# taz.de -- Trauermarsch für Boris Nemzow: „Diese Kugeln sind für jeden von uns“
       
       > Zehntausende beteiligen sich an einer Demonstration für den ermordeten
       > Oppositionellen. Viele bezweifeln, dass der Täter je gefasst wird.
       
 (IMG) Bild: Trauermarsch für Boris Nemzow am Sonntag in Moskau.
       
       MOSKAU taz | „Helden sterben nicht“, steht auf dem Spruchband an der Spitze
       des Trauermarsches für den am Freitag ermordeten russischen Oppositionellen
       Boris Nemzow. „Diese Kugeln sind für jeden von uns“, ist eine andere
       Losung.
       
       Die Moskauer Stadtverwaltung hatte in letzter Minute die Innenstadt für
       eine Gedenkveranstaltung freigegeben. 50.000 Teilnehmer sind zugelassen.
       Insgesamt dürften es aber noch mehr Trauernde gewesen sein, die sich auf
       den Slawischen Platz im Zentrum versammeln. Tausende stehen eine Stunde
       nach Beginn noch vor Metalldetektoren Schlange.
       
       Der 55-jährige Boris Nemzow war am Freitagabend auf offener Straße, nur
       einen Steinwurf von der Kremlmauer entfernt, hinterrücks erschossen worden.
       Vier Kugeln streckten den ehemaligen Vizepremier nieder. Der Attentäter
       soll sich in einem weißen Wagen genährt und diesen kurz verlassen haben.
       Sechs Patronenhülsen fand die Polizei am Tatort. Der Täter schoss dem
       Politiker in Kopf, Herz und Lunge.
       
       Die Ermittler gingen anfangs davon aus, dass es sich bei dem Mörder um
       einen Auftragskiller handelte. Seither schweigen die Behörden.
       Widersprüchliche Informationen zum Tatfahrzeug lassen befürchten, dass wie
       in ähnlichen Fällen in der Vergangenheit nicht mit offenen Karten gespielt
       wird.
       
       ## Breite Anteilnahme
       
       Der charismatische Oppositionelle war in Begleitung seiner ukrainischen
       Freundin, Anna Durizkaja, die unversehrt blieb und als Zeugin aussagen
       konnte. Sie sitzt seither in Moskau fest. Kurz vor Mitternacht hatten beide
       ein Restaurant in Kremlnähe verlassen und waren zu Fuß über den Roten Platz
       gegangen. Auf einer unscharfen Videoaufzeichnung vom Tatort ist vage zu
       erkennen, dass es mehrere Tatzeugen gibt.
       
       Die breite Anteilnahme am Sonntag in Moskau überrascht viele Menschen. Sie
       kann aber nicht über die bedrückende Atmosphäre hinwegtäuschen. Es scheint,
       als wäre in Moskau noch mehr als nur ein bekannter Politiker getötet
       worden. Eine 80-jährige Frau wird mit einer Krücke an den Schleusen nicht
       durchgelassen. Sie könne nicht mehr atmen in diesem Land, sagt sie mit
       tränenerstickter Stimme.
       
       Ein älterer Mann meint: „Ich bin gekommen, weil die Machthaber uns den
       Fehdehandschuh hingeworfen haben.“ Neben ihm steht eine jüngere Frau mit
       einem Pappschild: „Propaganda tötet“, steht darauf. An Hunderten russischer
       Trikoloren hängt Trauerflor, während über der Menge ein Hubschrauber Kreise
       zieht.
       
       ## Zweifel an Ermittlungsbehörden
       
       Die Ermittlungsbehörden haben inzwischen eine Belohnung in Höhe von drei
       Millionen Rubel (ca. 40.000 Euro) für Hinweise ausgesetzt, die zur
       Festnahme des Täters führen. Dass der tatsächlich dingfest gemacht werden
       könnte, glaubten unterdessen nur wenige. Der ehemalige Duma-Abgeordnete
       Gennadi Gudkow sagt, der Verlauf der Untersuchung werfe Zweifel auf. Gudkow
       war sein Duma-Mandat nach der Rückkehr Wladimir Putins in den Kreml
       aberkannt worden. Zu aktiv hatte er sich an den Protesten gegen den
       Wahlbetrug der Kremlpartei Einiges Russland im Winter 2011 beteilig.
       
       Viele Menschen auf dem Trauermarsch am Sonntag fragen sich: Wie konnte in
       unmittelbarer Nachbarschaft des Kreml ein Attentat geschehen? Dort, wo
       protestierende Bürger sofort festgenommen und jeder einzelne mehrfach
       überwacht wird? Und warum ging der Mörder so dreist und unbekümmert vor?
       Könnte er glauben, ungestraft davon zu kommen? Seit langer Zeit wird wieder
       viel miteinander gesprochen.
       
       ## Trauernde aus freien Stücken
       
       Ab und an setzen Sprechchöre ein. Sie skandieren „Russland ohne Putin“ und
       „Putin Mörder und Dieb“. Der Exministerpräsident Michail Kasjanow, der mit
       Nemzow die liberale Partei RPR Parnass leitete, gibt sich zuversichtlich:
       Die Tragödie hätte den Menschen wieder die Augen geöffnet. Auch in den
       oberen Etagen fange das Umdenken an, meint Kasjanow und erklärt, der Mord
       hätte ins Mark getroffen.
       
       Auch Wladimir Putins früherer Vordenker ist unter den Teilnehmern. Gleb
       Pawlowskij hatte erst die Unfehlbarkeit Wladimir Putins zum Dogma erhoben,
       bis er selbst in Ungnade fiel. In den Tausenden Demonstranten sieht er nun
       ein „Zeichen des wachsenden Widerstands“. Exwirtschaftsminister Jewgeni
       Jassin meint unterdessen: Jetzt zeige sich, dass die Protestbewegung aus
       2011/12 nicht endgültig verschwunden sei. Im Unterschied zu den
       Großveranstaltungen des „Antimaidan“ unter Leitung des Kreml seien diese
       Menschen aus freien Stücken erschienen. Es kam nur zu einem Zwischenfall,
       als die Truppen des Innenministeriums 15 Anarchisten aus der Menge heraus
       verhafteten – wohl wegen der gefährlichen Parole „Brot und Freiheit für
       unser Volk.“
       
       Auch in Sankt Petersburg und Nischni Nowgorod fanden an diesem Sonntag
       Trauermärsche zu Ehren von Boris Nemzow statt. In Saratow und Murmansk
       hatte die Verwaltung die Veranstaltungen dagegen untersagt.
       
       1 Mar 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Klaus-Helge Donath
       
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