# taz.de -- Russischer Regisseur über Grenzen: „Mein Film ist ein schizophrener Trip“
       
       > Der russische Regisseur Alexey German jr. im Gespräch über seine Heimat,
       > die Intelligenzija – und warum ein Zuschauer leiden muss.
       
 (IMG) Bild: „Under Electric Clouds“ heißt der Wettbewerbsfilm von Regisseur Alexey German jr. auf der Berlinale.
       
       Alexey German jr. hat knappe acht Stunden Interviews hinter sich, als wir
       uns in einer Talk-Lounge im Berlinale-Palast treffen. Er hat ähnliche
       Energiereserven wie seine berühmten Film-Eltern (s. Kasten), geht mir durch
       den Kopf. Nein, wir werden nicht über den Übervater sprechen. Auch nicht
       über [1][die in seinem neuen Film angelegten] Analogien zu seiner eigenen
       Biografie vom „Erben“ zum „Hausherrn“. 
       
       taz: Herr German, die meiste Zeit befinden wir uns in Ihrem Film am
       finnischen Meerbusen. Die Petersburger Intelligenzija, die Boheme, die
       zitierte Rockband DDT – ist die Petersburger Szenerie sehr wichtig für
       Ihren Film? 
       
       Alexey German jr.: Ob Petersburg oder nicht, das spielt keine Rolle. Zur
       Intelligenzija: Als ich 2008 „Bumazhnyj soldat“ gemacht habe, wurde ich
       kritisiert für all die Gespräche, die da geführt werden. Die seien völlig
       überflüssig, von vorgestern, 15. Jahrhundert. Aber zwei Jahre später schon
       wird dieses Thema aktuell – die Verantwortung der Intelligenzija, Freiheit
       versus Nichtfreiheit, solche Dinge. Plötzlich reden alle nur noch darüber.
       Und das fast genauso wie in meinem Film.
       
       Apropos reden: Die Dialoge sind in Ihrer Abgerissenheit ähnlich wie bei
       Tschechow. 
       
       Bei mir war es so: Ich habe versucht, mir konkrete Persönlichkeiten
       auszudenken und diese dann in bestimmten Darstellern zu finden.
       
       Von Andrej Zvjagincevs „Leviathan“ sagen regimetreue Kritiker, er spucke
       Russland ins Gesicht. Ihr Film dagegen könnte eher schmerzhaft sein, oder? 
       
       Was heißt schmerzhaft? Ein Zuschauer muss leiden, etwas spüren. Ich bin
       keine Zeitung. Ich will nicht erklären: So leben in Russland die
       Holzarbeiter. Ich will die Welt auf komplexe Weise erforschen, ein Bild von
       der Welt anschauen. Ob das dann wehtun wird, weiß ich nicht. Hauptsache,
       etwas bewegt sich.
       
       Was war denn der Ausgangspunkt für Ihren Film, der eine Art
       „post-post-communist condition“ im Jahr 2017 zeigt? Ein Bild? Ein Satz? 
       
       Eine Empfindung, würde ich sagen. Ich versuche, etwas zu klären,
       Orientierung zu finden.
       
       Das heißt, die spezifische visuelle Atmosphäre, die weißen Schattentöne und
       -linien kamen erst später? 
       
       Ja.
       
       Und trotzdem gibt es in der Bildsprache so etwas wie einen German-jr.-Stil.
       Das Sichverlieren in vernebelten Räumen, die man schon aus Ihren früheren
       Filmen kennt. 
       
       Kann sein. Wahrscheinlich sind die Filme sich in manchem ähnlich. Aber das
       ist gar nicht wichtig. Schon in der Entwicklung war uns klar, dass es
       relativ schwer wird, diesen Film zu verstehen. Besonders für ein
       nichtrussisches Publikum. Wir waren uns sogar unsicher, ob wir ihn nach
       Berlin bringen sollen. Nicht, weil das deutsche Kino und auch die Berlinale
       mittlerweile vom selben Format wie alle anderen Festivals sind. Wir wollten
       ein etwas anderes Kino machen, ähnlich wie in den Sechzigerjahren, als das
       Kino die Grenzen des Filmischen und der Sprache testete. In dem anders
       gesprochen wird, um die Welt in ihrer Komplexität zu verstehen, besonders
       dieses russische Universum, wo die Zeit ja ganz anders läuft, es ein
       anderes Zeit-Raum-Verhältnis gibt. Wo die Bedeutung von Kultur so
       fundamental anders ist – weil andere soziale Institutionen fehlen.
       
       Den „Kulturverlust“ zu beklagen – eines der Leitthemen des Films –, kann
       das nicht auch schnell zum Klischee werden? 
       
       Der Film hat ja viele Ebenen, erzählt mehrere Geschichten. Er ist eher für
       ein russisches Publikum geeignet als für den Export. Er ist nicht leicht
       zugänglich. Alles hängt davon ab, wie dicht man die Informationen in ihrer
       Komplexität verarbeiten kann. Wer das typische Festivalkino gewöhnt ist,
       Arthouse-Filme, der wird hier nur wenig verstehen. Die Figuren sind
       widersprüchlicher. Da gibt es nicht einfach nur den korrupten Polizisten
       oder den guten Emigranten. Einer Ihren Helden meint, die Zeit sei gekommen,
       das „Peter-Pan-Syndrom“ zu überwinden, also nicht ewig Kind bleiben zu
       wollen.
       
       Lässt sich das für Ihre Generation verallgemeinern? Leiden Sie da auch
       dran? 
       
       Ich hatte dieses Syndrom nie, habe eine Million Mal Verantwortung
       übernommen, bei den unterschiedlichsten Schritten. Das mit Peter Pan war
       ausgedacht. Ich mache, was mir richtig erscheint, etwa in der Sprache. Die
       soll im Tempo, im Timbre so sein, wie es mir richtig scheint.
       
       Haben Sie konkrete Vorbilder? 
       
       Ich mag Massen an Filmen, liebe das alte Kino. Das zeitgenössische Kino hat
       wenige gute Filme. Europäisches Kino heute ist wie eine Anekdote, von der
       man sich fragt, wozu sie gut sein soll. Das ist ein total geschlossener
       Kreis: von der Förderung über die „touching story“ und eine Prise
       Sozialaspekt zur Festivalpremiere und zurück zur Förderung.
       
       Haben Sie noch andere Dinge erfunden, so wie Peter Pan? 
       
       Den komischen Hörapparat der Frau zum Beispiel. Grundsätzlich habe ich
       versucht, einige meiner Bekannten zu beschreiben. Da gibt es tragische
       Geschichten.
       
       Als russisch-ukrainische Koproduktion: Welches Schicksal sagen Sie denn
       Ihrem Film voraus?„Leviathan“ ist ja schon fast ein Symbol des Widerstands. 
       
       Wir sind keine Symbole. Alles, was da ist, ist der Versuch, von hier aus
       auf diesen seltsamen Kosmos namens Russland zu schauen, mit seiner
       seltsamen Zeit, seinen territorialen Gesetzen, seiner Vergangenheit, die
       zugleich Zukunft ist – und umgekehrt. In 100 Jahren wird niemand sich an
       das alles erinnern können. Vielleicht auch schon in drei. Russland weiß
       selbst nicht, wie es funktioniert. Russland ist kompliziert, stimmungsmäßig
       gespalten. So gesehen ist mein Film eine Art schizophrener Trip. Wie soll
       man anders über ein Objekt reden, das mit sich selbst seit über 300 Jahren
       nicht klarkommt?
       
       15 Feb 2015
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Im-Wettbewerb-der-Berlinale/!154595/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Barbara Wurm
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Russland
 (DIR) Russland
 (DIR) Erotikfilm
 (DIR) Nelson Mandela
 (DIR) Til Schweiger
 (DIR) Biografie
 (DIR) Pro Quote Regie
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Russischer Film: Seine Waffe ist das Bibelwort
       
       In „Der die Zeichen liest“ geht der Schüler Benjamin auf einen christlichen
       Rachefeldzug. Er hat sich russisch-orthodox radikalisiert.
       
 (DIR) Erotikfilm „Love“ von Gaspar Noé: Liebe machen in 3-D
       
       Gaspar Noé nutzt in seinem Film „Love“ so ziemlich alle Möglichkeiten der
       Darstellung sentimentaler Sexualität. Nur ist alles furchtbar austauschbar.
       
 (DIR) Sibs Shongwe-La Mer über Identität: „Zu schäbig, zu ghetto“
       
       In „Necktie Youth“ porträtiert der südafrikanische Regisseur Sibs
       Shongwe-La Mer reiche Jugendliche auf Sinnsuche in der HipHop-Kultur.
       
 (DIR) Berlinale – Was bisher geschah (8): Kein Genre, nirgends
       
       Warum zum Teufel gibt es ihn nicht, den deutschen Genrefilm? Darüber
       diskutierten namhafte Regisseure und Autoren auf einem Berlinale-Podium.
       
 (DIR) „Elser“ auf der Berlinale: Der „kleine Schorsch“, ein Attentäter
       
       Die Bombe war da, am 8. November 1938. Aber Hitler ging zu früh. Oliver
       Hirschbiegel setzt dem Attentäter Georg Elser ein filmisches Denkmal.
       
 (DIR) Softporno bei der Berlinale: Ohne Sex keine Sextoys
       
       Sam Taylor-Johnson verfilmt den Weltbestseller „Fifty Shades of Grey“.
       Sadomaso ist der Film nur auf eine bestimmte Art und Weise
       
 (DIR) Berlinale – was bisher geschah (7): Kampf um Gleichheit
       
       Bei der Berlinale-Veranstaltung „Get Networked up“ trafen sich
       Regisseurinnen, um über eine Frauenquote in der Filmbranche zu diskutieren.