# taz.de -- Altersheim für Junkies: Endlich Ruhe
       
       > Was wird aus einem Drogenabhängigen, der in die Jahre kommt? In Unna hat
       > nun das bundesweit erste Altersheim für Junkies eröffnet.
       
 (IMG) Bild: War früher ein Erholungsheim für Nonnen: das Altersheim für Junkies in Unna
       
       UNNA taz | Ein wuchtiger Mann mit kurzen Haaren und Nasenstecker zieht
       sich, schwer auf seinen Rollator gestützt, vom Bett hoch und kramt die
       Fotos hervor, die ihn zurückbringen in sein altes Leben. Durch halb
       geschlossene Rollladen fällt blasses Licht in sein Zimmer, über die
       Limoflasche auf dem Tisch, Grünpflanzen und die Acrylbilder, die er selbst
       gemalt hat, Porträts von Bob Marley und Frank Zappa.
       
       Mirko Brokmann, 45 Jahre alt, richtet den Blick auf sein junges, schlankes
       Selbst auf den Fotos, und das Gefühl, dass dieser Ort, dieses Zimmer, noch
       nicht alles gewesen sein kann, meldet sich. „Ich weiß, ich komm hier wieder
       raus“, sagt er. „Mein Ziel ist, vom Methadon runterzukommen und die
       Entgiftung zu schaffen.“
       
       Martin Klein denkt dieser Tage häufiger daran, wie viel Glück er hat. Seine
       Brüder sind bereits tot, Überdosis, der eine vor einem Jahr, der andere vor
       drei Wochen. Klein sitzt in einem Ledersessel im Aufenthaltsraum; im
       Fernsehen flackert eine Doku-Soap. Er ist 50 Jahre alt, sein Vokuhila ist
       grau geworden. „Das ganze Leben lang war ich Sklave der Sucht, immer auf
       der Jagd nach Geld für Drogen“, sagt er. „Jetzt brauch ich die Ruhe.“
       
       ## 
       
       ## Das Sterbealter von Drogentoten liegt bei 37 Jahren
       
       Mirko Brokmann und Martin Klein leben in einer Einrichtung, wie es sie
       bundesweit bislang nur einmal gibt: eine Art Altersheim für Junkies. Es hat
       Anfang des Jahres eröffnet, am Rand von Unna, im Osten des Ruhrgebiets.
       Feldwege führen durch leeres, flaches Land zu dem Gebäude im Vorort
       Hemmerde, genauer gesagt: Der Siedlung Dreihausen
       
       Kahle Bäume zeichnen sich vor dem grauen Märzhimmel ab; im Foyer stehen ein
       paar Männer und rauchen schweigend. Im Essenssaal sammeln sich die Bewohner
       nach und nach um den Frühstückstisch. Im Seniorenalter ist kaum einer: Der
       älteste ist 66 Jahre alt, die jüngste 38. Trotzdem dürfte das Heim für die
       meisten von ihnen die letzte Station sein: Das Sterbealter von
       Drogenabhängigen liegt im Schnitt bei 37 Jahren. Nicht allen hier sieht man
       die Sucht an. Aber wenn sie aufstehen, bewegen sie sich langsam, tastend,
       als liefen sie nicht über Fliesen, sondern über vereisten Asphalt.
       
       „Früher wären die Leute einfach gestorben“, sagt Anita Vitt; die junge
       Sozialpädagogin hat sich an den Tisch dazugesetzt. Sieben Mitarbeiter
       kümmern sich um die 14 Bewohner. Die Betreuerin hat einen Begriff für sie:
       Drehtürklienten. Weil sie in so vielen Heimen und Kliniken rein und wieder
       raus sind. Hier sind die Regeln anders, hier müssen sie nie mehr raus.
       Dauerwohneinrichtung heißt das Haus offiziell, kurz DaWo. Im Foyer steht in
       bunten Lettern an der Wand: „DaWo man bleiben kann.“
       
       ## "Es sind nicht mehr die jungen Wilden"
       
       Seit Jahren schon steigt die Lebenserwartung der chronisch
       Drogenabhängigen, vor allem wegen der Ersatzdrogen. Die Mitarbeiter in den
       Drogenberatungsstellen merken schon länger, dass sich in ihrem Klientel ein
       demographischer Wandel abzeichnet, sagt Anita Vitt: „Es sind nicht mehr die
       jungen Wilden, die kommen. Sondern zunehmend mehrfach geschädigte Klienten,
       die bereits pflegebedürftig sind.“
       
       Die Lebensläufe der Bewohner ähneln sich, die Krankheitsbilder auch. Sie
       sitzen um den hellen Holztisch, pulen den Speckrand vom Kochschinken, essen
       ernst und wortlos, den Blick auf den Teller gerichtet. Die Heroinsüchtigen
       aus den 70er und 80er Jahren, die Überlebenden. Die Drogen haben ihren
       Körper lange vor ihrer Zeit altern lassen. Fast alle sind infiziert mit
       Hepatitis, manche mit HIV. Ihre Organe sind kaputt, Leber, Lunge, Herz.
       Viele haben Diabetes; bei einigen macht sich Demenz bemerkbar. Bei
       Drogenabhängigen beschleunigt sich die Alterung um 15, 20 Jahre, sagt Anita
       Vitt.
       
       Am Fenster hockt ein dünner Mann im Borussia-Pullover; Dirk Potowski ist
       noch keine 40 und hat bereits zwei Jahre in einem Altenheim hinter sich.
       Alleine wohnen, das ging nicht mehr: Er brach immer wieder zusammen, und
       wenn er aufwachte, wusste er nicht mehr, wo er war. Es gab keinen Ort für
       ihn, also brachten sie ihn in ein Stift für Senioren. „Es war nicht so
       toll“, sagt er knapp. Draußen zwischen den Feldern fährt ein Kleinbus vor;
       der Shuttle in die Stadt fährt einmal am Tag. Ringsum kommt Unruhe auf; die
       Bewohner suchen ihre Jacken und Taschen.
       
       ## Der frühere Hooligan ist pflegebedürftig
       
       Mirko Brokmann ist nicht mitgefahren; es geht ihm nicht besonders. Er sagt:
       „Am Anfang war das schon schwierig mit der Einsamkeit hier.“ Er dreht sich
       eine Zigarette, das Handy neben ihm auf dem Bett piept ständig. „Über
       Facebook und Skype halte ich Kontakt zu Freunden.“ Er war lange Hooligan in
       Bochum; Mirko Brokmann ist nicht sein echter Name: In der Szene soll keiner
       wissen, wie es um ihn bestellt ist.
       
       Zu den Drogen kam er mit 16. Er dealte, um seine Heroinsucht zu
       finanzieren, verbrachte Zeit im Gefängnis, so ging das über Jahrzehnte.
       Alles in allem, sagt Brokmann, will er nichts missen, was er erlebt hat.
       „Ich würd jetzt vieles anders machen, logo. Aber im Nachhinein muss ich
       sagen: Ich hatte eine geile Zeit.“
       
       Der große, schwere Mann sitzt wie verloren auf seinem Bett, die Augen voll
       Kummer. Eine nicht ausgeheilte Thrombose hat ihn zum Pflegefall gemacht;
       die Venen in seinen Beinen sind verstopft und entzündet. Der eine
       Oberschenkel ist doppelt so dick wie der andere. Sein Blick geht aus dem
       Fenster. Er sagt, er hat sich damit abgefunden, dass er nie mehr eine
       eigene Wohnung haben wird. Neulich hat er eine Fernsehdoku über das Heim
       gesehen. Da hat er sich erschreckt. „Alle sahen so krank aus, so blass. Da
       merkt man erst mal, wie schlecht es einem selber geht.“
       
       ## Leben, wie es eigentlich normal ist
       
       Martin Klein hat sich ein Fernglas besorgt, um in den Wäldern ringsum Tiere
       beobachten zu können. „Ich will noch so viel nachholen“, sagt er, zündet
       sich eine Zigarre an, die schweren Silberringe an seinen Fingern klimpern
       leise. Klein war 13, als er zum ersten Mal Heroin kostete; seine Mutter war
       gerade tot im Schlafzimmer gefunden worden, mit Tabletten und Schnaps im
       Blut. Drei Monate später heiratete der Vater wieder; Klein nahm einen
       Baseballschläger mit zum Fest und schlug zu. Der Schädel des Vaters war
       gebrochen. Vom Jugendknast aus geriet er in eine Spirale aus Kriminalität,
       Gefängnis und Drogen.
       
       Er sagt, ihm bleiben nun vielleicht noch ein, zwei Jahre; eine Zirrhose hat
       seine Leber zerstört. „Ich freu mich, dass ich die letzte Zeit noch so
       leben darf, wie es eigentlich normal ist“, sagt er, die Stimme dünn und
       brüchig. Aus der Küche dringt das Klappern von Töpfen, im Flur riecht es
       nach gekochtem Gemüse.
       
       Eine Hauswirtschafterin bereitet mit zwei Bewohnern das Mittagessen zu. 20
       Euro Taschengeld bekommt jeder pro Woche. Wer in der Küche oder beim Putzen
       hilft, kann zusätzlich einen Euro am Tag verdienen.
       
       ## Vorreiter in Deutschland
       
       Das Wohnheim ist Teil des Unnaer Projekts Lüsa (Langzeit-Überbrückungs- und
       Stützungsangebot). Die meisten Bewohner stammen aus dem Ruhrgebiet, einige
       aus Niedersachsen. Die Betreuungskosten trägt der jeweilige
       Kommunalverband. Sechs Jahre war das Haus in der Planung, sagt Sabine
       Lorey, die Leiterin. „Die Klientel ist da. Ich könnte auch die doppelte
       Zahl an Plätzen füllen.“ Ein normales Altersheim ist nicht der richtige Ort
       für chronisch Süchtige, sagt sie. „Da kennt sich keiner aus mit
       Ersatzdrogen, und zudem gibt es große Berührungsängste.“
       
       In den USA und den Niederlanden haben schon vor Jahren Junkie-Altersheime
       eröffnet; in Deutschland ist Unna ein Vorreiter. Lorey bekommt oft Anrufe
       aus anderen Städten; in Berlin, Frankfurt und Köln sind ähnliche Heime
       geplant. Die Sozialarbeiterin sitzt in ihrem Büro, eine Frau mit kurzen,
       platinblonden Haaren und viel schwarzem Kajal um die Augen. Viele Bewohner
       nehmen noch irgendetwas, etwas Kokain, Alkohol, ein paar Pillen. Solange
       sie den Stoff nicht mit ins Heim bringen, ist das kein Grund für einen
       Rausschmiss. Die Zeiten des exzessiven Konsums, die sind für sie ohnehin
       vorbei, sagt Lorey: „Die sind müde.“
       
       Dann tritt sie aus ihrem Büro, läuft durch die Korridore. Ganz hinten ist
       die Kreativwerkstatt. Ein älterer Mann flicht einen Korb, ein anderer
       beschriftet Holzschilder, er sagt: „Ich brauch das jetzt: einen geregelten
       Tag. Morgens aufstehen, feste Mahlzeiten, Beschäftigung.“
       
       ## Nachbarinnen bringen Süßigkeiten
       
       In dem Gebäude war früher ein Erholungsheim für Nonnen untergebracht. Dass
       dort nun Drogenabhängige einziehen sollten, war zunächst nicht leicht zu
       vermitteln: Ängste vor Einbrüchen und Dealern gingen in Hemmerde um. Sabine
       Lorey hat schon erlebt, wie leicht es bei diesem Thema zu Bürgerprotesten
       kommen kann. In Unna gab es ein paar Anwohnerversammlungen. Die Initiatoren
       stellten sich den Einwänden. Danach beruhigten sich die Lage schnell. Die
       Kirche sprach sich für das Projekt aus; die Sternsinger brachten den Segen.
       „Das hat uns den Weg geebnet. Wir wollen ja am Dorfleben teilnehmen.“
       
       Über den Gang schleichen die Bewohner heran, um sich ihre Mittagsration
       Medikamente abzuholen. Vom Parkplatz her steuern zwei alte Frauen auf den
       Eingang zu, Nachbarinnen aus Hemmerde. Die zwei kommen öfter vorbei,
       bringen Blumen oder selbst gebackenen Kuchen. „Unser Pastor hat gesagt, da
       können wir ruhig mal hingehen.“ Sicher, räumen sie ein, waren sie anfangs
       unsicher: „Erst dachte man: O je, was kommt da? Man muss aufgeklärt werden.
       Jetzt gehört das Heim schon dazu.“
       
       Martin Klein sitzt noch in dem Ledersessel; die Zigarre zwischen seinen
       Fingern ist ausgegangen. Mit der Welt draußen hat er abgeschlossen; er hat
       keine Freunde mehr. Niemand kommt ihn besuchen. Doch er ist nicht bitter.
       Er blühe regelrecht auf: „Ich hab das noch nie gehabt, dass man sich um
       mich gekümmert hat, dass man mich auch mal in den Arm genommen hat“, sagt
       er, den Tränen nahe.
       
       Dann muss er los, gleich hat er einen Termin mit seiner Bewährungshelferin.
       Der Nachmittag bricht an, ringsum ist niemand mehr zu sehen; die meisten
       Bewohner haben sich hingelegt. Die Tage enden früh in dem Heim. Nur ein
       Mann, der seine schütteren grauen Haare zum Zopf gebunden trägt, sitzt noch
       auf der Bank am Eingang und raucht, den Blick auf die Felder draußen
       gerichtet und in seine eigene Welt versunken.
       
       4 Apr 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gabriela Keller
       
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