# taz.de -- Debatte Politik in der Schweiz: Für das souveräne Volk
       
       > Die direkte Demokratie ist ein gutes Korrektiv – gegen die eigenen
       > reaktionären Entscheidungen und den Regierungswahn der Politik.
       
 (IMG) Bild: Ein Aufruf zur Teilnahme am Referendum über die Einwanderungspolitik.
       
       Am 9. Februar 2014 stimmte eine Mehrheit von 50,2 Prozent der Schweizer für
       die „Beschränkung der Masseneinwanderung“. Zehn Monate später lehnten drei
       Viertel der Schweizer eine radikalisierte Initiative zur Einwanderung ab.
       Was sagen die beiden Ergebnisse über das Verfahren der direkten Demokratie
       aus?
       
       Begünstigen diese Verfahren Bauchentscheidungen – wie sie sogenannten
       Wutbürgern zugeschrieben werden – oder sogar „Kopf ab“-Parolen, wie jene
       meinen, denen zufolge eine direkte Demokratie in Deutschland längst für die
       Wiedereinführung der Todesstrafe oder ein Burka-Verbot gesorgt hätte?
       
       Das System der direkten Demokratie trifft außerhalb der Schweiz oft auf
       Vorbehalte, Misstrauen und Argwohn oder wird grundsätzlich falsch
       eingeschätzt. Gerade an den beiden „Initiativen“, also direkten
       Volksentscheiden, zur Einwanderung lassen sich einige Bedenken widerlegen.
       Die erste Initiative, die Zustimmung fand, forderte pauschal, die
       Einwanderung zu beschränken.
       
       Die zweite, abgelehnte Initiative wollte die Einwanderung auf jährlich 0,2
       Prozent der Gesamtbevölkerung begrenzen, also auf rund 17.000 Personen
       (derzeit sind es rund fünfmal so viele). Diesem rabiat fremdenfeindlichen,
       chauvinistischen und ökonomisch selbstmörderischen Vorhaben zeigten drei
       Viertel der Schweizer, die sicher nicht alle über Nacht zu
       Ausländerfreunden und Fans von Europa geworden sind, die rote Karte.
       
       ## Fähigkeit zur Selbstkorrektur
       
       Das belegt, dass direkte Demokratie nicht auf emotionsgesteuerten
       Volkslaunen beruht, sondern der Souverän, das Volk, es versteht, rational
       abzuwägen, was sinnvoll, klug, machbar ist, wohlerwogenen Interessen
       entspricht – und was nicht. Vor allem aber beweist das System seine
       Fähigkeit zur Selbstkorrektur. Der Zustimmung zu einem unausgegorenen
       Konzept im Februar folgte die klare Ablehnung einer in ihren politisch und
       ökonomisch fatalen Konsequenzen durchschaubaren Vorlage im November.
       
       In der deutschen parlamentarischen Demokratie würde beispielsweise eine
       Korrektur der von der Großen Koalition jüngst beschlossenen Prämie für
       Eltern, die ihre Kinder nicht in die Vorschule und in den Kindergarten
       schicken, der sogenannten Herdprämie also, mindestens eine
       Legislaturperiode dauern. Parlamentarisch gestützte Mehrheiten folgen im
       Gegensatz zu Volksentscheiden oft nur der kurzatmigen Logik der
       Machterhaltung einer Regierung beziehungsweise Koalition.
       
       Blindes Vertrauen auf die höhere Vernunft von Volksentscheiden wäre
       trotzdem fatal. Der Vorteil von Volksentscheiden besteht nur, solange eine
       mediale Vielfalt und Vielstimmigkeit herrscht, die eine breite Diskussion
       ermöglicht. In Gesellschaften mit postdemokratisch-neoliberal
       homogenisierten Medienstrukturen sind Volksentscheide und Wahlen nur noch
       fauler Zauber, mit dem die Einsargung der Demokratie kaschiert wird.
       
       ## Altes Kampfinstrument
       
       Einige Grundzüge des Systems der direkten Demokratie in der Schweiz
       erklären sich aus seiner Entstehungsgeschichte. Der Bundesstaat von 1848
       beruhte nicht auf der direkten Demokratie, sondern auf einem
       Honoratioren-Liberalismus von notdürftig demokratisch legitimierten
       Oligarchen, die die konservativen Verlierer des kurzen Bürgerkriegs von
       1847 ebenso von der Macht fernhielten wie das Volk – die städtischen
       Mittel- und Unterschichten.
       
       Für die liberalen Oligarchen und ihr Sprachrohr, die Neue Zürcher Zeitung,
       waren Volksentscheide ein „Kampfinstrument der Sozialisten“, mit dem „das
       Volk in Aufregung“ versetzt wurde. Erst 1891 gelangte die Volksinitiative,
       der Kern der direkten Demokratie, in das politische System.
       
       Die erste Volksinitiative galt dem Schächtverbot, das dann in die
       Verfassung einging, wie etwas über hundert Jahre später auch das
       „Minarettverbot“, welches die Partei des Rechtspopulisten Christoph Blocher
       lanciert hatte. Juden- bzw. Ausländerfeindlichkeit stehen dem
       Volksentscheid also von Anbeginn auf die Stirn geschrieben.
       
       Die Vermutung, Volksentscheide begünstigten per se rechtspopulistische und
       reaktionäre Vorhaben, ist trotzdem falsch. Sie blieben ebenso chancenlos
       wie dezidiert linke. Es liegt an einem Strukturfehler der direkten
       Demokratie in der Schweiz, wenn Initiativen von Extremisten überhaupt zur
       Abstimmung kommen: In diesem System hat das Volk das letzte Wort, d. h.,
       eine Letztinstanz wie das deutsche Bundesverfassungsgericht gibt es nicht.
       Initiativen unterliegen nur einer formaljuristischen Prüfung auf die
       „Einheit der Rechtsmaterie“.
       
       ## Bundesverfassungsgericht nötig
       
       Man kann also nicht zugleich die Einführung eines Mindestlohns und des
       Ausländerwahlrechts fordern. Eine inhaltliche Überprüfung der
       Verfassungsmäßigkeit und der Vereinbarkeit mit dem Völkerrecht findet nicht
       statt. So konnten Volksentscheide zur Abstimmung kommen wie jener, der ein
       Bauverbot für Minarette verlangte, oder jener, der „kriminelle Ausländer“
       abzuschieben forderte. Eine verfassungsrechtliche Überprüfung hätte beide
       für grundrechtswidrig erklärt.
       
       Dieses Defizit führt zur Paradoxie, dass das Schweizer Volk mit
       Mehrheitsentscheid Normen absegnen kann, die der Verfassung widersprechen
       und/oder völkerrechtswidrig sind. Vor dem Menschenrechtsgerichtshof in
       Straßburg verlor die Schweiz seit 1974 deshalb 93 Prozesse, weil sich
       klagende Bürger durch Volksentscheide in ihren Grundrechten verletzt
       fühlten. Das System der direkten Demokratie ist insofern
       revisionsbedürftig, als es der Ergänzung durch ein Bundesverfassungsgericht
       bedarf.
       
       Die direkte Demokratie ist konservativ. Volksinitiativen sind nur selten
       erfolgreich, wirken also wie Demokratisierungsbremsen – die Frauen mussten
       etwa 70 Jahre lang warten, bis sie politische Gleichberechtigung erlangten.
       Das andere Instrument der direkten Demokratie, das Referendum gegen
       Parlaments- und Regierungsentscheide, wirkt dagegen der Tendenz nach
       demokratisierend, da das Volk hiermit den Regulierungswahn der Politik
       stoppen kann.
       
       Aus Respekt vor der „Volkswaffe“ Referendum wird in der direkten Demokratie
       weniger, langsamer und vorsichtiger regiert, und das ist à la longue eher
       ein Vor- als ein Nachteil.
       
       30 Dec 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Rudolf Walther
       
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