# taz.de -- Fünf Jahre Missbrauchsskandal: Noch lange kein Schlussstrich
       
       > Die Missbrauchsfälle am Canisius-Kolleg wurden vor fünf Jahren bekannt.
       > Was folgte, war eine Erschütterung, die nicht nur die Kirche trifft.
       
 (IMG) Bild: Matthias Katsch vom „Eckigen Tisch“ vor einem Gebäude des Canisius-Kollegs.
       
       BERLIN dpa | Es ist ein Zufall, der den Stein ins Rollen bringt: ein
       unerwartetes Wiedersehen mit einem ehemaligen Pater des Berliner
       Canisius-Kollegs, einer Jesuitenschule. Matthias Katsch hat dort vor mehr
       als 30 Jahren Abitur gemacht. 2005 steht er auf einem Kongress jenem Mann
       gegenüber, der in den 70er-Jahren Beichtgespräche für sexuellen Missbrauch
       nutzte. „Ich war wie gelähmt“, erinnert er sich. „Ich war wieder 13.“
       
       Doch dieses Ohnmachtsgefühl will Katsch nicht länger hinnehmen. Mit Anfang
       40 schreibt er einen Brief an die Missbrauchsbeauftragte des
       Jesuitenordens. Die Folgen erschüttern die deutsche Gesellschaft.
       
       Ende Januar 2010 informiert Klaus Mertes als Rektor des Canisius-Kollegs
       mehr als 600 Absolventen über die jahrelangen systematischen Übergriffe an
       ihrer Schule. Mertes macht damit öffentlich, dass sein Orden Missbrauch
       vertuschte und verschwieg. Das ist der Anfang. Wie in einem Dominoeffekt
       offenbaren sich Betroffene aus anderen Ordensschulen, bei den Regensburger
       Domspatzen, auch aus der weltlichen Odenwaldschule und vielen anderen
       Einrichtungen.
       
       „Das war eine Art Urknall“, sagt Johannes-Wilhelm Rörig, Unabhängiger
       Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs beim Bund. Doch
       warum knallt es erst 2010 - und hat das die Gesellschaft nur erschüttert
       oder auch verändert? Darauf gibt es keine einfachen Antworten. Doch eine
       Veränderung sieht Rörig ganz deutlich: „Den Betroffenen wird geglaubt.“
       
       ## Nicht nur eine Krise der Kirche
       
       Mehr als eine Millionen Menschen in Deutschland haben nach Schätzungen
       sexuellen Missbrauch erlebt. „Aber erst im Jahr 2010 ist der Bevölkerung
       dieses riesige Ausmaß klargeworden“, urteilt Rörig. Klar wird auch: Dies
       ist nicht allein eine Krise der katholischen Kirche. Missbrauch geschieht
       überall, vor allem in den Familien.
       
       Fünf Jahre nach dem „Urknall“ kann Rörig kaum zur Beruhigung beitragen.
       „Wir haben den Missbrauch nicht eingedämmt.“ Das Wissen, wie Kinder besser
       vor sexualisierter Gewalt geschützt werden können, sei zwar vorhanden. Doch
       ein umfassendes Schutzkonzept sieht Rörig in Deutschland noch nicht,
       allenfalls erste Bausteine. Ihm fehlt auch noch komplett die Aufarbeitung
       von Missbrauch in Familien. Noch immer gebe es keine Anhörungsstelle dafür.
       „Die Politik wird auch in fünf Jahren noch keinen Schlussstrich ziehen
       können.“
       
       Matthias Katsch (51) ist niemand, der als „Opfer“ gesehen werden möchte.
       Der studierte Philosoph und Betriebswirt arbeitet als Unternehmensberater.
       Im Ehrenamt ist er Sprecher des „Eckigen Tischs“, den Männer gegründet
       haben, die früher an deutschen Jesuitenschulen missbraucht wurden. Katsch
       arbeitet auch in Rörigs Betroffenen-Gremien mit. „Dass sich das Thema
       Missbrauch bis heute in dieser Dimension hält, sehe ich positiv“, sagt er.
       „Da ist wirklich langfristig ein Tabu gebrochen und Sprachlosigkeit
       überwunden worden.“
       
       Doch das allein hilft Betroffenen noch nicht. Die seelischen Folgen von
       Missbrauch lassen sich nicht in Statistiken pressen. Oft geht es um
       Ohnmachts- und Schuldgefühle, Vertrauensverlust und Wut. Das Unverständnis
       reicht bis hinein in die eigenen Familien. Es kann Schwierigkeiten und
       Unsicherheiten geben bei Partnerwahl und in der Partnerschaft. Es kann zu
       Depressionen kommen, zur Sucht, zum Suizid.
       
       ## Projekt „Kein Täter werden“
       
       In Berlin gibt es einen kleinen Seismographen für den Stellenwert des
       Themas sexueller Missbrauch: das Projekt „Kein Täter werden“ an der
       Charité. 2005 begannen der Sexualwissenschaftler Klaus Beier und sein Team
       mit dem Versuch, Männer mit pädophilen Neigungen mit Plakaten und TV-Spots
       für präventive Therapien zu gewinnen. Einzige Bedingung: Sie haben noch
       keine Straftaten begangen und im Moment auch keine Bewährungsauflagen.
       
       Die Politik habe sich damals nicht offensiv vor dieses Projekt stellen
       wollen, sagt Sprecher Jens Wagner. Ohne das Geld von Stiftungen hätte es
       nicht starten können. Heute haben sich in Berlin mehr als 2.000
       Hilfesuchende gemeldet. Das Bundesfamilien- und auch das Justizministerium
       unterstützen „Kein Täter werden“ finanziell. Andere deutsche Städte haben
       nachgezogen.
       
       Matthias Katsch kann heute analysieren, dass das damals am Canisius-Kolleg
       eine Mischung aus Sexualität, Macht und Gewalt war. Er weiß, dass zu seiner
       Schulzeit zwei Patres ihre Umgebung manipuliert haben, so lange, bis
       niemand mehr genau hinsah. Und dass solche Muster fortbestehen können,
       überall, wenn es keine Schutzkonzepte gibt. Und selbst die sind keine
       Garantie.
       
       28 Jan 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ulrike von Leszczynski
       
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