# taz.de -- Mangelnde Teilhabe: Qual der Wahl
       
       > Bei der Hamburg-Wahl im Februar lag die Beteiligung 56,5 Prozent auf
       > neuem Tiefststand. Dass das am neuen Wahlrecht lag, ist nicht belegt. Am
       > 10. Mai probiert Bremen das Verfahren.
       
 (IMG) Bild: Neue Wahlzettel: Die Bremer können wie zuvor die Hamburger fünf Stimmen beliebig verteilen
       
       HAMBURG taz | Nicht, dass sich Hamburgs Landeswahlleiter keine Mühe gegeben
       hätte. Auf der [1][Website von Willi Beiß und Kollegen] stehen noch die
       bunten Angebote aus der Zeit vor der Bürgerschaftswahl im Februar: die
       Zehn-Stimmen-Wahl erklärt in einfacher Sprache, Infos für Erstwähler und
       ein Wahl-O-Mat. Beiß verschickte dicke DIN-A4-Umschläge an alle
       Wahlberechtigten mit Erläuterungen und Mustern der Original-Wahlhefte, auf
       denen man schon mal die Kandidaten durchgehen konnte.
       
       Genützt hat das wenig. Es haben noch etwas weniger Menschen gewählt als
       beim ersten Einsatz des Zehn-Stimmen-Wahlrechts vor vier Jahren; auch
       diesmal haben viele ungültige Stimmzettel abgegeben. Dieser Effekt schlägt
       besonders bei den im weiten Sinne armen Stadtteilen durch. „Je prekärer die
       Lebensverhältnisse in einem Stadtteil, desto weniger Menschen gehen
       wählen“, stellt die Bertelsmann-Stiftung in einer [2][Studie zur Hamburger
       Bürgerschaftswahl 2015] fest. Das Gleiche gelte für die Zahl der ungültigen
       Stimmen – zuletzt 2,8 Prozent.
       
       Immerhin hat das Wahlrecht gewirkt: Die Wähler wirbelten die von den
       Parteien aufgestellten Listen durcheinander und kegelten Leute aus der
       Bürgerschaft, die die Parteien gern drin gesehen hätten. „Wenn ein
       Wahlrecht dazu führt, dass fast alle Fachleute einer Fraktion aus dem
       Parlament gewählt werden, dann sollte nachgesteuert werden“, regte Anja
       Quast, SPD-Fraktionschefin des großen Bezirks Wandsbek an.
       
       ## Nächster Feldversuch: Bremen
       
       Nicht zuletzt deshalb zeichnet sich ab, dass eine weitere Reform des
       Wahlrechts auf die Tagesordnung der neuen Bürgerschaft kommen könnte. Dabei
       steht ein weiterer Teil des norddeutschen Feldversuchs noch aus: Am 10. Mai
       wird in nach einem ähnlichen Muster in Bremen die Bürgerschaft gewählt.
       
       Dann können die Bremer wie die Hamburger fünf Stimmen beliebig auf einer
       oder mehreren Landeslisten der Parteien verteilen. Zusätzlich konnten die
       Hamburger im Februar fünf Stimmen auf einer oder mehreren Wahlkreislisten
       verteilen und damit einen Fürsprecher für ihre Nachbarschaft bestimmen. 71
       Sitze der Hamburgischen Bürgerschaft werden von den Siegern in den
       Wahlkreisen besetzt, 50 von den Bestplatzierten der Landeslisten.
       
       ## Neues Wahlrecht sollte motivieren
       
       Dieses 2011 erstmals zum Tragen gekommene Wahlrecht war für beide
       Stadtstaaten ein Bruch. Bis dato hatten ihre Bürger nur mit einer Stimme
       zwischen Landeslisten wählen können, auf denen die Parteien festgelegt
       hatten, wer als Erstes, Zweites, Drittes in die Bürgerschaft kommen sollte.
       Mit dem vom Verein „Mehr Demokratie per Volksinitiative“ erzwungenen
       Mehr-Stimmen-Wahlrecht verband sich die Hoffnung, den Menschen mehr
       Einfluss auf ihr Parlament zu geben und sie zum Wählen zu motivieren.
       
       Letzteres ist nicht gelungen – aber auch nicht das Gegenteil, da sind sich
       die Autoren diverser Studien zu den jüngsten Hamburger und Bremer Wahlen
       einig. „Die Frage, ob die Wahlbeteiligung tatsächlich aufgrund der
       Einführung des neuen Wahlrechts gesunken ist, lässt sich nicht eindeutig
       beantworten“, schreibt der Bremer Professor Lothar Probst in seiner
       [3][Analyse der Wahlen von 2011]. Zu viele andere Faktoren wie die
       Mobilisierung und die Vorwahlkonstellation hätten Einfluss. Jedenfalls habe
       es in beiden Städten „die stärksten Rückgänge zwischen Mitte der 1980er
       Jahre und Anfang 2000“ gegeben, also zu Zeiten des alten Wahlrechts.
       
       ## Kandidaten werden nach vorne gerückt
       
       Eine deutliche Wirkung hatte das Wahlrecht auf die Auswahl der
       Mandatsträger, wie Probst demonstriert: 2011 gelangten acht der 30
       SPD-Fraktionsmitglieder aus dem Wahlbereich Bremen ins Parlament, indem sie
       auf der Liste nach vorn gewählt wurden – zum Teil um mehr als 30 Plätze.
       Nach Auskunft von „Mehr Demokratie“ gingen in Hamburg 23 von insgesamt 121
       Bürgerschaftsmandaten an Kandidaten, die ohne die Personenstimmen leer
       ausgegangen wären. Die Wähler nahmen die Möglichkeit, Personen zu wählen,
       an: 2015 in Hamburg wurden 53 Prozent der Stimmen für die Landeslisten als
       Listenstimmen abgegeben, 47 Prozent als Personenstimmen.
       
       Ein zweiter Blick auf die Wahlbeteiligung zeigt große Unterschiede zwischen
       den 103 Hamburger Stadtteilen. In den zehn mit der höchsten Wahlbeteiligung
       wählten 75 Prozent, in den zehn mit der niedrigsten 39 Prozent – eine
       Spreizung von 36 Prozentpunkten, wie die Bertelsmann-Stiftung ermittelt
       hat.
       
       In den Vierteln mit der niedrigsten Beteiligung gibt es demnach 36-mal so
       viele Haushalte aus sogenannten schwachen Milieus als in den Quartieren mit
       der höchsten Beteiligung; in den wahlabstinenten Vierteln waren fünfmal so
       viele Menschen arbeitslos; doppelt so viele hatten keinen Schulabschluss;
       ihre Kaufkraft betrug zwei Drittel und sie mussten sich mit der Hälfte der
       Wohnfläche begnügen.
       
       ## Wer arm ist, geht nicht wählen
       
       Die Autoren Robert Vehrkamp und Christina Tillmann ziehen daraus den
       Schluss, das Ergebnis der Bürgerschaftswahl bilde nicht die Gesellschaft
       ab. „Die Demokratie wird zu einer immer exklusiveren Veranstaltung der
       Menschen aus den mittleren und oberen Sozialmilieus.“ Grob gesagt: Wer arm
       ist, geht nicht wählen.
       
       Das gilt auch und noch viel deutlicher für die ungültigen Stimmen. Vehrkamp
       und Tillmann stellten einen klaren Zusammenhang fest: je geringer die
       Wahlbeteiligung, desto mehr ungültige Stimmen. Ihre Erkenntnisse decken
       sich in der Tendenz mit denen Armin Schäfers und Harald Schoens, die die
       Wahlen und Hamburg und Bremen 2011
       [4][1711558:4/component/escidoc:2019650/Leviathan_41_2013_Sch%C3%A4fer.pdf:
       untersuchten].
       
       Mit Blick auf Bremen weisen sie darauf hin, das 3,3 Prozent der Stimmen
       2011 ungültig waren gegenüber 1,3 Prozent bei der vorausgehenden
       Einstimmen-Wahl. „In den zehn Ortsteilen mit dem niedrigsten
       Durchschnittseinkommen lag die Wahlbeteiligung bei 45 Prozent und fünf
       Prozent der Stimmzettel waren ungültig“, schreiben sie. In den zehn
       reichsten Ortsteilen waren es 70 und zwei Prozent.
       
       ## Nur bestimmte Menschen nutzen neue Möglichkeiten
       
       Vehrkamp und Tillmann ziehen in der aktuellen Hamburger Studie das Fazit,
       das neue Wahlrecht sei zwar nicht die Hauptursache der sinkenden und
       ungleichen Wahlbeteiligung, es wirke dem aber auch nicht entgegen –
       „sondern eher im Gegenteil: Es führt zu einer weiteren Verschärfung.“
       Schäfer und Schoen stellen fest: „Zusätzliche Einflusskanäle erweisen sich
       häufig als Einflussmöglichkeiten für bestimmte Teile des Elektorats."
       
       Dennoch: Laut [5][Cord Jakobeits Studie] zur 2011er-Hamburg-Wahl haben drei
       Viertel der Nichtwähler nicht wegen des neuen Wahlrechts auf die
       Stimmabgabe verzichtet. Selbst unter den Nichtwählern fand eine relative
       Mehrheit von 43 Prozent das neue Wahlrecht besser, 30 Prozent fanden es
       schlechter. 53 Prozent fanden es zu kompliziert, 54 Prozent fanden, dass es
       die „Macht der Wähler stärkt“.
       
       ## Wähler wollen mehr Kandidatenwerbung
       
       Bei der Frage, was sich ändern müsste, damit sie wieder zur Wahl gehen,
       antworteten sie: die Parteien und Kandidaten. 90 Prozent fanden, dass sich
       die Parteien mehr um die Probleme der Bürger kümmern sollten, 89 Prozent
       fanden, dass sie eindeutigere Inhalte vertreten sollten. Drei Viertel
       fanden, die Kandidaten sollten sich aktiver bekannt machen.
       
       Letzteres kann freilich nicht klappen, wenn die Parteien ihre Kandidaten
       ausbremsen, indem sie diese zu „Fairnessabkommen“ zwingen – bloß damit sie
       nicht zu aktiv Straßenwahlkampf machen, viele Personenstimmen einheimsen
       und die Liste durcheinanderbringen.
       
       Lesen Sie mehr darüber in der taz.am Wochenende (Norddeutschland-Ausgabe)
       oder [6][hier].
       
       10 Apr 2015
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://www.hamburg.de/buergerschaftswahl/
 (DIR) [2] http://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/Studie_ZD_Prekaere_Wahlen_Hamburg_2015.pdf
 (DIR) [3] http://www.lotharprobst.de/fileadmin/user_upload/redakteur/Aktuelles/2011/Textdateien/Analyse_Effekte_Wahlsysteme_HH_HB_AWAPP1.pdf
 (DIR) [4] http://pubman.mpdl.mpg.de/pubman/item/escidoc
 (DIR) [5] http://www.hamburg.de/contentblob/3283112/data/jakobeit-studie.pdf
 (DIR) [6] /e-kiosk/!114771/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gernot Knödler
       
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