# taz.de -- Die Wahrheit: „Es war die Hölle auf Erden!“
       
       > Ein Verbrechen entsetzt die Öffentlichkeit: Politnapping. Mitten in
       > Deutschland werden Mitbürger entführt und als Politiker missbraucht.
       
       Von der Öffentlichkeit unbeachtet, haben in den letzten Jahren
       Machenschaften um sich gegriffen, die an Brutalität und Skrupellosigkeit
       ihresgleichen suchen: Wehrlose Männer werden auf offener Straße
       niedergeschlagen, betäubt und mit Waffengewalt entführt. In Ausbildungs-
       und Umerziehungslagern werden sie so lange gequält, indoktriniert und
       mental umprogrammiert, bis sie als Landes- oder gar Bundespolitiker in
       Parlamente gewählt oder auf Ministerposten gesetzt werden können.
       
       „Es war ganz schlimm“, sagt jetzt erstmals ein Opfer dieser
       menschenverachtenden Praktik aus. Markus M. (Name von der Redaktion
       geändert) wurde von der Straße weg in ein Partei-Schulungslager entführt.
       „Von der Straße weg“, erklärt er mit leiser Stimme, „ich war gerade auf dem
       Weg von der Schule nach Hause, da sprach mich ein Mann an und fragte nach
       der Uhrzeit.“
       
       Dann wurde es dunkel um Markus M. Ein zweiter Mann hatte ihm einen Sack
       über den Kopf gezogen und zerrte ihn nun in ein mit laufendem Motor
       wartendes Auto. Markus M. wurde ohnmächtig. „Narkose“, vermutet er, „sie
       hielten mir ein übel riechendes Tuch vor die Nase …“
       
       Als er erneut zu sich kam, fand er sich in einem dunklen Raum wieder, an
       einem Tisch mit einer einzigen Lampe. Darüber, was dann folgte, kann er
       selbst heute, nach vielen Jahren, nur schwer sprechen. Es begann mit
       stundenlangen Verhören, dann folgten Schlafentzug und Gehirnwäsche. „Ich
       wurde regelrecht umprogrammiert“, berichtet Markus M. Er verlor jegliches
       Gefühl für Zeit und Moral. Als er nach Monaten zum ersten Mal nach draußen,
       in den engen Innenhof, gelassen wurde, frische Luft atmete und das
       gleißende Sonnenlicht sah, weinte er.
       
       ## Gehirnwäsche ohne Sonne
       
       Dann begannen die „Schulungen“. Er musste das Parteiprogramm auswendig
       lernen, wurde nachts aus dem Schlaf gerissen und abgefragt. Auch die
       Programme der anderen Parteien trichterten sie ihm ein. Auf dem Lehrplan
       standen außerdem Diskutieren, Argumentieren, Polemisieren und
       Immer-wieder-Interviews-Geben. „Ich wurde mit politischen Nachrichten aus
       aller Welt versorgt. Ich bekam Zeitungen zu lesen. Den Sportteil, den
       Kulturteil und Vermischtes rissen sie vorher immer raus. Mittags musste ich
       fertig sein, dann wurde ich nach meiner Meinung gefragt. Wenn es die
       falsche war, gabs drakonische Strafen.“
       
       Nach zwei Jahren wurde Markus M. in die Freiheit entlassen. In eine
       trügerische Freiheit allerdings, denn jetzt war stets ein Tross von
       Beratern und Bodyguards dabei, darunter auch Mitarbeiter des
       Schulungslagers. Es war mitten in einem Wahlkampf, und mit Schrecken
       stellte er fest, dass die Partei ihn als Kandidaten aufgestellt hatte.
       Überall in der Stadt hingen Plakate mit seinem Konterfei. Vier Wochen
       später war er zum Abgeordneten gewählt, zwei Jahre darauf rückte er auf
       einen gerade frei gewordenen Ministerposten. Was dann folgte, könnten
       wahrscheinlich viele Entführte berichten: Oppositionsführer,
       Fraktionsvorsitzender, Ministerpräsident, Kanzlerkandidat.
       
       Wer sind die Hintermänner dieses verabscheuungswürdigen
       Rekrutierungssystems? Offenbar andere Politiker, die vor vielen Jahren
       selbst entführt worden sind – wie Wolfgang W. (Name von der Redaktion
       geändert). Er lässt seit zehn Jahren Menschen kidnappen und umschulen. Ein
       schlechtes Gewissen hat er dabei nicht.
       
       „In Deutschland herrscht Nachwuchsmangel“, sagt er, „es wollen ja kaum noch
       Jugendliche Politiker werden. Und die wenigen, die sich freiwillig melden,
       sind seltsame Typen, Egomanen, die wahrscheinlich mal Diktator werden
       wollen. Da gab es schon ganz schlimme Vorfälle. Hier, der Dings, der eine
       mit dem Bart. Und dann der andere, der jetzt so krank ist … So, wie wir es
       machen, haben wir die Politiker besser unter Kontrolle.“
       
       Kontrolle, aber es herrscht auch Druck. Diesen Druck hielt Markus M. nicht
       lange aus. Als er bei einer Diskussionsrunde von einer Journalistin gefragt
       wurde, weshalb er für dieses Amt kandidierte, brach er in Tränen aus. „Ich
       wusste einfach keine Antwort“, sagt er. Alles kam wieder hoch: Erinnerungen
       an die Entführung, an das Schulungslager, an die Misshandlungen.
       
       „Ich wollte aus meinem Leben was machen“, sagt M., „einen ordentlichen
       Beruf ergreifen, vielleicht was mit Autos oder Tieren. Ich habe als
       Jugendlicher auch gern gemalt.“ Wünsche, die von einem auf den anderen Tag
       von einem skrupellosen Politiksystem zerstört wurden.
       
       ## Wähler ohne Mitleid
       
       Jetzt ist er ausgestiegen. Doch die Integration in die normale Gesellschaft
       ist nicht einfach. Jahrelang wurde er in Restaurants ernährt, jetzt weiß er
       nicht, was eine Flasche Wein kostet. Markus M. hat angefangen, für sich
       selbst zu kochen. „Heute gab es Nudeln mit Tomatensoße“, sagt er tonlos,
       „aber es ist alles angebrannt.“
       
       Auch für seine Familie ist es schwer. Seine Schwester hat ihn nach all den
       Jahren, die er fort war, gar nicht wiedererkannt. Seine Mutter weinte, als
       er vor der Tür stand.
       
       „Natürlich habe ich mir Sorgen gemacht, als mein Sohn verschwand“, sagt
       sie. „Und als ein paar Jahre später dieser Politiker auftauchte, der
       genauso aussah wie er, genauso sprach und auch genauso hieß, da dachte ich:
       Was für ein Zufall. Ich hätte ja im Traum nicht daran gedacht, dass er
       Politiker werden würde. Wir hatten ihn doch zu einem anständigen Menschen
       erzogen, mein Mann und ich.“
       
       Es gibt keine Zahlen, wie viele Menschen jedes Jahr entführt und zu
       Politikern gemacht werden. Eigentlich könnte es jeder sein, den man täglich
       im Fernsehen oder in den Zeitungen sieht. Oder jede, denn in letzter Zeit
       werden offenbar auch Frauen entführt. Die zuständigen Polizeibeamten zucken
       angesichts des anhaltenden Politnappings hilflos mit den Schultern. Er habe
       Anweisung von ganz oben, nicht zu ermitteln, berichtet ein leitender
       Staatsanwalt, der nicht genannt werden will, und fügt im Vertrauen hinzu:
       „Ohne Politiker-Entführungen bricht doch unser gesamtes demokratisches
       System zusammen.“
       
       Was sagen die Entführten dazu? Wolfgang W. lacht. Die bekämen doch alles,
       was sie brauchten: teures Essen, teure Kleidung, Unterkunft, später sogar
       ein kleines Taschengeld, wenn sie artig sind. Und das in einem Land, wo ein
       großer Teil der vierköpfigen Familien mit zwei erwerbstätigen Elternteilen
       unter der Armutsgrenze lebt.
       
       ## Zukunft ohne Winken
       
       Markus M. sieht das anders. Er schüttelt den Kopf, als wir ihn mit der
       Aussage von Wolfgang W. konfrontieren. Zynisch nennt er diese Haltung. „Und
       dann hacken auch noch die ganzen Medien auf uns Politikern herum, und die
       Wähler sind gemein zu uns“, jammert er. „Niemand hat Mitleid, dabei machen
       wir das doch alles gar nicht freiwillig.“
       
       Wie geht es weiter mit Markus M.? Er würde sich gern einen Job suchen, aber
       das wird schwierig, er hat ja so gut wie keine Qualifikation. Ein Studium
       konnte er nie beginnen, etwas anderes als Reden und Winken hat er nicht
       gelernt. Wahrscheinlich wird er Hartz IV beantragen müssen, doch da drohen
       ihm weitere Schulungen und Maßnahmen. Zurzeit ist er krankgeschrieben und
       lebt wieder bei seinen Eltern. „Ich hab ja nichts, alles was ich hatte,
       gehört der Partei.“
       
       Er würde gern weinen. Doch er hat keine Tränen mehr.
       
       1 May 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Michael-André Werner
       
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