtschenko-Universität Polizisten sieht, die mit einer
       Kontrolle am Nachbarstand offenbar ihr Gehalt aufbessern, meint er nur: „So
       leben wir.“
       
       31 Oct 2014
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://www.ifes.org/Content/Publications/Press-Release/2013/2013-Public-Opinion-Survey-in-Ukraine.aspx
 (DIR) [2] http://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=1&ved=0CCIQFjAA&url=http%3A%2F%2Fwww.osw.waw.pl%2Fsites%2Fdefault%2Ffiles%2Fprace_42_en.pdf&ei=6BxRVMSfC4_iaLP9gPAG&usg=AFQjCNGqtCmmtk-soTPwLBv4wEzh_PAj0g&bvm=bv.78597519,d.d2s&cad=rja
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Klaus Müller
       
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