# taz.de -- Die polnische Wandlung
> Die neue Regierung in Warschau will die Weichenstellung von 1989 aufheben
> und das politische System zurücksetzen. Jarosław Kaczyński, der
> inoffizielle Machthaber, kämpft gleichzeitig gegen Kommunismus, liberale
> Werte und alles, was nach Fremdbestimmung aussieht.
von Anna Wojciuk und Lukasz Mikolajewski
Wenige Monate haben ausgereicht, um die Regeln der polnischen Demokratie zu
verändern. Statt Donald Tusk und seiner relativ stabilen, auf die
Mittelklasse orientierten Regierung, die sich freilich um schwierige
Themen drückte, regiert in Warschau heute ein Jarosław Kaczyński, der den
Umbau des politischen Systems betreibt und die Macht „dem Volk“ übergeben
will – also denjenigen Polen, die ihr Schicksal Kaczyński und seiner
Partei blind anvertrauen. Die PiS („Recht und Gerechtigkeit“) ist trotz der
farblosen Ministerpräsidentin Beata Szydło und des jungen Präsidenten
Andrzej Duda nicht weniger radikal als in ihrer ersten Regierungsperiode
von 2005 bis 2007. Nur dass sie heute mehr Macht hat.
Mit ihren Siegen bei der Präsidentenwahl im Mai und der Parlamentswahl im
Oktober 2015 schuf die PiS Voraussetzungen für eine politische Agenda, mit
der sie Anhänger wie Gegner verblüfft. Was da wie ein Springteufel aus dem
PiS-Kasten schnellte, war nicht das versprochene Sozialprogramm, sondern
das Projekt, die Gewaltenteilung zu verändern. Für kundige Beobachter kam
diese Entwicklung wenig überraschend – ähnlich hatte es Kaczyński seit
Jahren angekündigt.
Der PiS-Vorsitzende gehört zu den Schlüsselfiguren, die das polnische
Parteiensystem nach 1989 gestaltet und das politische Vokabular des
postkommunistischen Polen geschaffen haben. Er kann sogar als der insgesamt
einflussreichste Politiker gelten, wenn man einbezieht, dass die von 2007
bis 2015 regierende Bürgerplattform (Platforma Obywatelska, PO) ihre
Wahlsiege mit der Aussage errang, nur sie könne Kaczyński von der Macht
fernhalten. Dabei strebt der PiS-Vorsitzende erklärtermaßen gar kein
Spitzenamt innerhalb der demokratischen Institutionen an.
## Kaczyński als Rächer der Enterbten
Statt sich persönlich ans Steuer der Staatskarosse zu setzen, spielt er den
Fahrlehrer, der dem Schüler Anweisungen gibt und Gaspedal und Bremse
kontrolliert.[1]Es sind eindeutig Kaczyńskis politische Diagnosen und
strategische Ziele, die den gesellschaftlichen Konfrontationskurs der
PiS-Regierung bestimmen.
Wie konnte es dazu kommen? Die Wahlen vom Oktober brachten ein Resultat,
das in der polnischen Demokratie bislang einmalig war: Mit nur 37,6 Prozent
der Wählerstimmen erlangte die PiS die absolute Mehrheit im Sejm, dem
Unterhaus des Parlaments.[2]Damit kann sie erstmals ohne
Koalitionspartner regieren und ihre legislative Macht konsequent nutzen.
Die bisherige Regierungspartei PO blieb mit 24,1 Prozent um 15
Prozentpunkte hinter ihrem Ergebnis von 2011 zurück. Einen Großteil ihrer
Wähler verlor sie an neu gegründete Parteien, vor allem an die Nowoczesna
(„Die Moderne“), die ein ähnlich neoliberales Programm propagiert, wie es
die PO nach ihrer Gründung vertreten hatte.
Zum Erstaunen vieler Beobachter zog auch die Partei Kukiz 15 des
Rockmusikers Paweł Kukiz mit 8,8 Prozent als drittstärkste Partei in den
Sejm ein. Kukiz selbst vertritt libertäre wie nationalistische Positionen
und hievte über seine Liste mehrere Aktivisten der rechtsradikalen Ruch
Narodowy (Nationalbewegung) ins Parlament.
Ein weiteres wichtiges Ergebnis der Wahlen ist, dass erstmals keine „Linke“
im Sejm vertreten ist. Das linke Wahlbündnis um die postkommunistische
Demokratische Linksallianz scheiterte an der (für Koalitionen geltenden)
Achtprozenthürde. Das lag auch an dem bemerkenswerten Erfolg der neuen
Linkspartei Razem („gemeinsam“), die mit einem an Syriza und Podemos
erinnernden Programm vornehmlich städtische Jungwähler ansprechen
konnte.[3]
Die politische Achse hat sich damit erneut verlagert, ähnlich wie nach dem
Beitritt zur Europäischen Union im Mai 2004. Bis dahin verlief die
Haupttrennlinie zwischen den postkommunistischen Sozialdemokraten und den
diversen – liberalen bis rechten – Parteien, die aus der
Solidarność-Bewegung hervorgegangen waren.
11 Feb 2016
## AUTOREN
(DIR) Anna Wojciuk und Lukasz Mikolajewski
## ARTIKEL ZUM THEMA