# taz.de -- ■ VOM BRODELN IN DER INDOENGLISCHEN LITERATUR: Die Zerrissenheiten fremder eigener Sprachwelten
       
       DIE politischen Debatten um die „fatwah“ gegen Salman Rushdie läßt
       hierzulande nur zu leicht in Vergessenheit geraten, daß der
       „Gotteslästerer“ in erster Linie ein überragender Schriftsteller ist. Er
       gehört zu jener neuen breiten Strömung innerhalb der englischsprachigen
       Literatur, die sich vor allem in Indien und unter indischen Emigranten im
       früheren britischen Empire entwickelt hat. Texte, die in vielfältigster
       Weise von der Zerrissenheit der im wilden Tohuwabohu des ausgehenden
       Jahrhunderts brodelnden Vorstellungswelten zeugen.
       
       Von TIRTHANKAR CHANDA * 
       
       Als die Jurymitglieder des erzbritischen Booker Prize 1981 entschieden, die
       „Mitternachtskinder“1 des indischen Immigranten Salman Rushdie
       auszuzeichnen, konnten sie nicht ahnen, welch ungeheuer mitreißende und
       befreiende Wirkung dieser Roman auf die in modischer Nabelschau versunkene
       englische Literatur haben sollte. Die Kritiker meinten, dieser schwer
       zugängliche Roman, der in den barocken Abenteuern seines Helden die jüngere
       indische Geschichte widerspiegelt, würde bei den Lesern keinen Anklang
       finden. Weit gefehlt. Mit über zwei Millionen verkauften Exemplaren war
       dieses Buch ein eindeutiger Publikumserfolg. Darüber hinaus gilt es heute
       als eines der großen Werke des ausgehenden Jahrhunderts. Die
       „Mitternachtskinder“, die „die Grenzen des Romans erweitert und unsere
       Sicht der gewaltsam sich verändernden Welt verwandelt haben“2, haben es
       geschafft, einer neuen Schriftstellergeneration aus allen Ecken des
       ehemaligen Commonwealth den Weg zu ebnen.
       
       Amit Chaudhury, Amitav Ghosh, Keri Hulme, Kazuo Ishuguro, Firdaus Kanga,
       Rohinton Mistry, Timothy Mo, Ben Okri, Michael Ondaatje, Caryl Philipps,
       Vikram Seth, Shashi Tharoor heißen die kosmopolitischen Autoren, die der
       englischen Literatur die innovativsten Werke der letzten Jahre beschert
       haben. Angeregt von der Virtuosität, mit der Salman Rushdie mit den Grenzen
       zwischen Traum und Realität, Mitte und Rand, Fiktion und Geschichte spielt,
       haben sie die Sprache Shakespeares und Virginia Woolfs im Sturm erobert, um
       Bombay und Oxford in ihr zu vereinen.
       
       Daß es in den Reihen dieser neuen Schriftstellergeneration mehrheitlich
       Inder gibt, rührt daher, daß Salman Rushdie, der seinen Stoff aus der
       ergiebigen indopakistanischen Lebenswelt schöpft, mit seinem Triumph die
       englischsprachige Literatur Indiens ungeheuer aufgewertet und so etliche
       zum Schreiben Berufene ermutigt hat. Das Bürgertum, aus dem die meisten
       anglophonen indischen Schriftsteller stammen, ist stolz auf seine lange und
       reiche Tradition in Sachen Anglophonie.3 Zu Beginn der achtziger Jahre
       jedoch ging es mit der anglophonen Literatur abwärts, weil in ihr
       Achtzigjährige (Mulk Raj Anand, Raja Rao, R.K. Narayan), die nicht gerade
       auf der Höhe der indischen Modernität waren, den Ton angaben. Und dann kam
       Rushdie. Seine originelle Auffassung vom Roman als Instrument zur
       Subversion der offiziellen, chronologischen Geschichte, sein an Bildern,
       Wortspielen und Worterfindungen reicher Stil, dessen erklärtes Ziel es ist,
       die Sprache aus ihrem Ghetto zu befreien, zu entkolonisieren, und außerdem
       sein von der Lebensfreude der Vorstadtjugend Bombays gesättigter Humor
       haben dem indoenglischen Roman eine neue Vitalität eingehaucht.
       
       „In den vergangenen zehn Jahren wurden mehr englischsprachige indische
       Romane veröffentlicht als in der ganzen Zeit zwischen 1930 und 1980“4,
       schreibt Meenakshi Mukherjee, Professor für Literatur an der
       Nehru-Universität in Neu-Delhi. Daß die indoenglischen Romanciers der
       achtziger Jahre in London, New York und Toronto gleichermaßen hoch
       geschätzt werden und daß die Zahl der Titel so enorm zugenommen hat,
       entspricht laut Mukherjee einem allgemeinen Phänomen innerhalb der
       indischen Gesellschaft, nämlich dem Aufstieg der Mittelklasse. Die
       Urbanisierung und die stetige wirtschaftliche Entwicklung, die seit einigen
       Jahrzehnten in Indien stattfinden, haben die Entstehung einer neuen Elite
       begünstigt. Diese in den berühmten English medium schools ausgebildete
       Schicht steht der englischen Empfindungswelt instinktiv näher als jener,
       die sich in den Landessprachen ausdrückt.
       
       Die lesenden Yuppies aus Bombay und Delhi zum Beispiel waren es, die dem
       Roman „English, August“ des jungen Schriftstellers Upamanyu Chatterjee5 zu
       seinem unerwarteten Erfolg verhalfen. Seit seinem Erscheinen 1988 sind
       15.000 Exemplare des Buchs verkauft worden, eine mehr als respektable
       Anzahl für einen Erstlingsroman. Chatterjee, ein respektloser Ikonoklast
       wie Rushdie, doch ohne den epischen Atem, der dessen Werk charakterisiert,
       erzählt in seinem Schelmenroman die Leiden des Agastya Sen, eines zum
       Umgang mit Korruption und Mittelmäßigkeit verurteilten jungen Beamten, die
       der unüberwindliche Horizont der indischen Bürokratie zu sein scheinen. Daß
       zahlreiche Leser sich mit diesem Antihelden identifizierten, liegt daran,
       daß er den passiven, aber realen Widerstand der Jugend gegen den Zynismus
       und die Gemeinheit verkörpert, die im heutigen Indien verbreitet sind.
       
       Der Roman ist um so attraktiver, als er sich auf weit verbreitete
       Erfahrungen stützt, wie etwa die Abscheu vor der Häßlichkeit der Vorstädte
       („Sechs Uhr morgens. Wir fahren durch die Industriestädte am Rande von
       Delhi, deren Häßlichkeit nicht einmal das Morgenlicht zu mildern vermag.“)
       oder die Anfälle von Verzweiflung angesichts des Überhandnehmens der
       Routine („sich vollaufen lassen, sich einsam fühlen, sich einen
       runterholen“).
       
       Ein unerschrockenes Sicheinlassen auf die indische – von Fragmentierung,
       Wurzellosigkeit und Verzweiflung geprägte – Modernität, von der die
       indoenglische Literatur sich weitgehend entfernt hatte, scheint das
       Vorhaben der meisten zeitgenössischen Autoren zu sein. Alles vermittelt den
       Eindruck, als wollten sie die Deterritorialisierung der Sprache durch eine
       Reterritorialisierung in der Vorstellung kompensieren.
       
       Der sowohl in Indien als auch im Westen zunehmende Anklang täuscht über die
       Spannungen im Schreiben der jungen indoenglischen Schriftstellergeneration
       hinweg, das auf der Dichotomie von Ausdrucksform (englische Sprache) und
       Inhalt (indische Themen) beruht. Schon 1938 schrieb Raja Rao im Vorwort zu
       seinem Roman „Kanthapura“: „Es war nicht leicht, diese Geschichte zu
       schreiben, denn es kam darauf an, den uns eigenen Geist in eine Sprache zu
       übertragen, die nicht die unsere ist.“6 Nichts anderes antwortete kürzlich
       die junge Autorin Nina Sibal auf eine entsprechende Frage: „Für uns
       indische Schriftsteller ist es undenkbar, das englische Englisch zu
       reproduzieren. Wir schreiben in jener Sprache, die man im guten wie im
       schlechten Sinn indisches Englisch nennt. Sie unterscheidet sich vom
       Standard English nicht aufgrund ihrer Konformität bzw. Nichtkonformität mit
       den grammatikalischen Regeln, sondern in der Art und Weise, in der wir sie
       aktiv verändern, um alle Nuancen eines Denkens oder Sprechens zu erfassen,
       das sich ursprünglich meist in einer anderen Sprache artikuliert.“
       
       Zu dieser inneren Spannung kommt noch die mit dem soziologischen Status des
       Englischen in Indien verbundene Spannung hinzu. Die Unabhängigkeit hat den
       Gebrauch des Englischen problematisch gemacht und seine Deterritorialität
       verschärft. Das führt zu den ewigen Debatten über die Vorzüge einer
       Beibehaltung der Sprache des Kolonisators als allgemein verbindende Sprache
       (link language), die die Anhänger des Englischen den Pro-Landessprachlern
       entgegenhalten, zumal die Zahl der Anglophonen im Lande von kaum fünf
       Millionen beim Abzug der Briten 1947 auf fast fünfzig Millionen zu Beginn
       der neunziger Jahre angewachsen ist.
       
       Trotz der einseitigen Politik der Zentralregierung zugunsten der
       Landessprachen hat sich das Hindi (die Sprache der Mehrheit) auf nationaler
       Ebene nicht durchsetzen können, vermutlich weil das Englische mehr und mehr
       als ein Faktor zur Öffnung auf die westliche Welt angesehen wird, die
       aufgrund ihrer materiellen und technologischen Überlegenheit ein ungeheures
       Prestige genießt. Außerdem hat sich bei der komplexen linguistischen
       Situation Indiens, wo achtzehn größere Landessprachen und mehrere tausend
       Dialekte nebeneinander existieren – eine Koexistenz, die nicht immer
       reibungslos verlief –, die neue, auf den Werten Laizismus und Demokratie
       beruhende panindische Identität um das Englische herum kristallisiert.
       Schließlich haben die totalitären Gelüste der Regierung Indira Gandhi und
       das Anwachsen des hinduistischen Fundamentalismus dazu beigetragen, die
       Rolle des Englischen als Träger einer progressiven „Gegenkultur“ zu
       verstärken.7 So kam es, daß Ende der achtziger Jahre die indoenglische
       Literatur in eine neue Phase trat, die der Auseinandersetzung mit der
       indischen Modernität.
       
       ## Bedrohliche Intoleranz
       
       VIELE Romanciers halten diese Modernität für äußerst prekär und von Chaos
       und Intoleranz bedroht. Anita Desai, die sehr einfühlsam die Themen des
       schwierigen Zusammenlebens zwischen Hindus und Muslimen und der zunehmenden
       Marginalisierung der Urdu- Kultur behandelt hat, beschreibt in ihrem Roman
       „Im hellen Licht des Tages“8 die Gewalttätigkeiten, zu denen es 1947 bei
       der Landverteilung kam: „In jenem Sommer stand die Stadt in Flammen. Jede
       Nacht erhellten Feuer den Horizont jenseits der Stadtmauern. Der Himmel
       nahm beunruhigende Farben an, mit fröhlichen orange-roten Flammen. Mitunter
       erhob sich eine weiße Rauchsäule, die gerade und starr wie ein Obelisk in
       der Dunkelheit stand. Bim ging auf der Terrasse auf und ab und glaubte
       Detonationen, Schreie und Geheul zu hören...“ Schreckensbilder, die Bim
       nicht vergessen kann, da sie sie mit dem Auseinanderbrechen ihrer Familie
       verbindet.
       
       Die Einbettung der individuellen Erfahrung in das kollektive Gedächtnis ist
       offensichtlich eines der gemeinsamen Themen dieser Romanciers: Es geht
       ihnen darum, die Welt von innen her neu zu schreiben. Das ist auch Salman
       Rushdies Ziel, wenn er Saleem Sinai, den Helden der „Mitternachtskinder“,
       am 15. August 1947, Schlag Mitternacht, zur Welt kommen läßt: „Genau in dem
       Augenblick, als Indien unabhängig wurde, bin ich in die Welt gepurzelt.“
       Muß man sich da wundern, daß er „an die Geschichte gekettet ist“ und daß
       sein „Schicksal unauflöslich mit dem seines Landes verbunden ist“? In ihrem
       Roman „Yatra“9 hat Nina Sibal die gleiche Strategie gewählt und das
       Geburtsdatum ihrer Heldin auf den Jahrestag des Massakers von
       Jallianwalabagh gelegt. (Am 13. April 1949 ließ ein englischer General dort
       in die Menge schießen, und es gab mehrere hundert Tote.) In „Beethoven
       Among the Cows“10 von Rukun Advani, halb Bildungsroman, halb
       Gesellschaftssatire, sagt der Erzähler, nachdem er aus der Zeitung von der
       Erstürmung des Goldenen Tempels von Amritsar11 durch die Armee erfahren
       hat, zu seinem Bruder, sie müßten sich das Taj Mahal ansehen, bevor es zu
       spät sei. Aber erst die Zerstörung der Moschee von Ayodhya acht Jahre
       später, 1992, durch Hindu-Fundamentalisten12 wird die Brüder dazu bewegen,
       ihren Besuch nicht länger aufzuschieben, aus Angst, daß das Taj Mahal
       „ebenfalls für das Publikum geschlossen oder beschlagnahmt oder abgerissen“
       werden könnte. Dieses Nebeneinanderstellen der ungleichzeitigen, aber ein
       und derselben Logik der Intoleranz folgenden Ereignisse in Amritsar und
       Ayodhya bestätigt das geheime strategische Einverständnis des Staates und
       der Fundamentalisten gegenüber den Minderheiten, die verzweifelt versuchen,
       an ihrem Anderssein festzuhalten.
       
       Ein anderes brillantes Beispiel für einen Text, der sich mit der
       herrschenden Sicht auseinandersetzt, ist „The Great Indian Novel“ von
       Shashi Tharoor13. Er will beweisen, daß „Indien kein unterentwickeltes Land
       ist, sondern im Gegenteil eine hochentwickelte Nation im Zustand
       fortgeschrittener Dekadenz“. Diese Dekadenz zeigt sich am eklatantesten im
       politischen Leben. Daher hat der Autor den ehrgeizigen Versuch unternommen,
       die politische Entwicklung des Landes der vergangenen hundert Jahre durch
       das Prisma des „Mahabharata“ zu interpretieren. Dieses Urepos liefert ihm
       eine reiche und exemplarische Genealogie, die er sich zum Vorbild nimmt, um
       die gegenwärtigen und früheren Politiker darzustellen und ihre geheimen
       Triebkräfte bloßzulegen: diese speisen sich weit häufiger aus persönlichen
       Ambitionen, Größenwahn, Lust am Luxus und an der Macht als am Gemeinwohl
       der Nation. Unter allen Hauptakteuren des politischen Lebens, die mit
       ätzender Unverschämtheit fertiggemacht werden, ist Indira Gandhi die
       bevorzugte Zielscheibe wüstester Verwünschungen, dargestellt in der Figur
       der diabolischen, autoritären Priya Duryodhani.
       
       Shashi Tharoor ist keineswegs der einzige, der mit Indira Gandhi eine
       Rechnung zu begleichen hat. In den „Mitternachtskindern“ ist sie „die Witwe
       mit dem nachtschwarzen Haar“, mit der grünen Haut und den „langen, spitzen,
       schwarzen“ Fingernägeln, die die Wände mit dem schwarzen Blut der Kinder
       beschmieren. Der Emigrant Rohinton Mistry macht sie in seinem Roman „So
       eine lange Reise“14 zur Symbolfigur des Bösen. Diese unverhoffte
       literarische Karriere der Tochter Nehrus entspricht der tiefen Verwirrung,
       in die sie der zynische Umgang mit der Macht in der Öffentlichkeit gestürzt
       hat. Insbesondere der Ausnahmezustand, den sie 1975 durchsetzte, hat sie
       zum schwarzen Schaf der freiheitlichen und demokratischen Intelligenzija
       gemacht. So gibt Salman Rushdie in „Heimatländer der Phantasie“15 die
       allgemeine Stimmung wieder, wenn er schreibt: „Die zahlreichen Übel, die
       das heutige Indien bedrängen – allen voran das Wiederaufleben des
       religiösen Extremismus – sind in jener Zeit der Diktatur und der
       staatlichen Gewalt entstanden.“
       
       Man muß jedoch feststellen, daß die Kritik oder die „Gegenmythen“, die die
       Schriftsteller den totalitären Bestrebungen der „Witwen“ bzw. einer Priya
       Duryodhanis entgegensetzen, ebenfalls in Verzweiflung münden. Saleem Sinai
       zum Beispiel wird von der Menge mit Füßen getreten, „weil es das Privileg
       und der Fluch der Mitternachtskinder ist, zugleich Herr und Opfer ihrer
       Zeit zu sein“. Ebenso gewinnt im letzten Kapitel von „So eine lange Reise“
       einmal mehr noch die Traurigkeit die Oberhand, gepaart mit dem
       schmerzlichen Bewußtsein, daß man in „einer Welt“ lebt, „in der die
       öffentlichen Aborte Tempel und Kultstätten geworden sind, während die
       wirklichen Tempel und Kultstätten dem Verfall und dem Staub preisgegeben
       sind“.
       
       Wenn schon der politische Roman mit seiner Sicht der offiziellen Geschichte
       in einer Sackgasse endet, eignet sich dann vielleicht das Thema Emigration,
       das bei den exilierten Romanciers im Mittelpunkt steht, zu einer
       optimistischeren Betrachtung? Paradoxerweise ja, wenn man den Figuren von
       Amitav Ghosh glaubt, die das Exil als Befreiung erleben. Diese Einstellung
       wird illustriert durch die Auseinandersetzung, die der Erzähler in
       „Schattenlinien“16 mit seiner Cousine Ila vor der Tür des Grand Hotel in
       Kalkutta hat. Die junge Londonerin, die in Indien zu Besuch ist, kommt nur
       schwer mit der patriarchalischen Mentalität ihrer Verwandten zurecht.
       Angesichts des Verbots, zu tanzen, mit wem sie will, bricht es aus ihr
       heraus: „Verstehst du jetzt, warum ich mich entschieden habe, in London zu
       leben? Verstehst du es? Einzig und allein, weil ich frei sein will! (...)
       Frei von euch! Frei von eurer beschissenen Kultur und frei von euch allen.“
       
       Auch die indoamerikanische Erzählerin Bharati Mukherjee fordert lautstark
       diese absolute Freiheit, ihr Schicksal selbst wählen und ihre Identität
       jederzeit und uneingeschränkt neu definieren zu können. Sie, die aus
       Bengalen und dem Punjab stammt und nach einem Zwischenaufenthalt in Kanada
       in die Vereinigten Staaten ging, ist mit ihrer Weltläufigkeit und ihrer
       kulturellen Mixtur eine typische Vertreterin der postkolonialen Welt. Die
       Flüchtlinge, Immigranten und sogenannten Uramerikaner, die sich in ihren
       Romanen und Erzählungen allenthalben begegnen, sind selbst Teil dessen, was
       sie als „Tohuwabohu im labilen Magma zwischen den Kontinenten“
       beschreibt.17
       
       Dieses Tohuwabohu ist nicht nur Bharati Mukherjees wesentlichste Quelle der
       Inspiration, sondern gleichzeitig die Quelle neuer, parzellierter,
       zerrissener, vielschichtiger Identitäten, wie jene Jasmine, die Heldin des
       gleichnamigen ersten Romans von Bharati Mukherjee. Jasmine, die wie die
       Autorin aus Punjab stammt, landet schnurstracks in Florida. Die ganze Kunst
       der Erzählerin zeigt sich dann in der Darstellung der aufeinanderfolgenden
       Metamorphosen – eine dramatischer als die andere –, über die
       Jyoti-Jasmine-Jane-Jazzy-Jase lernen wird, sich neu zu erfinden. Das
       gleiche Hinausschieben der Grenzen einer vorgegebenen Identität findet sich
       in ihrem zweiten Roman. Die Heldin in „The Holder of the World“ ist eine
       schöne Amerikanerin des 17. Jahrhunderts, deren Spuren die Verfasserin in
       indischen Miniaturen nachgegangen ist.18 Das bewegte Leben Hannah Eastons,
       die zwischen ihrem heimatlichen Massachusetts und der Koromandelküste in
       Südindien hin- und herreist, ehe sie am gestrengen Hofe des Moguls
       Aurangzeb zu sich findet, ist die Folie, auf der die Autorin eine
       multikulturelle Erfahrung avant la lettre imaginiert.
       
       Wie Bharati Mukherjee preist Salman Rushdie die Pluralität, eine
       intrakulturelle Gemeinschaft der Menschen. „The Courter“, die
       ausgereifteste Geschichte in seinem neuesten Erzählungsband „East & West“,
       schildert die bewegende Liebesgeschichte zwischen einem osteuropäischen
       Portier und einer indischen Gouvernante. Während Mary einige Wörter
       Englisch radebrechen kann, hat Mécir wegen seines starken Akzents
       Schwierigkeiten, sich verständlich zu machen. Um seine sprachliche
       Unfähigkeit wettzumachen, führt Mécir Mary in die Regeln des Schachspiels
       ein, das diese im Nu beherrscht. Darauf entsteht zwischen den beiden ein
       seltsamer Einklang der Gefühle, unterbrochen von Schachpartien, die als
       regelrechte körperliche Vereinigungen erlebt werden!
       
       Die Avisheks, Eshas, Shehnazs oder Mandiras aus den Büchern von Sunetra
       Gupta19 und Amit Chaudhuri20 scheinen ihr Migrantenschicksal etwas
       zurückhaltender zu beurteilen und diese etwas romantische Sicht von der
       Liebesverschmelzung des Orients und des Okzidents nicht zu teilen. Tod oder
       Trennung erweisen sich als die einzigen Metamorphosen, nach denen sie
       streben können. Jede der Geschichten in dem Band „Swimming Lessons and
       other Stories from Firozsha Bagh“ des Indokanadiers Rohinton Mistry
       verbreiten die immer gleiche Verzweiflung, die immer gleiche Sehnsucht nach
       dem Herkunftsland: „Und je weiter sie sich entfernen werden, um so mehr
       werden sie sich erinnern“, sagt der Erzähler in der Titelgeschichte
       „Swimming Lessons“. „Das kann ich ihnen versichern.“
       
       Das Gefühl von Verzweiflung kommt wohl nirgends so stark zum Ausdruck wie
       in der feministischen Prosa, die dank innovativer Talente ungeheuer vital
       ist. Auch wenn Shashi Deshpande, Githa Hariharan, Jacqueline Singh oder
       Shama Futehally 21, um nur die bekanntesten zu nennen, von einer
       patriarchalischen Gesellschaft unterdrückte und gedemütigte Frauen
       darstellen, verstehen sie sich nicht ausschließlich als feminististische
       Autorinnen.
       
       „Ich sehe die Menschheit als Individuen“, schreibt Jacqueline Singh, die
       sich nicht auf eine vereinfachende Dichotomie Mann/Frau zurückziehen will.
       Githa Hariharan, die mit „The Thousand Faces of the Night“ und mit ihrem
       Erzählungsband über physische und geistige Todesarten große Beachtung fand,
       lehnt es ab, als Wortführerin der indischen Frauen angesehen zu werden.
       „Das Bild von der stets opferbereiten indischen Frau ist ein Mythos“, sagt
       sie.
       
       Dennoch bleiben das Schweigen, das die Gesellschaft den Frauen von
       frühester Kindheit an auferlegt, der Druck der Tradition und das ständige
       Zerrissensein zwischen gesellschaftlicher Rolle und Lebenstrieben die
       wichtigsten thematischen Schwerpunkte in den von Frauen veröffentlichten
       Romanen der letzten Jahre. Das Motiv des Schweigens, das dem sehr schönen
       Roman von Shashi Deshpande, „That Long Silence“, den Titel gab, ist die
       vielsagendste Metapher für das Frausein. Wenn sie sich aus diesem Schweigen
       befreien, wird es den Inderinnen gelingen, ihr Leben in die Hand zu nehmen.
       
       Wie könnte dieser Überblick über die Tendenzen der zeitgenössischen
       indoenglischen Literatur anders enden als mit einem Hinweis auf Vikram
       Seth, dessen enorme Begabung und Virtuosität ihn zu einer
       Ausnahmeerscheinung machen? Seth, dessen über 1.200 Seiten langes Hauptwerk
       „A Suitable Boy“22 1993 erschien, war schon mit mehreren Lyrikbänden
       aufgefallen, insbesondere mit „The Golden Gate“, einem erzählenden Poem in
       Versen, genauer gesagt: in tetrametrischen Sonetten à la Puschkin! Sein im
       realistischen Erzählstil des 19. Jahrhunderts geschriebener Roman, dessen
       epischer Atem von der angelsächsischen Kritik gelobt wurde, „ist eine
       Auseinandersetzung mit der Liebe und der Ehe im postkolonialen Indien der
       fünfziger Jahre“, schreibt die Spezialistin für indische Literatur, Geetha
       Ganapathy.23
       
       Im Mittelpunkt dieser breit angelegten Familiensaga steht die Suche nach
       „einem geeigneten Jungen“ für Lata, die Zentralfigur des Romans. Doch sehr
       schnell erweitert sich diese Suche nach einem individuellen Glück zu einer
       ausgedehnteren Suche, nämlich der nach einer „geeigneten“ Nation,
       verkörpert in der beschützenden Vaterfigur Nehru. Daß Vikram Seth seine
       Geschichte in der Realität der 50er Jahre, der Jahre des obsiegenden
       Säkularismus, angesiedelt hat, ist wahrscheinlich kein Zufall.
       
       Mit diesem hochpolitischen Hintergrund schließt „A Suitable Boy“ an die
       „Mitternachtskinder“ an, denen es zu Unrecht entgegengestellt wurde. Hinter
       Salman Rushdies magischem Realismus und dem realistischen Realismus eines
       Vikram Seth steht das gleiche Anliegen, die Realität zu problematisieren,
       ein Anliegen, das das wesentliche Charakteristikum der zeitgenössischen
       anglophonen indischen Schriftsteller ist, deren Verdienst darin besteht,
       eine Kolonialsprache zum vermittelnden Ort der „landessprachlichen“
       Auseinandersetzungen gemacht zu haben.
       
       16 Jun 1995
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Tirthankar Chanda
       
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