# taz.de -- Die Wahrheit: Identitis und Authentizitäterä
       
       > Wer bin ich und warum erkenne ich mich nicht? Der Philosoph Karl Jaspers
       > kennt die Antwort. Andere irren durch die Begrifflichkeiten.
       
       Es dauert, bis aus Zugereisten Einheimische werden, nicht nur in Bayern und
       Schwaben. In der taz berichtete 2014 ein Fußballanhänger, der 1990 aus dem
       Westen nach Leipzig übergesetzt hatte, dass er nach wie vor nicht als
       Leipziger wahrgenommen wird, obwohl er sich „mit Haut und Haaren als
       solcher“ fühlt. „Identität“, klagte er, „wird auf das reduziert, was man
       vor 25 Jahren einmal gewesen zu sein glaubte.“
       
       Es ist kein Zufall, dass Begriffe wie „Selbstverständnis“ und „Selbstbild“
       in freier Wildbahn rar geworden sind, anders als das Modewort „Identität“.
       Jene betonen, wie ein Mensch selbst sich sieht: Sie zeugen von der Freiheit
       des Individuums, drücken den Willen zur selbstbestimmten Entfaltung der
       Persönlichkeit aus und geben dem Eigensinn fetten Raum. Identität hingegen
       steht im Zusammenhang mit Gruppe, Gemeinschaft, modisch gekämmter
       „Community“, sie klebt an fremden Erwartungen und Zuschreibungen.
       
       Oft meint daher Identität das Gegenteil, die Rolle: Man spielt sie
       unfreiwillig wie der Leipziger, der den Wessi machen muss, oder freiwillig.
       So, als die Regisseurin Isabell Suba 2012 in Cannes ihren neuen Kurzfilm
       präsentieren sollte: „Stattdessen“, so die taz, „überließ sie ihre
       Identität der Schauspielerin Anne Haug“, die mit Haut und Haaren in ihre
       Rolle schlüpfte.
       
       Ist diese hier etwas professionell Angeeignetes, Äußerliches, so scheinen
       im banal gebauten Alltag Person und Funktion eins zu werden: Ottilie
       Normalverbraucherin meint nicht, Rollen zu spielen, sondern hat diverse
       Identitäten im Köfferchen als Gattin, Mutter, Nachbarin, Freundin, Beamtin,
       Hobbymusikerin, Berlinerin, Deutsche - was Gottes Zoo halt so hergibt.
       
       ## Anderswo gibt es sogar noch viel mehr davon!
       
       Anderswo gibt es sogar noch viel mehr davon! „Er geht als erster
       afroamerikanischer Chef der New York Times durch die Schlagzeilen“,
       schreibt die taz. „Doch das ist nur eine von vielen Identitäten des
       57-jährigen Dean Baquet. Zu den anderen gehört, dass er aus einer
       Arbeiterfamilie stammt, die in die - französisch inspirierte kreolische -
       Gastronomie von New Orleans übergewechselt ist. Dass er nie ein Studium
       abgeschlossen hat. Dass er den Pulitzer-Preis für eine Recherche über
       Korruption im Stadtrat von Chicago bekam. Und dass er im Süden, im Norden,
       aber auch an der West- wie an der Ostküste der USA gelebt hat.“
       
       Genau genommen, meint Identität wohl gar nicht Identität - außer im
       primitiven Fall der nationalen Identität. Die wird von den wenigsten als
       bloße Rolle verstanden, sondern dem Volksgenossen schon vor der Geburt ans
       Bein gebunden: Traditionell fußt sie auf der Abstammung, also der
       rassischen oder - zeitgemäß frisiert - ethnischen Zuordnung, die die
       Identität in die Nähe der Blut-und-Boden-Brühe rückt.
       
       Die Rolle der nützlichen Idioten spielten Linke, die aus Liebäugelei mit
       den Befreiungsbewegungen unterdrückter Völker das Identitätsgefasel vom
       Zaun gebrochen haben.
       
       Jetzt sind es der Front National, der die „Erhaltung der Identität
       Frankreichs“, und die Pegida, die sich die „Bewahrung der deutschen
       Identität“ auf die Hosen gepinselt haben, weshalb die NPD-Buhle Sigrid
       Schüßler alias „Hexe Ragnar“ schwärmt, „ein Funke erwachender Identität“
       lodere im „unfreien Volke“ auf; Hans-Peter Friedrich (CSU) rudert schon mal
       mit, weil „wir in der Vergangenheit mit der Frage nach der Identität
       unseres Volkes […] zu leichtfertig umgegangen sind“.
       
       ## Reaktionär stinkender Begriff
       
       Identität verlangt Identifikation und erheischt beinharte Dauer. Deshalb ja
       wollen die Leute nicht die wandelbare, entlarvende „Rolle“ in den Mund
       nehmen: In einer Welt stetiger Veränderung suggeriert das Gesummse von
       Identität einen strammen Halt; und besonders in völkischem Zusammenhang
       wird deutlich, dass Identität etwas Statisches, Unverrückbares,
       Unveränderliches bezeichnet und ein konservativer, latent reaktionär
       stinkender Begriff ist.
       
       Der anfangs Kennkarte genannte Personalausweis, englisch „Identity Card“,
       wurde als Herrschaftsinstrument des Polizeistaats 1938 eingeführt. Um die
       darin festgetackerten persönlichen Merkmale wie Körpergröße und Augenfarbe
       geht es allerdings nicht, wenn jemand nach seiner Identität sucht. Da geht
       es um viel mehr - obwohl am Ende viel weniger herauskommt. „Alles, was […]
       der Einzelne von sich weiß, das ist nicht er selbst. Woran er gebunden ist,
       mit dem geht er um, ist nicht schlechthin mit ihm identisch“, wusste Karl
       Jaspers: „Wir […] wissen, dass wir nie wissen, wer wir eigentlich sind, und
       dass wir uns wandeln können.“
       
       Die Frage „Was bin ich“ lässt sich mit lockerer Hand beantworten, wie man
       seit Robert Lembkes legendärer Ratesendung weiß. Das Problem „Wer bin ich?“
       hingegen ist nie zu lösen - außer durch die Antwort, dass es Identität nur
       mit sich selbst geben kann, was auf die logische Formel A = A hinausläuft,
       oder, meist besser: 0 = 0. Auch die verwandten Vokabeln „Authentizität“ und
       „authentisch“ sind mit der Null zutreffend etikettiert.
       
       „Sollte man Autoren einladen“, fragte Helene Hegemann im Spiegel anlässlich
       des Klagenfurter Lesewettbewerbs, „die sich weniger auf ihre Inhalte als
       auf die perfekte Konstruktion ihrer Authentizität konzentrieren?“, während
       die Homepage [1][kino.de] behauptet, die „Passion Christi“ sei „völlig
       authentisch“ verfilmt worden - obwohl man dazu leibhaftig 2.000 Jahre hätte
       zurückhopsen müssen; hier und jetzt kann man bestenfalls überzeugend
       nachspielen. Neymars „Gesicht wirkte authentisch“, heißt es in einem Buch
       über die Fußball-WM 2014 - kurz, alles erinnert steil an den Satz:
       „Ehrlichkeit ist das Wichtigste im Geschäftsleben. Wer sie vortäuschen
       kann, hat gewonnenes Spiel.“
       
       ## Der gute, alte Autist
       
       Wirklich authentisch ist allein der gute, alte Autist, wenn überhaupt. Alle
       anderen sind niemals ganz sie selbst, schon weil nicht allein das Erbgut
       den Menschen in der Mangel hat. Das Individuum ist konditioniert durch die
       Gesellschaft, geprägt durch die Kultur, gezwungen, sich Umständen
       anzupassen, und muss mit den Leuten auskommen, die ihm das Leben serviert,
       weshalb Kritiker sogar so weit gehen, Nonkonformismus, das Ausscheren aus
       der prallen Masse, als Masche abzutun und, jawohl, als „unauthentisch“ zu
       werten.
       
       Nun kann eine Masche durchaus Ausdruck einer Persönlichkeit sein; und vor
       allem: Von „Authentizität“ zu reden, zeigt wenigstens Spurenelemente eines
       guten Willens, wenn es die Wertschätzung eines Individuums anzeigt. Das
       Wort zu nehmen, um Abweichler zu disziplinieren, ist pervers.
       
       Meistens freilich wird es wie alle Modewörter gedankenlos vernutzt und weil
       der eigene Wortschatz zu klein für die präzise Bezeichnung ist. Eine
       Sendung über Countrymusik verspreche, so das Arte-Magazin, „eine Suche nach
       dem authentischen Amerika jenseits von Hollywood und Wall Street.“ Warum
       diese kein authentisches Amerika sind, wird naturgemäß nicht begründet, da
       es nicht begründet werden kann; man erahnt aber, was gemeint ist: Es soll
       „ursprünglich“ heißen, „traditionell“, „bodenständig“; die korrekten
       Ausdrücke „konservativ“ oder „reaktionär“ liegen auch bereit.
       
       Authentizität ist kein Wert an sich. Auch ein Egoist, eine Nervensäge, ein
       Haustyrann, eine Opportunistin, ein Psychopath, ein Nazi leben und handeln
       in Übereinstimmung mit ihren Werten und sind also „authentisch“. Na toll!
       
       17 Jan 2015
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://kino.de
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Peter Köhler
       
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