# taz.de -- Die Wahrheit: Wie leben wir 2015?
       
       > Zukunftsmusik: Fliegende Achterbahnen kommen nicht vor 2016, dafür aber
       > bewegungstolerante Fußschutzapplikationen.
       
 (IMG) Bild: Für keramikbasierte Dehydrierung wird selbst im Jahr 2015 nur manchmal ein Helm benötigt.
       
       August 2015 an einem ganz gewöhnlichen Mittwochmorgen: Subjekt Nr.
       122000129, Arbeitgeber und Freunden bekannt als Sandrine Freitag (Nummer
       geändert), befindet sich in einem minimalbewussten Regenerationsmodus auf
       einer speziell dafür gefertigten wärmerückstrahlenden Liegevorrichtung. Um
       Punkt 6.30 Uhr gibt, wie von Geisterhand betätigt, eine kreisrunde
       Apparatur neben ihr ein schrilles Geräusch von sich. Dieses
       zahnradprogrammierte Signal soll Sandrine gemahnen, ihren Körper
       hochzufahren und die sogenannte Rest-Area zu verlassen. Nach anfänglicher
       Reglosigkeit beginnt Sandrine zu zucken, ihr Puls schnellt in die Höhe. Mit
       einem simplen Schnipp am Gehäuse lässt sie das kleine Hirnaktivierungstool
       verstummen und richtet sich auf.
       
       Obwohl sie an diesem Tag noch keinen einzigen Schritt gemacht hat, duftet
       es aus der Küche bereits nach Kaffee und frisch geschmierten Scharnieren –
       Sandrines Reproduktionspartner Renato war vor ihr wach, hat Frühstück
       gemacht und die quietschende Tür geölt. Sandrine und Renato registrieren
       einander und quittieren ihre Wahrnehmung mit einer eigens für diesen Zweck
       bestimmten Morphemkombination („Guten Morgen, Schatz.“ – „Guten
       Mohohohohuaaaaargen.“). Dabei bedienen sie sich der im Jahr 2015 vollkommen
       üblichen drahtlosen Schallwellentechnologie. Mittels einer einfach
       verschlüsselten Botschaft bedeutet Renato Sandrine, sich zunächst
       biohygienischen Wartungsmaßnahmen zu unterziehen („Du willst wahrscheinlich
       erst mal Zähne putzen und duschen“), und verlässt dann die Wohnparzelle in
       bewegungstoleranten Fußschutzapplikationen von Deichmann.
       
       Es klingt verrückt, doch es gibt Menschen, für die das beschriebene
       Szenario alles andere als zukunftsfern klingt. Menschen, die sich schon
       seit Jahren mit der Frage beschäftigen, wie wir 2015 leben werden. Menschen
       wie die Drittmittelprofessorin Leonarda Schiffer vom New Yorker
       Futurama-Institut für Komplexwissenschaften. Seit den 1980er Jahren
       erforscht sie mit fantasiegestützten Spekulationstechniken die
       Lebenswirklichkeit zukünftiger Jahrzehnte und schreibt darüber in
       Fachjournalen wie der Times, Reader’s Digest oder Geolino. Schon zu Beginn
       ihrer Tätigkeit prophezeite sie für 2015 staubsaugende Plattenspieler,
       fliegende Achterbahnen und menschliche Kolonien auf der Venus, korrigierte
       ihre Prognose jedoch kürzlich.
       
       „Der Blick in die Glaskugel birgt immer auch Unwägbarkeiten, oft sind wir
       in der Zukunftsforschung darauf angewiesen, spontane Eingebungen mit schwer
       einschätzbaren Tendenzen zu verknüpfen und in leuchtenden Farben
       auszumalen“, sagt Schiffer, „und manchmal müssen wir einfach raten.“
       
       Sandrine hat derweil die H2O-basierte Leibentschmutzung beendet, ihren
       Energiespeicher mit nährschleimgetränkten Cerealienklumpen aufgeladen und
       tritt den Weg zur Arbeit an. Auf einem witterungsunabgeschirmten
       Doppelradvehikel mit kraftsensitivem Pedalantrieb saust Sandrine wie von
       einer Seilwinde gezogen ins Tal und kommt völlig durchnässt in der modernen
       Webcontent-Wiederaufbereitungsanlage an, in der sie täglich
       emotionsbetankte Textköder zu Klickfallen für schlichte Gemüter erstellt.
       
       Ihr Chef winkt bereits mit einem im Laserverfahren bedruckten
       Premiumpapierdokument: Sandrine ist als Larmoyanzspezialistin entlassen und
       wird künftig durch einen weinerlichen Fünfjährigen ersetzt, der als
       Bezahlung funkelnde Glasperlen und einen wöchentlichen Besuch im
       Streichelzoo akzeptiert. Sandrine reagiert auf diese Neuigkeiten gelassen.
       Als Mensch des 21. Jahrhunderts hat sie gelernt, mit spontanen
       Umstrukturierungen ihrer Einkommenssituation umzugehen, und nutzt das
       geöffnete Zeitfenster für gesundheitsfördernde Beinbewegungen im Freien.
       
       Experten wie Leonarda Schiffer gehen inzwischen wie selbstverständlich
       davon aus, dass wir 2015 in der Lage sein werden, einfachste Dinge mit
       komplizierten Umschreibungen auszudrücken. Zugleich warnt sie aber auch vor
       überzogenen Erwartungen an zukünftige Realentwicklungen. „Heute bin ich
       vorsichtiger mit meinen Vorhersagen. Wir sollten uns keinen Illusionen
       hingeben“, erläutert Schiffer, „technische Innovationen verlaufen langsam.“
       Staubsaugende Plattenspieler erwartet sie in fünf oder zehn Jahren,
       fliegende Achterbahnen frühestens Anfang 2016.
       
       Und Sandrine? Sie hat bei konstanter Zuführung eines recht anregenden
       Wasser-Ethanol-Gemischs in einer nahen Flüssigkeitsverzehrstube mit
       zentralem Beratungsservice neue Pläne geschmiedet („… alle umbringen“).
       Gegen Abend wird sie dann von dem per Digitaltelegramm auf seinem
       taschenportablen Mikrowellenempfänger informierten Renato nach Hause in
       ihre wärmerückstrahlende Liegevorrichtung gebracht – ganz altmodisch in
       einer Schubkarre.
       
       6 Jan 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Valentin Witt
       
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