# taz.de -- Die Wahrheit: Zungen an Masten
       
       > Das Phänomen der winterlichen Pfostenlecker beschäftigt inzwischen die
       > Wissenschaft. Sie kommt dabei zu erstaunlichen Erkenntnissen.
       
 (IMG) Bild: An eisigen Zapfen lecken bleibt ein pubertärer Spaß.
       
       Auch Notaufnahmen und Sanitäter kennen saisonal bedingte Phänomene. Januar
       und Februar ist traditionell die Zeit der Erfrierungen im Zungen- und
       vorderen Mundbereich. Menschen lecken aus bislang ungeklärten Gründen an
       Laternenpfählen, Trambahnfahrplanmasten und anderem Gestänge und frieren
       dabei fest. Am Krankenhaus München-Schwabing widmet sich jetzt eine
       umfangreiche Forschungsarbeit dem sogenannten gelum linguae brumalis,
       dessen Auftreten bereits seit dem späten Mittelalter in Chroniken von
       Ärzten, Badern und Nachtwachen nachzuweisen ist.
       
       „Seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts“, berichtet Dr. Hans
       Hartung, Facharzt für Nivalistik, „verzeichnen wir eine regelrechte
       Schwemme solcher Patienten. Dabei kommt es in schweren Fällen zu einer
       congelatio des Zungenbeins mit Kollateralwirkung auf Mandeln und Gaumen bis
       hinein in den Innenohrbereich.“ Die Spätfolgen reichen von dauerhafter
       Harthörigkeit bis zu teilweisen Verödungen der Stimmbänder. „Wenn Sie
       feststellen, dass jemand i-Laute plötzlich sehr deutlich in den e-Bereich
       hinein moduliert“, erklärt Dr. Hartung, „können Sie davon ausgehen, dass er
       mindestens ein paar Stunden an einem eisigen Pfosten gehangen ist.“
       
       Kaum verständlich, dass bislang niemand ernsthaft den Ursachen des
       Phänomens auf den Grund gegangen ist. „Es fängt ja schon damit an, dass
       vielen Patienten die schiere Tatsache peinlich ist“, sagt Dr. Hartung. „Wer
       spricht schon gern darüber, dass er nachts an Stangen leckt?“ Dies gelte
       insbesondere für die weibliche Klientel, die laut seinen Erhebungen etwa
       ein Drittel der Fälle von lingualen Kongelationen ausmacht. „Hier ist laut
       meiner Statistik mehrheitlich ganz klar von un- oder unterbewussten
       sexuellen Wunschvorstellungen auszugehen.“
       
       Bei den Männern sind die Ursachen vielfältiger, was Ansätze einer gezielten
       Prävention stark erschwert. „Erwartung einer Zitrone- oder Vanillenote“,
       begründete etwa ein Patient seine Motivation. „Manche verlockt das Glitzern
       des Reifs, die Konnotation von Unschuld und Sauberkeit“, referiert der
       Fachmann, der auch zu wissen glaubt, weshalb es vor allem nachts zu
       leckbedingten Erfrierungen kommt: „Man fühlt sich dann unbeobachtet. Wir
       verzeichnen bei Kongelationspatienten ein stark erhöhtes Schuldbewusstsein,
       wie wir es zum Beispiel auch von Suchtkrankheiten kennen.“
       
       ## Notorische Wiederholungstäter
       
       Ist das Mastenlecken etwa eine regelrechte Sucht, die nach Wiederholung mit
       erhöhter Dosis verlangt? „In einigen Fällen“, so Dr. Hartung, „vermuten wir
       das in der Tat. Da gibt es notorische Wiederholungstäter, von denen einige
       so hartnäckig sind, dass Polizeistreifen bereits gezielt nach ihnen
       Ausschau halten.“
       
       So etwa ein 44-jähriger Bankangestellter aus München-Freimann, der in den
       letzten drei Jahren fünfzehnmal an der gleichen Ampel festgefroren
       aufgefunden wurde und mit dem Dr. Hartung lange Gespräche geführt hat. Der
       Mann gab an, „wie in Trance, unter einem Zwang“ zu handeln. Ein an der
       Studie beteiligter Psychologe diagnostizierte berufsbedingte Komplexe, die
       im Frostlecken ein Ventil fänden. „Plump gesagt, wenn dem Mann die
       Arbeitsbelastung über den Kopf wächst, muss er an der Ampel lecken, so wie
       andere zu Tabletten greifen oder sich mit Ballerspielen abreagieren.“
       
       ## Versteckte Bestrafungsabsicht
       
       Ein etwas exotischer Fall ist der eines Mannes, der nach ehelichen
       Auseinandersetzungen immer wieder am vereisten Klingelschild der
       gemeinsamen Wohnung leckte. „Wir vermuten eine versteckte
       Bestrafungsabsicht, die sich gegen die eigene Person richtet.“ Hier zeigt
       sich auch, wie komplex die Ursachen sind: „Normalerweise würde sich so
       jemand Schnittwunden oder Ähnliches zufügen. Was ihn zu dieser sublimierten
       Form der Selbstverletzung treibt – wir können es noch nicht sagen.“
       
       Andere Fälle sind schlichter gelagert, weiß der Nivalistik-Experte zu
       berichten. „Romantische Charaktere fühlen sich von der blumenartigen
       Struktur der Vereisung angezogen, die sie sich gewissermaßen einverleiben
       möchten.“ Und bisweilen steckt hinter dem ganzen lediglich ein Jux, so etwa
       bei den 14 Mitgliedern eines FC-Bayern-Fanclubs, die nach einem
       Auswärtssieg im Januar 2014 an einem Fahrplanständer des Zentralen
       Busbahnhofs festfroren und von der Feuerwehr enteist werden mussten.
       
       „Die wollten metaphorisch dem geschlagenen Gegner die Zunge rausstrecken,
       um ihn zu demütigen“, meint Dr. Hartung. Die Juxtruppe erscheint nicht in
       seiner offiziellen Statistik, um Letztere nicht zu verfälschen. Für die
       Zukunft prophezeit der Forscher, der sichtlich Blut geleckt hat beim Thema
       Pfostenlecker: „Passiert so was noch häufiger, muss die saisonale
       Einrichtung einer eigenen Ambulanz für linguale Kongelationen kommen.“
       
       4 Feb 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Michael Sailer
       
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