# taz.de -- Interview Bürgermeisterwahl Istanbul: Kein Grund zur Euphorie
       
       > Ateş İlyas Başsoy leitete den Wahlkampf der oppositionellen CHP. Vor der
       > Wiederholung der Bürgermeisterwahl warnt er vor zu viel Optimismus.
       
 (IMG) Bild: Laut Ateş İlyas Başsoy schwanken Teile der Bevölkerung zwischen Verzweiflung und Begeisterung
       
       Die türkische Wahlbehörde hat am 6. Mai die Bürgermeisterwahl in Istanbul
       annulliert. Ihre Begründung: die Mitglieder der lokalen Wahlkommissionen
       seien auf regelwidrige Weise ernannt worden. Am 23. Juni wird die Wahl
       wiederholt. Die Opposition unter Führung der CHP ließ sich davon nicht
       entmutigen, vielmehr vereinte sie sich unter dem Slogan „Alles wird sehr
       gut“. Ateş İlyas Başsoy, der bei den Kommunalwahlen als Wahlkampfleiter der
       CHP tätig war, machte mit einem Post auf Instagram auf die Gefahren der
       „Alles wird sehr gut“-Euphorie aufmerksam. taz gazete hat mit ihm über die
       anstehende Wahlwiederholung, die Kampagne von Ekrem İmamoğlu und die
       Verzweiflung der AKP gesprochen.
       
       taz gazete: Herr Başsoy, in einem Beitrag mit dem Titel „Alles wird sehr
       schwer“ haben darauf hingewiesen, wie problematisch die durch den Slogan
       „Alles wird sehr gut“ ausgelöste Stimmung ist. Sie betonen, dass Hoffnung
       und Realität zusammengehen müssen. Können Sie das näher erläutern?
       
       Ateş İlyas Başsoy: „Alles wird sehr gut“ war kein geplanter Slogan, der
       Spruch kam aus der Bevölkerung. Nach dem 6. Mai, als die Wiederholung der
       Istanbul-Wahl angeordnet wurde, ist er dann durch die Decke gegangen. Ein
       Putsch wird nicht unbedingt mit Panzern gemacht. Manchmal wird er auch
       mittels eines Unrechtsbeschlusses von sieben Richtern im Hohen Wahlrat
       durchgeführt. Die Stimmung unmittelbar nach dem 6. Mai war von einem
       starken kollektiven Protest geprägt, innerhalb kürzester Zeit steigerte er
       sich in Euphorie. Nach dem Beschluss waren viele Wege möglich, auch ein
       Wahlboykott, aber plötzlich war da diese Feierstimmung. Nicht einmal die
       Festtagsstimmung eines revolutionären Widerstands, einfach nur ein Fest.
       Freund*innen im Ausland fragten sogar: „Freut ihr euch wirklich?“
       
       Was für einen Weg hätten Sie denn nach dem Unrechtsbeschluss eingeschlagen? 
       
       Die Entscheidung des Wahlrats wurde am Montag verkündet, mindestens bis
       Freitag hätte man darüber diskutieren können, was zu tun ist. Angesichts
       einer Zustimmung ohne jede Diskussion und einer über das Ziel
       hinausschießenden Freude lag mir daran, zu mahnen. Mein kurzer Text auf
       Instagram erreichte Millionen. Ich hatte keineswegs vor, Hoffnung und
       Begeisterung zu ersticken. In dieser Richtung steht auch nichts im Text.
       Ich wollte lediglich daran erinnern, dass wir angesichts des beispiellosen
       Unrechts stärker auf der Hut sein sollten.
       
       Auch wenn Sie nicht beabsichtigt hatten, die Begeisterung der Menschen zu
       ersticken, haben manche Ihr Statement doch so aufgefasst. Wie waren die
       Reaktionen auf Ihren Post?
       
       Wir sind ein interessantes Land. Ein paar Medien meldeten: „Harsche Warnung
       von Başsoy“, in der regierungstreuen Presse hieß es: „Başsoy schimpft“.
       Dann fragten Leute: „Wieso schimpfst du?“ Es ist aber kein Schimpfen, es
       ist ein Text mit zwei Absätzen. Nur die Überschrift zu lesen, sich daraus
       eine Meinung zu bilden und darauf zu reagieren, ist unsere neue Normalität.
       Teile der Bevölkerung schwanken zwischen Verzweiflung und Begeisterung.
       Früher hieß es „von Tag zu Tag leben“, heute heißt es „von Sekunde zu
       Sekunde“. Wir erleben überstürzte Reaktionen, spontane Shitstorms, spontane
       Liebe und spontane Enttäuschungen. Sich an die Vergangenheit zu erinnern
       oder die Zukunft planen, ist mühsam, dagegen ist „für den Augenblick zu
       leben“ wohl die beliebteste kapitalistische Devise. Wir sollten nicht
       verzweifeln, aber uns auch nicht in Euphorie verlieren. Wir sollten aktiv
       werden, um hoch motiviert und zuversichtlich die Wahl zu gewinnen.
       
       Im Umfeld der AKP wird im Netz dagegen der Slogan #WeilIhrGeklautHabt
       verbreitet, um die Annullierung der Wahl zu legitimieren. Wer aber wie
       gestohlen hat, ist unklar. Es sieht so aus, als seien der Regierung die
       Argumente ausgegangen. Finden Sie nicht? 
       
       Sollen sie das nur sagen. Wörter tragen nicht per se eine Bedeutung, wir
       laden sie mit Bedeutung auf und diese Bedeutung ist dynamisch, sie wandelt
       sich. Die Gegenseite hatte nie großartige Slogans, doch sie hatte eine
       Terminologie, die gewöhnliche Vokabeln mit Bedeutung aufgeladen hat. Nicht
       einmal diese Terminologie ist geblieben. Slogans überleben nicht, wenn das
       Klima für sie nicht stimmt. Das zeigt, dass eine Ära zu Ende geht. Die
       Gegenseite hat weder Argumente noch gute Stimmung.
       
       Wie sind wir an diesen Punkt gelangt? 
       
       Das ist die natürliche Folge extremer Zentralisierung. Es gibt Firmen, da
       spricht der Chef von sich selbst als „der Vorstand“. Er sagt etwa: „Der
       Vorstand hat das nicht akzeptiert.“ Dabei besteht der Vorstand aus Leuten,
       die alles abnicken, was der Chef sagt. Ein solcher Vorstand ist nur da, um
       den Eindruck zu erwecken, es werde partizipativ entschieden. So ist es auch
       bei Erdoğan. Wer könnte sich denn hinstellen und Erdoğan sagen: „Du irrst
       dich!“ Selbst in seinem Umfeld gibt es keine Menschen mehr, die den Mut
       hätten, mit ihm zu streiten, selbst wenn es zu ihrem Vorteil wäre. Wenn die
       gerechte Regierung verschwindet, wird strategische Kommunikation unmöglich.
       Die AKP ist nicht mehr in der Lage, strategisch zu kommunizieren. Sie
       reagiert nur noch.
       
       Als Erdoğan am 12. Mai in Istanbul die Straßenbahn auf dem İstiklal
       Boulevard bestieg, rief ihm eine Passantin zu: „Alles wird sehr gut!“ Genau
       der Satz, den ein Junge Ekrem İmamoğlu vor den Wahlen zurief. Erdoğans
       Antwort an die Frau lautete: „Es wird noch besser.“ 
       
       Das nennt man in der Kommunikation „Following“. Es ist die Strategie des
       Zweiten. Bist du ein Follower, heißt das, du hast den Leader akzeptiert.
       Wenn wir Erdoğans Reaktion im Kommunikationskontext lesen, heißt sie: „Ich
       habe anerkannt, dass Ekrem İmamoğlu Erster ist und kämpfe darum, Zweiter zu
       werden.“ Ich hoffe, das wiederholt sich noch oft.
       
       Was wird die Wahlwiederholung ausgehen? 
       
       Im Grunde ist die Wahl ja bereits gewonnen. In Istanbul und in der ganzen
       Türkei. Vor lauter Fokus auf Istanbul verlieren wir den Rest der Türkei aus
       den Augen. 2009 war nur Antalya von der AKP an die CHP übergegangen. Bei
       diesen Wahlen dagegen holte die CHP über 100 kleinere und größere Provinzen
       und Bezirke. Die beiden größten Bezirke von Istanbul gingen an die CHP.
       Besonders wichtig: die CHP gewann die Hauptstadt Ankara. Der Wahlerfolg der
       CHP hängt nicht allein vom 23. Juni ab, er wurde bereits am 31. März
       errungen. Besorgt kann man sein, wenn die AKP in Istanbul doch noch
       gewinnt. Es kann für die AKP nicht gut sein, die Wahl mit Argumenten zu
       wiederholen, die nicht einmal ein Kind überzeugen würden, und – Gott
       bewahre – sie nach dieser Gaunerei auch noch zu gewinnen. Das wissen sie
       auch selbst, ein großer Teil jedenfalls.
       
       Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
       
       17 May 2019
       
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