# taz.de -- Kiel setzt 270 Familien an die Luft: Wenn Wohnen illegal wird
       
       > Nach 70 Jahren will die Stadt Kiel das Wohnen in Ex-Behelfsheimen
       > beenden. Bis zu 270 Familien sollen ihr Haus abreißen lassen. Auf eigene
       > Kosten.
       
 (IMG) Bild: Dagmar und Henrik Hagner vor ihrem Haus: Es war einst ein Behelfsheim.
       
       HAMBURG taz | Sie werden wie Kriminelle behandelt, amtliche Drucksachen
       werfen ihnen „illegales Wohnen“ und die „rechtswidrige Erweiterung von
       baulichen Anlagen“ vor. Die Rede ist von rund 270 Kieler Familien und
       anderen Lebensgemeinschaften, und ihr vermeintliches Verbrechen besteht
       darin, ehemalige „Behelfsheime“ zu bewohnen.
       
       Die liegen zumeist im Grüngürtel der schleswig-holsteinischen Hauptstadt
       und wurden von den Vorfahren der nun Gegängelten errichtet, direkt nach dem
       Zweiten Weltkrieg – und mit behördlicher Erlaubnis.
       
       Und lange Zeit war es auch kein Problem, diese anfänglich provisorischen
       Objekte, mit den Jahren oft umfangreich modernisiert und ausgebaut, zu
       nutzen. Nun aber entschied die Stadt: Die Häuser müssen weg, und für den
       Abriss zahlen sollen die Bewohner. In den vergangenen Monaten erhielten 23
       Betroffene einen „nicht verhandelbaren“ Duldungsvertrag von der
       Kommunalverwaltung: Zehn weitere Jahre dürfen sie ihre Häuser nutzen, dann
       muss abgerissen werden.
       
       Verpassen die Bewohner diese Frist, drohen hohe Vertragsstrafen. Zudem
       dürfen sie bis dahin die Gebäude nicht verändern, nicht vermieten und schon
       gar nicht weiterveräußern. Wer den nun verschickten Vertrag nicht innerhalb
       kurzer Frist unterschreibt, dem droht das zuständige Amt für Bauordnung
       eine Nutzungsuntersagung für die Wohngebäude samt Rückbauverfügung an. Wer
       seine Unterschrift zur Galgenfrist verweigert, muss deutlich früher raus.
       
       ## Kein offizielles Wohngebiet
       
       Eine der Adressatinnen des „Duldungsangebotes“ ist Dagmar Hagner, die seit
       ihrer Geburt in der Flintbeker Straße im Stadtteil Gaarden-Süd lebt,
       inzwischen in dritter und vierter Generation mit Ehemann und Kindern. Ihre
       Großeltern hatten das Grundstück 1946 von der Stadt gekauft und sich
       verpflichtet, „Wohnraum für ausgebombte Deutsche“ zu schaffen. Die
       gewünschte Wohnnutzung wurde später jedoch nie durch einen Bebauungsplan
       abgesegnet – keines der ehemaligen Behelfsheime Kiels liegt in einem
       offiziellen Wohngebiet. Damit gab es nie eine klare Rechtsgrundlage für die
       Wohnnutzung, woraus die Stadt ableitet: Auch alle in den vergangenen 70
       Jahren erfolgten Um- und Anbauten sind illegal.
       
       „Als absoluten Knebelvertrag“ empfindet Dagmar Hagner die angebotene
       Vereinbarung: „Wer das unterschreibt, ist geliefert.“ Trotzdem hätten schon
       einige Anwohner nachgegeben, die Behörde spricht von neun – zugestimmt, um
       zumindest für zehn Jahre Ruhe zu haben.
       
       ## Zerstörung des eigenen Hauses bezahlen
       
       „Einige haben ihre Unterschrift unter den Vertrag gesetzt und wissen schon
       heute, dass sie ihn nicht erfüllen werden“, sagt Hagner, „weil sie sich den
       Rückbau gar nicht leisten können.“ Die Kosten dafür beziffert sie je nach
       Größe auf bis zu 70.000 Euro. „Viele hier sind Rentner oder verdienen nicht
       viel.“ Sie müssten also Kredite aufnehmen, die sie kaum zurückzahlen
       könnten, sagt Hagner, um die Zerstörung genau der Eigenheime zu bezahlen,
       die ihre einzige Altersvorsorge seien.
       
       „Wenn wir das verfestigen lassen, würde irgendwann mal der Anspruch der
       Anlieger entstehen, dass hier auch Straßen und Wasseranschlüsse auf Kosten
       des Steuerzahlers gebaut werden“, nennt Vize-Bürgermeister Peter Todeskino
       (Grüne) den Grund für die amtliche Offensive. „Kosten in Millionenhöhe“
       kämen dann auf die Stadt zu. „Das können und das wollen wir nicht
       finanzieren“, ergänzt Birgit Kulgemeyer vom Kieler Bauordnungsamt.
       
       ## Bürgerinitiative gegen Wohnraumzerstörung
       
       Die Betroffenen haben inzwischen eine Bürgerinitiative gegen
       Wohnraumzerstörung gegründet, um sich gegen die Vertreibung aus ihren
       Häusern zu wehren. Die Stadt hingegen reichte ein Schreiben an ältere
       Betroffene nach, in dem sie ankündigte, auch nach den zehn Jahren etwa
       „einen dann über 80-jährigen Herrn nicht zu einem unfreiwilligen
       Wohnungswechsel“ zu zwingen.
       
       „Kiel als soziale Stadt“ sei stets bemüht, „sozialverträgliche Lösungen zu
       finden“, heißt es in dem Schreiben weiter. Wer den Vertrag trotz solch
       wolkiger Zusicherung aber nicht unterzeichnen mag, dem droht man unbeirrt
       an, das weitere Wohnen sofort zu untersagen.
       
       23 Apr 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Marco Carini
       
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