# taz.de -- Der wandernde Kuchen: Wo ist eigentlich Hermann?
       
       > Der Kettenbriefkuchen Hermann war schon ein Community-Cake, als es das
       > Netz noch nicht gab. Eine Wiederbelebung.
       
 (IMG) Bild: 1. Tag: ruhen, 2. Tag: umrühren, 3. Tag: umrühren, 4. Tag: umrühren.
       
       Hermann ist kein Name, Hermann ist eine Legende. Ein Casanova, der sich in
       den 1980er Jahren in die Herzen und Küchen vieler Frauen – und Männer –
       schlich. Etwas blass, schwabblig, mit strengem Geruch kam er daher. Kein
       Schönling, aber zäh und auf seine Art charmant. Meist tauchte er
       überraschend auf, blieb mehrere Tage, der Abschied war süß.
       
       Heute ist er nur noch ein Abklatsch seiner selbst. Sein Name geistert durch
       Internetforen, beflügelt die Fantasie ehemaliger Liebhaber. Wer war er,
       dieser Hermann?
       
       Hermann-Tagebuch, Tag 1: [1][Hermann lebt]. Wiedererweckt aus Mehl, Zucker,
       Wasser und Hefe, dümpelt er teigig weiß in einer Tupperschüssel. Nicht
       gerade sexy.
       
       Tag 2: Hermann war den ganzen Tag allein. Er blubbert. Ist er beleidigt?
       Ein paar Schläge mit dem Kochlöffel, dann ist Ruhe.
       
       Hermann ist ein Sauerteig. Zehn Tage wächst er heran: isst, ruht, möchte
       immer wieder umgerührt werden. Er endet als Kuchen. Mit Kirschen, Äpfeln,
       Marzipan, Rumaroma, Schokostreuseln, ganz nach Geschmack. Zuvor aber wird
       er in vier gleiche Teile geteilt. Einer wird gebacken, die anderen drei,
       die sogenannten Hermannkinder, bekommen Freunde – oder Feinde. Das Ritual
       beginnt von vorn.
       
       ## „So lala“ oder „verdammt lecker“
       
       Die taz hat ihre Leser auf Facebook gefragt, ob sie sich an Hermann
       erinnern. Die Reaktionen: überwältigend. Es sind vor allem Frauen, die
       antworten, weil ihnen „das Herz aufgeht“, wenn sie nur den Namen hören.
       Andere klingen ernüchtert und finden: „Hermann ist der überschätzteste
       Langweiler unter den Kuchen. Wie der Dreamboy, den alle Mädchen toll fanden
       und der heute einfach nur eine arme Suppe ist.“ Die Meinungen reichen von
       „abscheulich“ über „so lala“ bis zu „verdammt lecker“.
       
       Manche Begegnung mit Hermann verlief kurz und tragisch. Ein taz-Leser
       erinnert sich an Kannibalismus in der eigenen Familie: Er hatte Hermann in
       der Grundschule kennengelernt, mit nach Hause gebracht, gepäppelt und
       gepflegt. Bis zu jenem Morgen, als er in die Küche kam, der Freund
       verschwunden war. Der Vater hatte den Teig auf der Suche nach einem
       Betthupferl mit Quarkspeise verwechselt und komplett ausgelöffelt.
       Magenprobleme bekam er keine, dafür einen aufgelösten Sohn.
       
       Tag 3: Hermann sitzt den ganzen Tag im Kühlschrank. Keinen Hunger.
       Angeblich. Unternehmungen? Sind ihm zu anstrengend. Ein echter Entertainer
       eben.
       
       Tag 4: Schlechte Stimmung. Hermann ist sauer, riecht man auch. Verlässt den
       Kühlschrank quasi nur noch, um sich kurz unterpflügen zu lassen. Mitunter
       stellt einen die Beziehung zu Hermann vor ein moralisches Dilemma. Eine
       Veganerin fragt, ob er ihr zuliebe wohl auf Milch verzichten kann. Ein Fall
       für die Expertin. Stefanie Herberth ist Biologin und betreibt den Blog
       „Hefe und mehr“. Auf Anfrage der taz begann sie, einen eigenen Hermann zu
       züchten – und fand heraus, dass man die Milch durch Wasser ersetzen kann.
       
       ## Leben mit Milchsäure
       
       Das Geheimnis des Teiges ist laut Biologin eine alkoholische Gärung. Die
       Hefe wandelt den beigesetzten Zucker in Alkohol und Kohlenstoffdioxid um.
       Ist das Gefäß mit Hermann luftdicht verschlossen, kann es passieren, dass
       er früher oder später den Deckel durch den Kühlschrank katapultiert – dann
       ist ein Teil des Gases entwichen. Kurz: Hermann hat Blähungen.
       Milchsäurebakterien arbeiten sich ebenfalls am Zucker ab. Milchsäure
       entsteht und hält den Teig am Leben – auch ohne die Zugabe von Milch. Und
       die schlechte Nachricht? Siedeln sich aufgrund des hohen Alkoholgehalts
       Essigsäurebakterien in ihm an, riecht und schmeckt der Teig wie Essig. Weil
       die Bakterien Wärme lieben, empfiehlt Herberth, ihn kühl zu lagern.
       
       Tag 5: Nach tagelangem Schweigen heute ein gemeinsames Essen. Hermann
       verschlingt nur Mehl, Unmengen Zucker und stürzt ein Glas Milch hinunter.
       Wirkt gleich einige Gramm schwerer.
       
       Tag 6: Ist ihm das Essen nicht bekommen? Er wirkt aufgedunsen, schwer und
       behäbig. Irgendwie auch zufrieden.
       
       Wer dem Teig seinen Namen gab, ist nicht überliefert. Fest steht, er hat
       noch einen Verwandten in den USA: das Amish Friendship Bread. Vielleicht
       der Ur-Hermann. Es ist süßer als sein deutscher Enkel und war angeblich
       ursprünglich als milde Gabe für Bedürftige gedacht. Hermann heißt auch mal
       Vatikanbrot oder Glückskuchen. Vielleicht war es aber gerade der männliche
       Vorname, der ihm das Überleben sicherte. Eine taz-Leserin schrieb auf
       Facebook: „Er hat mir damals richtig Stress gemacht, diese Fütterei und
       dann das Backen“. Eingehen lassen konnte sie ihn trotzdem nicht, „weil er
       ja einen Namen hatte. Ich habe meine damaligen Mitmieter verflucht, dass
       sie ihn mir einfach vor die Tür gestellt hatten.“
       
       ## „It’s called Hermann“
       
       Tag 7: Wohl eine Magenverstimmung, Hermann bläht sich gefährlich auf. Suche
       vorsichtshalber Deckung.
       
       Tag 8: Auf sich allein gestellt, überlebt Hermann nicht. Also muss er mit
       auf Reisen. Widerwillig tauscht er Kühlschrank gegen Autorückbank. Mault,
       ihm sei zu warm.
       
       Hermann breitete sich vor 30 Jahren invasiv aus. Kaum ein Kühlschrank, in
       dem er nicht schwabbelte. Wie ein taz-Leser feststellen musste, wanderte
       der Kuchen nicht nur von Haushalt zu Haushalt, sondern auch über
       Ländergrenzen hinweg. Er war mit seiner Familie in Schottland unterwegs. In
       einem kleinen Café verköstigte die Wirtin sie mit Scones, englischem
       Teegebäck. Und hatte noch eine Überraschung parat. Ein ganz neues Rezept
       aus Deutschland, wie sie betonte: „It’s called Hermann the friendship
       cake.“
       
       Die Mütter, deren Töchtern Hermann schöne Blasen machte, standen ihm meist
       skeptisch gegenüber. taz-Leser berichten, wie sie heimlich versuchten, den
       Kuchenteig zu entsorgen. Vielleicht sind seine Nachkommen deshalb nach
       Schottland ausgewandert. Aber auch die größten Fans hatten irgendwann
       genug. Dumm sei gewesen, erinnert sich eine Leserin an ihre Schulzeit, wenn
       man den dritten Tag hintereinander Hermann in der Brotdose gefunden habe.
       „Man konnte nicht mal ein Stück Kuchen gegen Käsebrot tauschen – die
       anderen hatten ja auch nur Hermann.“
       
       ## Kirschkuchen mit Schokostreuseln
       
       Wer es nicht über sich brachte, den Dauergast zu meucheln, konnte ihn
       einfrieren – in der Hoffnung, ihn später zu backen oder für immer zu
       vergessen. In manchem Tiefkühlfach vegetiert womöglich noch immer ein
       Hermann vor sich hin.
       
       Tag 9: Hermann im Auto vergessen. Richtig dicke Luft. Im Kühlschrank
       schmeißt er mit seinem Deckel um sich. Tauche ab, bis sich die Lage
       entspannt.
       
       Tag 10: Es ist aus. Hermann verkrümelt sich. Kirschkuchen mit
       Schokostreuseln, säuerliche Note. Lecker!
       
       Hermann ist eine Legende – und ein Märchen. Die enden meist mit „und wenn
       sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“. Mit ihm ist es
       ähnlich. Hefe-Expertin Herberth verrät: „Wenn so ein Teig gut gepflegt
       wird, kann er ewig leben.“ Hermann forever!
       
       8 May 2015
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://www.oetker.de/rezepte/r/grundrezept-hermann-teig.html
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Christine Luz
       
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