# taz.de -- Wenn Kinder zu Nazis werden: „Viele berichten, dass sie ihr Kind nicht wiedererkennen“
       
       > Sozialarbeiterin Eva Prausner leitet seit 2008 ein Projekt in Berlin, das
       > Eltern von rechtsextrem orientierten Kindern berät. Welche Rolle spielt
       > familiäre Stabilität?
       
 (IMG) Bild: Isoliert in brauner Gesinnung: Rechte Jugendgruppe „Deutsche Jugend Voran“ beim CSD-Gegenprostest im Juli
       
       taz: Frau Prausner, was geht in den Eltern vor, die sich an Sie wenden? 
       
       Eva Prausner: Die Eltern sind zu Beginn sehr belastet und haben sich in
       Auseinandersetzungen mit ihrem jugendlichen Kind stark aufgerieben. Sie
       haben oft alles Mögliche versucht, um mit ihrem Kind immer wieder in
       Kontakt zu kommen, aber erleben, dass die Versuche, das Kind zurückzuholen,
       blockiert werden. Hinzukommt, dass Jugendliche ab einem Punkt oft gar nicht
       mehr einsehen, warum sie diese Szene verlassen sollten. Sie haben nicht den
       Veränderungs- oder Leidensdruck wie die Eltern, weil sie sich eben genau
       dort zugehörig und richtig fühlen. Viele Eltern berichten, dass sie ihr
       Kind nicht wiedererkennen, dass es ihnen fremd geworden ist.
       
       taz: Wer sind die Eltern, die bei Ihnen Rat suchen? Welches Weltbild
       vertreten sie? 
       
       Eva Prausner: Es ist schon sehr häufig so, dass sich eine Wertedifferenz
       zwischen Eltern und Kind offenbart. Viele Eltern sagen: So habe ich mein
       Kind nicht erzogen. Sie verstehen sich als demokratisch oder liberal und
       leiden besonders unter dieser Entwicklung. Die meisten Eltern ordnen sich
       einer demokratisch orientierten Mitte zu, die sich gegen extrem rechte
       Einstellungen abgrenzt. Begriffe wie „antifaschistisch“ oder „links“ fallen
       eher selten. Sie leiden besonders unter dieser Entwicklung, weil sich diese
       fundamentale Wertedifferenz in der Familie besonders deutlich zeigt. Dann
       gibt es noch Eltern mit ambivalenten Haltungen. Sie lehnen diese Ideologie
       zwar ab, vertreten aber selbst alltagsrassistische Meinungen und damit auch
       Positionen ihres Kindes. Sie befürchten, dass es kriminell und gewalttätig
       wird oder seine berufliche Zukunft aufs Spiel setzt. Manche sorgen sich
       auch um den guten Ruf der Familie, der durch die Radikalisierung gefährdet
       sein könnte.
       
       taz: Gibt es einen „klassischen“ Zeitpunkt oder Auslöser, der Eltern dazu
       bringt, sich an Sie zu wenden? 
       
       Eva Prausner (dreht sich zu Rita Wenzel*): Rita, wie war das damals bei
       dir?
       
       Rita Wenzel: Ich kann mich nicht an einen Punkt erinnern, an dem ich gesagt
       hätte: Jetzt brauche ich Beratung. Es war eher ein schleichender Prozess.
       Mein damals 15-jähriger Sohn kam auf einmal mit Ansichten nach Hause, mit
       denen ich nicht klargekommen bin. Rechte Stammtischparolen, wie „die
       Ausländer nehmen uns die Mädchen oder Arbeitsplätze weg“ oder „Berlin ist
       die größte türkische Stadt“. Auch sagte er, dass seine Kameradschaft jetzt
       mehr Familie für ihn sei als ich. Ich habe immer und immer wieder mit ihm
       diskutiert, seine Äußerungen waren leicht zu widerlegen. Bei meinem Sohn
       hing diese Entwicklung maßgeblich mit [1][Gruppendynamiken an der Schule]
       zusammen. Eine Lehrerin, die ich auf das Problem angesprochen habe, hat das
       Ganze runtergespielt. Sie habe ja auch Probleme mit den Russen im Haus.
       Dass Jungs in Kampfmontur über den Schulhof gelaufen sind, wurde einfach
       ignoriert. Das war echt krass. Von der Schule habe ich mich ziemlich
       alleingelassen gefühlt. Zwischen meinem Sohn und mir hat es jedenfalls
       mächtig gekracht. Es gab viele Alltagskonflikte, auch weil es immer um
       Politisches ging. Irgendwann verhärtet sich die Beziehung.
       
       Eva Prausner: Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass es überwiegend
       Mütter sind, die sich zuständig fühlen und aktiv Hilfe suchen. Auch weil
       einige es unerträglich finden, von ihrem Sohn sexistisch beleidigt zu
       werden. Eltern, die sofort bei ersten Anzeichen reagieren, sind eher die
       Minderheit. Häufig kommt es erst nach einer Eskalation in der Familie zur
       Kontaktaufnahme, wenn etwa kaum noch ein vernünftiges Gespräch mit dem Kind
       möglich ist. Manchmal finden Eltern plötzlich Comics im Rucksack ihres
       Kindes, auf denen Gewalt gegen Personen abgebildet ist, die eindeutig
       rassistischen Feindbildern entsprechen. Das kann ein großer Schock und ein
       Auslöser für Beratung sein. Andere holen sich Hilfe nach einer
       Hausdurchsuchung oder einem Gewaltvorfall. In allen Auseinandersetzungen
       stellt sich die Frage: Was muss ich meinem Kind verbieten und was passiert,
       wenn ich es dann von mir wegtreibe? Das ist ein schwieriges Dilemma. Hinzu
       kommt, dass [2][Peergroups im Jugendalter eine enorme Bedeutung erhalten],
       was den Einfluss der Eltern auf ihr Kind weiter schmälert.
       
       taz: Welche Rolle spielen Scham- oder Schuldgefühle bei betroffenen Eltern? 
       
       Rita Wenzel: Schuldgefühle hatte ich nicht unbedingt. Vielleicht müsste ich
       Schuldgefühle haben, wenn ich nichts versucht hätte. Geschämt habe ich mich
       aber schon. Ich habe nicht mit jedem darüber gesprochen. Aber ich hatte
       genug Menschen in meinem Umfeld, mit denen ich reden konnte. Das war für
       mich sehr wichtig. Auch der Austausch mit anderen betroffenen Eltern, die
       sich ebenfalls Sorgen um ihr Kind machten, war wichtig.
       
       Eva Prausner: Es gibt immer Situationen, in denen Eltern das Gefühl hatten,
       nicht genug da oder Ansprechpersonen für ihr Kind gewesen zu sein. Im
       Rückblick wird oft deutlich, dass das Kind etwas vermisst oder sich nicht
       gut gefühlt hat. Es ist wichtig, sich das anzuschauen, aber auch, sich
       selbst verzeihen zu können. Wichtig ist auch, dass Eltern diesen Konflikt
       nicht nur zu ihrem eigenen Problem machen sollten. Das unterschätzt die
       Normalisierung extrem rechter Positionen in der Mitte der Gesellschaft, die
       sich in diesen vermeintlich privaten Auseinandersetzungen widerspiegelt.
       
       taz: Im Song „Schrei nach Liebe“ der Band Die Ärzte, der sich gegen die
       Neonazis der 1990er Jahre richtete, heißt es: „Deine Gewalt ist nur in
       stummer Schrei nach Liebe. […] Deine Eltern hatten niemals für dich Zeit.“
       Welche Rolle spielen Faktoren wie Zeit, familiäre Stabilität und emotionale
       Nähe bei der Radikalisierung von Jugendlichen? 
       
       Rita Wenzel: Ich war damals alleinerziehend und habe viel gearbeitet.
       Meinem Sohn könnten da tatsächlich Strukturen gefehlt haben, die er dafür
       in rechten Gruppen gefunden hat. Die konnte ich ihm zu dem Zeitpunkt
       zumindest so nicht bieten.
       
       Eva Prausner: Genau. Ich habe ja vor allem die Mittelschicht-Eltern am
       Apparat, die ökonomisch gut aufgestellt sind, mit Kindern, die materiell
       und bis dato ideell integriert sind. Trotzdem ist es wichtig, nach
       emotionalen Einstiegsgründen zu fragen. Welche Rolle spielen unerfüllte
       Bedürfnisse nach Sicherheit, Zugehörigkeit und Anerkennung oder auch
       Erfahrungen wie Einsamkeit, Ohnmacht, Mobbing oder Gewalt? Viele Eltern
       handeln auch schon entsprechend, bevor sie bei mir anrufen. Sie setzen
       einen Kontrapunkt, gehen in die Auseinandersetzung. Selbst wenn sie das
       Gefühl haben, damit keine Sekunde weiterzukommen. Jugendliche tragen eine
       Verantwortung für ihr Verhalten und könnten sich auch anders entscheiden.
       Menschenverachtung und Gewalt ist jedenfalls durch nichts zu rechtfertigen.
       
       taz: Was hält die Beziehung zwischen Eltern und rechtem Kind trotz
       intensiver Konflikte zusammen? 
       
       Eva Prausner: Wenn ein echtes Beziehungsinteresse da ist, trotz aller
       Kontroversen und Eskalationen. So fragen sich manche Jugendliche: Will ich
       meine Eltern oder Geschwister wirklich verlieren, nur um bei der
       Kameradschaft zu bleiben?
       
       Rita Wenzel: Mein Sohn ist mit der Zeit in viele Widersprüche geraten, die
       sein Weltbild durcheinandergebracht haben. Das kam auch durch unsere
       Diskussionen zu Hause. Heute ist er zum Glück völlig aus der Szene raus und
       geht nun gegen die AfD auf die Straße. Die Ablösung begann bei ihm nach der
       Schulzeit, als er eine Ausbildung anfing und sich sein soziales Umfeld
       veränderte.
       
       taz: Hat die Nachfrage nach Beratung seitens betroffener Eltern in den
       letzten Jahren zugenommen? 
       
       Eva Prausner: Es ist aktuell nicht so häufig, dass Eltern extrem rechter
       Jugendliche freiwillig in die Beratung kommen. Meine Arbeit setzt früher
       an, mit Fachkräften, die mit Eltern, Kindern und Jugendlichen präventiv
       arbeiten und dadurch mehr Handlungsmöglichkeiten haben. So erreichen wir
       die Eltern, die sich nicht freiwillig an uns wenden.
       
       taz: Oft ist die Rede davon, [3][dass sich die Baseballschlägerjahre der
       1990er Jahre heute wiederholen.] Liegt das auch daran, dass Neonazis von
       damals ihre Ideologie an ihre Kinder weitergeben haben? 
       
       Eva Prausner: Sicherlich gibt es in dieser Hinsicht Kontinuitäten. Ich
       glaube auch nicht, dass alle Jugendlichen von damals mit ihren
       Baseballschlägern ihre Gesinnung abgelegt haben, sondern andere politische
       Ausdrucksformen gefunden haben – eben auch in der Erziehung ihrer Kinder.
       
       taz: Ein anderer Bestandteil Ihrer Arbeit ist die Schulung von Kita- und
       Bildungspersonal im Umgang mit rechtsextremen Eltern. Warum setzen Sie
       bereits in Kitas an? Können sich Fragmente rechter Weltbilder bereits im
       Kleinkindalter äußern? 
       
       Eva Prausner: Ja. Kinder wachsen mit Vorurteilen und auch bereits mit einem
       „Hierarchiewissen“ auf. Es passiert, dass Kinder Gleichaltrige
       diskriminieren oder aufgrund äußerer Merkmale ausgrenzen und sich ihnen
       überlegen fühlen. Fachkräfte sind verpflichtet, zu intervenieren und Kinder
       vor Diskriminierung zu schützen. Sie suchen im besten Fall das Gespräch mit
       den Eltern, um herausfinden, wo die Ursache für das Verhalten des Kindes
       ist.
       
       taz: Gibt es etwas, das Ihnen Zuversicht macht? 
       
       Eva Prausner: Ich sehe eine [4][Bewegung von Sozialarbeitenden,
       Erzieher*innen, Lehrkräften und Eltern mit Veränderungsdruck,] die sich
       klar gegen Ausgrenzung und Diskriminierung positionieren und hoffentlich
       auch demokratische Eltern wie Frau Wenzel mit dieser Herausforderung in
       ihren Familien nicht alleine lassen.
       
       *Name geändert
       
       21 Oct 2025
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Rechte-Drohung-in-Burg/!5943810
 (DIR) [2] /VS-Berlin-stuft-DJV-als-rechtsextrem-ein/!6084428
 (DIR) [3] /Rechtsextreme-Jugendszene/!6076353
 (DIR) [4] /Junge-Nazis/!6087683
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Nina Schieben
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Rechtsruck
 (DIR) Rechtsextremismus
 (DIR) Neonazi
 (DIR) Schwerpunkt Neonazis
 (DIR) Jugend
 (DIR) Rechtsextremismus
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Razzia bei „Deutsche Jugend Voran“: Durchsuchungen und Festnahme nach Neonazi-Angriff in Berlin
       
       Die Berliner Polizei hat Wohnungen von jungen Rechtsextremen durchsucht.
       Sie sollen im August zwei Journalist*innen am Ostkreuz angegriffen
       haben.
       
 (DIR) Junge Nazis: Man darf die Jugend nicht den Rechten überlassen
       
       Es ist verstörend, wie jung die Festgenommenen der Nazi-Gruppe „Letzte
       Verteidigungswelle“ sind. Eltern, Schulen und Vereine müssen aktiv werden,
       um den Hass zu stoppen.
       
 (DIR) Rechtsextreme Jugendszene: Brutal jung
       
       Vor den Augen der Sicherheitsbehörden hat sich eine Szene von jungen,
       gewaltbereiten Neonazis etabliert. Sind die Baseballschlägerjahre zurück?