# taz.de -- Die Megacity Delhi: Zustand des Molochs
       
       > Rana Dasgupta ist mit seinem Buch „Delhi – im Rausch des Geldes“ ein
       > anregendes Porträt der indischen 20-Millionen-Stadt gelungen.
       
 (IMG) Bild: Geschäftsstraße in der Altstadt von Delhi.
       
       Delhi ist „eine Stadt der Ausgrenzung und Isolierung, eine Stadt der Clans
       und Hierarchien, in der nur wenige Menschen, gleich welcher
       Gesellschaftsschicht sie angehören, den Gedanken des Abbaus
       gesellschaftlicher Unterschiede ansprechend finden“, formuliert Rana
       Dasgupta in dem Buch, das er über seine Wahlheimatstadt geschrieben hat.
       
       Dieser Satz ließe sich seinem Buch als Motto voranstellen, und dieser
       Eindruck ist es auch, den man daraus mitnimmt: Man liest es angeregt und
       erfährt viel, denn Dasgupta hat aufwändige Recherchen betrieben und kann
       sein Wissen gut darstellen.
       
       Aber während jener Wälzer, welcher für sein Delhi-Porträt vermutlich Pate
       gestanden hat, nämlich Suketu Mehtas „Bombay – Maximum City“, vor allem
       unglaublich neugierig auf seinen Gegenstand machte, stellt sich nach der
       „Delhi“-Lektüre fast ein gegenteiliger Effekt ein: eine heimliche Freude
       darüber, jetzt schon so viel über diese Stadt zu wissen, dass man sich für
       den Fall, dass es einen demnächst dorthin verschlagen würde, dort gar nicht
       unbedingt länger aufhalten müsste.
       
       Der Autor Rana Dasgupta selbst, Sohn einer Engländerin und eines Inders und
       in Großbritannien aufgewachsen, ist der Liebe wegen im Jahr 2000 nach Delhi
       gezogen. Er porträtiert die Megacity mit ihren 20 Millionen Einwohnern als
       Moloch, der in seiner aktuellen Gestalt mehr als durch alles andere durch
       die Kräfte eines entfesselten Kapitalismus geprägt wurde.
       
       Oder vielmehr: einer Spielart des Kapitalismus, dem wenig gesetzliche
       Schranken auferlegt werden und der weniger den Regeln eines freien Marktes
       gehorcht als jenen einer tradierten Vetternwirtschaft und eines fest
       etablierten Systems der Korruption.
       
       Dasgupta hat für sein Buch mit zahlreichen Vertretern und Vertreterinnen
       des neuen und des alten Geldadels gesprochen, mit Wirtschaftsbossen und
       Bürokratinnen, mit Frauen, die zwischen ihrem Wunsch nach einer beruflichen
       Karriere und ihrem Anspruch, dem althergebrachten Ideal der sich
       aufopfernden Ehefrau treu zu bleiben, zerrieben werden, und mit Männern,
       deren viriles Selbstbewusstsein sich zu einem beträchtlichen Teil daraus
       speist, ein richtig dickes Auto zu fahren.
       
       Er trifft arme Menschen, die immer wieder vergeblich versuchen, ihren Slum
       wohnlich zu machen, und vom Staat mehr behindert als gefördert werden, und
       ehemals wohlhabende Menschen, die von der Teilkommerzialisierung des
       ehemals staatlichen Gesundheitswesens in den Ruin getrieben wurden.
       
       Das entstehende Gesamtbild ist gleichermaßen faszinierend wie abstoßend.
       Abstoßend, weil derart extreme gesellschaftliche Gegensätze für das
       europäische Empfinden nur noch schwer vorstellbar sind. Und faszinierend,
       weil Dasgupta überhaupt mit all diesen unterschiedlichen Menschen spricht –
       Menschen, mit denen man auch auf ausgedehnten Reisen nie zusammentreffen
       würde oder sich nicht unterhalten könnte. Man erhielte keine Audienz bei
       den Superreichen, und auf die Idee, einen direkt neben einer großen
       Müllhalde gelegenen Slum zu besuchen, käme man auch nicht einfach so.
       
       ## Falsche Versprechungen
       
       Das Gespräch, das Dasgupta hier am Rande Delhis mit zwei Frauen führt, ist
       eines der wenigen im Buch, worin seine Sympathien offen durchscheinen. Die
       Tatkraft und der Widerstandsgeist der Slumbewohnerinnen, die schon einmal
       mit falschen Versprechungen von dem Land vertrieben wurden, das sie
       bewohnbar gemacht hatten, und die nun wieder umziehen sollen, stehen in
       scharfem Kontrast etwa zur sinnfrei scheinenden Geschäftemacherei des
       schwerreichen jungen Unternehmenserben, der den Autor in einem der vielen
       Häuser der Familie zum Interview empfängt.
       
       Zwischen all diesen Gesprächen, die in ihrer Gesamtheit den mentalen
       Jetzt-Zustand der Stadt widerspiegeln sollen, hat der Autor Abschnitte
       gesetzt, in denen er die historische Hypothek der Stadt erläutert. Einst
       Sitz der Moghul-Herrscher, war Delhi später das Verwaltungszentrum der
       Briten. In beiden Funktionen sei es ein Ort gewesen, an dem verschiedene
       Kulturen und Religionen in friedlicher Koexistenz nebeneinander lebten.
       
       Das änderte sich nach 1947. „Das moderne Delhi entstand aus der Katastrophe
       der Teilung Indiens“, schreibt Dasgupta. Zahllose Flüchtlinge aus dem
       heutigen Pakistan, darunter auch viele Sikh-Geschäftsleute aus dem Punjab,
       ließen sich in Delhi nieder und etablierten die dominierende kaufmännische
       Kultur.
       
       ## Immobilien unter den Nagel gerissen
       
       Während es Flüchtlingen nach der Teilung erleichtert wurde, Grundbesitz zu
       erwerben, verloren die gewaltsam vertriebenen Muslime ihre Häuser und
       Grundstücke – nicht selten an ehemalige Hindu-Nachbarn, die sich die
       Immobilien unter Ausnutzung informeller Behördenkontakte unter den Nagel
       rissen.
       
       Während des Immobilienbooms der letzten Jahrzehnte, nach der Öffnung
       Indiens für ausländisches Kapital, wuchs der Wert der damals leicht
       erworbenen Häuser ins Unermessliche und legte den Grundstein für so manches
       heutige Familienvermögen. Es ist hochinteressant, die Eindrücke aus dem
       modernen Moloch, in dem der Autor lebt, vor der Folie des historischen
       Abrisses zu lesen. Ein gewisser Hang zur Nostalgie scheint dabei allerdings
       durch. Im alten Delhi, so lässt sich zwischen den Zeilen lesen, hätte
       Dasgupta vermutlich gern gewohnt, und sei es nur, um den Unterschied
       festzustellen.
       
       Nur in seinen persönlichen Zwischenbemerkungen blitzt kurz ein „anderes“
       Delhi auf, eines, in dem Künstler, Schriftsteller und Intellektuelle wohnen
       und das vermutlich den Lebenskosmos des Autors darstellt. Wenn man es nicht
       selbst schafft, diesen Teil der Stadt dazuzudenken, fehlt schlicht das
       Positive – oder auch nur das Normale. So gerät die Darstellung insgesamt
       wahrscheinlich stärker zugespitzt, als es der Lebenswirklichkeit in der
       realen Stadt entsprechen mag. Um das etwas schade zu finden, muss man Delhi
       weder kennen noch mögen.
       
       8 Feb 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Katharina Granzin
       
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