# taz.de -- Das Sterben der Nachtzüge: Leise rattern die Schienen
       
       > Die Bahn hat im Dezember einige Nachtzüge gestrichen. Unser Autor war mal
       > Schlafwagenschaffner. Zeit, sich zu erinnern.
       
 (IMG) Bild: Marilyn Monroe, als der Nachtzug noch en vogue war. In: „Some Like It Hot“ von 1959.
       
       Gehöfte und ein paar wenige Wohnhäuser säumten die laternenlose Straße,
       aber nun bogen wir auf einen Schotterweg ein, uneben und in doppelter
       Rinnung merklich von schweren Traktoren ausgefahren. Der Weg führte an
       einem Grundstück entlang, dessen Hintergarten keinen Unterschied mehr
       zwischen sich und dem Waldrand machte. Als es schließlich steil bergan und
       mitten hinein in den Forst führte, ging dem Weg der Schotter aus. Das
       regnerische Adventswetter hatte ihn aufgeweicht. Deshalb und der
       vollkommenen Dunkelheit wegen wurden unsere Schritte unsicher. Der
       spannendste Teil der Nachtwanderung lag vor uns.
       
       Heruntergehend vom Kloster Scheyern hatten wir uns schon unterhalten. Meine
       gruseligen Geschichten waren alle erzählt, doch den Jungen ließ der dunkle
       Wald schaudern und er wünschte, die Unterhaltung über geeignete Themen
       wieder aufzunehmen. „Wenn es auch nicht gruselig war, was hast du ansonsten
       Schlimmes erlebt, als du jung warst?“
       
       Viel konnte ich da nicht bieten. War mir ja zeitlebens gut ergangen.
       
       „Am schlimmsten war es, als ich damals gleich nach dem Abitur obdachlos
       war. In Paris.“
       
       „Richtig obdachlos?“
       
       „Ja. Auf der Straße.“
       
       „Hast du unter der Brücke geschlafen?“ Die Stimme meines Sohnes ließ
       erkennen, dass er daran durchaus Anziehendes fand.
       
       „Nein, unter der Brücke nicht. Erst habe ich bei einem Bekannten auf der
       Couch geschlafen und mich nur tagsüber in der Stadt herumgetrieben. Aber
       dann wollte er nicht mehr, dass ich bei ihm übernachte. Da musste ich
       draußen bleiben.“ – „Hast du auf der Parkbank geschlafen?“
       
       „Genau. Zeitungen als Matratze. Zeitungen als Bettdecke.“
       
       ## Ein Ticket für den Schlafwagen nach München
       
       „Warum bist du nicht heimgefahren?“ – „Ich wollte Oma und Opa nicht
       eingestehen, dass mein Paris-Abenteuer gescheitert war. Ich dachte, dass
       sich vielleicht was ergibt und ich doch bleiben könnte.“
       
       „Ein Job?“
       
       „Dachte ich. Irgendwas.“
       
       „Und dann?“
       
       „Nach einer Woche auf der Parkbank habe ich mir mit meinen letzten Francs
       ein Ticket für den Schlafwagen nach München gekauft.“
       
       „War der nicht teuer?“
       
       „Ja schon. Aber weißt du, es war Mitte November, kalt und regnerisch. Als
       ich mir eines Abends wieder was suchen musste, wo ich schlafen könnte, habe
       ich es auf einmal nicht mehr ausgehalten. Auf der Stelle bin ich mit meinem
       Koffer zum Gare de l’Est gefahren, das ist der Ostbahnhof von Paris, und
       habe nach einem Zug Richtung München geschaut. Es waren aber schon alle
       weg, nur noch der Nachtzug war da. Klar, ich hätte auch einen Sitzplatz
       nehmen können, aber ich dachte mir: Wenn ich schon pleite bin, dann kann
       ich das auch im Schlafwagen sein.“
       
       Wir erreichten eine Gabelung und entschieden uns für links. Bald aber
       verschwand hier der Weg und wir gingen mitten durchs Holz. Gelegentlich
       streiften uns die Zweige kleiner Fichten. Doch zurückkehren und den anderen
       Weg nehmen wollten wir nicht. Für einen Moment dachte ich darüber nach, ob
       der Verzicht auf die Mitnahme einer Taschenlampe ein Fehler gewesen war.
       Der Junge fürchtete sich.
       
       „Was geschah dann im Schlafwagen?“
       
       „Es war ganz herrlich. Der Schaffner war sehr nett und gab mir ein eigenes
       Abteil, obwohl ich nur zweiter Klasse hatte. Du kannst dir nicht
       vorstellen, wie sich das Bett angefühlt hat. Die frischen Laken, das
       Kopfkissen. Das herrliche leise Rattern der Schienen. Am nächsten Morgen in
       München, zum ersten Mal wieder richtig ausgeschlafen, war ich ein anderer
       Mensch.“
       
       „Bist du sicher, dass wir uns nicht verlaufen haben?“
       
       „Ja, keine Sorge. Hier noch weiter den Berg rauf und dann müssten wir beim
       Höflmair rauskommen. Pass nur auf, wo du hintrittst.“
       
       „Was war dann?“
       
       ## Conducteur exceptionell, Sektion München
       
       „Als mir der Schaffner, ein Franzose, nicht viel älter als ich, am Morgen
       den Kaffee brachte, kamen wir ins Gespräch. Ich erzählte, dass ich einen
       Job bräuchte, und er gab mir den Tipp, mich bei der Schlafwagengesellschaft
       zu bewerben. So kam das. Ich zog die Uniform der Wagons-Lits an, der
       Internationalen Schlafwagen-Gesellschaft. Conducteur exceptionell, Sektion
       München.“
       
       „Und wo bist du gefahren?“
       
       „Wir in München bedienten regulär drei Züge, den Neapolitaner, den
       Florenzer und den nach Oostende. Aber man kam zwischendurch überall mal
       hin, auch nach Paris ein paar Mal. Die Schlafwagen waren die Flaggschiffe
       der Nachtzüge, und die gab es zwischen allen großen Städten in Europa.
       Hunderte von Routen. Und manche echt alt. Oostende–Wien zum Beispiel, der
       fuhr seit 1894, jeden Abend. Es gab manchmal sogar Speisewagen. Wenn die
       Leute schliefen, konnte man sich dort mit den anderen Schaffnern treffen.
       Die tollsten Leute aus allen möglichen Ländern habe ich da kennengelernt.“
       
       „Sind auch schlimme Sachen passiert?“
       
       „Es gab immer wieder Eisenbahnräuber. Zwischen Verona und Rom musste man
       aufpassen, da waren Trickbetrüger unterwegs.“
       
       „Haben die dich ausgeraubt?“
       
       „Glücklicherweise nie.“
       
       ## Der sehnsüchtige Traum von einem freien Kontinent
       
       Während wir uns die letzten Meter der Steigung hinaufkämpften, ließ ich die
       Welt der Nachtzüge, wie sie Europa nach dem Fall des Eisernen Vorhangs
       durchkreuzt hatten, wiedererstehen, eine imaginäre Merklin-Anlage, auf der
       alles nachgebaut war. Die großen Bahnhöfe, an denen man voller Euphorie
       ankam. Die kleinen Pensionen, in denen man tagsüber schlief. Das
       unbeschreibliche Gefühl, der Letzte an einem mitternächtlichen Gleis zu
       sein, das Versprechen unendlich zur Verfügung stehender Zeit und der
       sehnsüchtige Traum von einem freien Kontinent, der wie an Perlschnüren
       gereiht seine schönsten Städte darbot, Brüssel-Midi um kurz nach fünf,
       Bologna-Centrale um sechs, Krakau-Glowny um halb sieben. Gaben der
       Morgenröte. Europa.
       
       „Toll, wenn man nachts nicht schläft, sondern Zug fährt. Meinst du, ich
       kann später auch Schlafwagenschaffner werden?“
       
       „Ich fürchte, daraus wird nichts. Die Schlafwagen sterben schon langsam
       aus.“
       
       „Wieso?“
       
       „Früher waren Nachtzüge Ehrensache. Heute müssen die Eisenbahnen immerzu
       sparen. Zu wenige Reisende. Die Leute fliegen. Scheint ihnen schneller und
       billiger.“
       
       Wir erreichten endlich das kleine Tal des vermuteten Einödhofs, und da wir
       nun auf einem uns bekannten Pfad zwischen Wald und Wiesen liefen, der
       Sternenhimmel zu sehen und es auch gar nicht mehr weit bis zu unserem
       Wohnviertel war, atmeten wir beide leichter.
       
       Mein Sohn begann von dem Zeltlager-Erlebnis vor drei Jahren zu berichten,
       das er auf das Einwirken Außerirdischer zurückführt. Mir fiel auf, dass ihm
       die Geschichte jedes Mal gruseliger gelang. Während ich mit Freude den
       Wendungen der sagenhaften Untertasse über dem augusteischen Badeweiher
       folgte, fragte ich mich, ob mein Sohn sich eines fernen Tages wohl auch
       einmal als ein Veteran wiederfinden würde und ob der Wald dann noch da
       wäre, um ihn des Nachts zu durchqueren und sich den Schauder mit alten
       Geschichten zu vertreiben.
       
       27 Dec 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Steffen Kopetzky
       
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       dagegen.