# taz.de -- „Es ist ein vergessenes Thema“
> NGO Chris Nash, Direktor des „European Network on Statelessness“ (ENS),
> fordert, ein Verfahren zu etablieren, um festzustellen, wer staatenlos
> ist. Eine 50 Jahre alte UNO-Konvention müsse endlich anerkannt werden
taz: Herr Nash, wie viele Staatenlose gibt es?
Chris Nash: Es ist sehr schwer, die Zahl exakt zu beziffern. Das liegt
unter anderem daran, dass viele Länder in Europa überhaupt kein klares
Verfahren haben, um Staatenlosigkeit festzustellen. Davon abgesehen schätzt
das UNO-Flüchtlingshilfswerk, dass es etwa 10 Millionen weltweit gibt. Wenn
man sich diese Zahlen anschaut, ist es erstaunlich, wie wenig
Aufmerksamkeit Staatenlosigkeit in der Vergangenheit gewidmet wurde. Es ist
wirklich ein vergessenes Thema.
Was für Auswirkungen hat Staatenlosigkeit auf das Leben eines Menschen?
Das hängt sehr vom Einzelfall ab. Was uns begegnet: Staatenlose werden
inhaftiert, während ein Land ohne Erfolg versucht, sie abzuschieben. Sie
können nicht abgeschoben werden, weil es kein Zielland gibt, das sie
aufnehmen muss. Sie sind ja staatenlos. Selbst wenn sie sich frei bewegen
können, stehen Staatenlose oftmals ratlos vor ihrer Lage. Sie sind wie
gelähmt, kommen mit ihrem Leben nicht weiter, weil sie Probleme haben, eine
Aufenthaltsgenehmigung oder einen Ausweis zu bekommen. Einige von ihnen
bekommen nicht mal einen Bibliotheksausweis und erst recht keinen
Führerschein, sie haben Schwierigkeiten, wenn sie heiraten oder einen Job
annehmen wollen. Sie stecken wortwörtlich fest.
Das wohl populärste Beispiel für Staatenlosigkeit ist der Film „Terminal“.
Viktor Navorski – gespielt von Tom Hanks – strandet an einem Flughafen,
weil sich sein fiktives Heimatland Krakosien aufgelöst hat. Das klingt nach
Hollywood – wie kommt denn in der Realität Staatenlosigkeit zustande?
Es gibt viele verschiedene Gründe. Uns begegnen große Gruppen von
Staatenlosen, die ihre Nationalität verloren haben, zum Beispiel durch die
Auflösung von Jugoslawien oder der Sowjetunion. Sie haben sich
beispielsweise nicht rechtzeitig für die Einbürgerung in den neu
entstandenen Staaten registriert, oder sie wurden überhaupt nicht auf diese
Notwendigkeit hingewiesen. Wenn wir in der Geschichte weiter zurückblicken,
haben auch in Europa oftmals diktatorische Regime Staatsbürgerschaft als
Machtmittel eingesetzt. Das war insbesondere im Dritten Reich, aber auch in
den Militärdiktaturen der Fall.
Und heutzutage?
Selbst heute, im 21. Jahrhundert, werden Kinder staatenlos geboren. Auch
dafür gibt es verschiedene Gründe. In Westeuropa sind es oftmals Fehler in
nationalen Gesetzen, zum Beispiel wenn Elternteile staatenlos sind oder
ihre Staatsangehörigkeit ungeklärt ist. In Südosteuropa ist oftmals die
Registrierung nach der Geburt ein Problem, was dazu führen kann, dass
Kinder nicht ohne weiteres die Staatsangehörigkeit ihres Geburtslandes
annehmen können. Zum Teil wird Staatenlosigkeit praktisch vererbt, zum
Beispiel in Lettland oder Estland, wo große Gruppen einer russischen
Minderheit staatenlos sind und auch ihre Kinder unter bestimmten Umständen
staatenlos bleiben.
Staaten können selbst über die Verleihung der Staatsangehörigkeit
entscheiden – was können sie tun, um Staatenlosigkeit zu verhindern?
Sie müssen die Staatenlosen-Konventionen der UNO von 1954 und 1961
anerkennen die Grundlagen zum Schutz und zur Reduzierung von
Staatenlosigkeit bieten. Im Moment haben viele Staaten auch in der
westlichen Welt diesen Schritt nicht getan. Und dann müssen sie natürlich
ihre nationalen Gesetze entsprechend anpassen. Sie sollten ein Verfahren
etablieren, um festzustellen, wer staatenlos ist – und diesen Menschen dann
die Normalisierung ihres Status ermöglichen. Das ist ein zentraler Punkt.
Im Vergleich: Jeder würde es als absurd ansehen, wenn Staaten kein
Asylverfahren hätten. Das Gleiche sollte für Staatenlosigkeit gelten.
In Deutschland gibt es kein eigenes Verfahren – aber Staatenlosigkeit kann
durch andere Verwaltungsverfahren festgestellt werden, beispielsweise den
Antrag für einen Reisepass. Wozu braucht es eine eigene Vorschrift für
Staatenlose?
Was ein Feststellungsverfahren für Staatenlosigkeit im Kern ermöglicht: Es
erlaubt Staaten, für Menschen in ihrem Land eine Lösung zu finden, die sie
nicht abschieben können und die ja das Land oftmals auch gar nicht
verlassen können. Es ist für alle besser, wenn diese Menschen ihr Leben
weiterführen. Aber viele Staaten zögern, was aus meiner Sicht zum Teil an
mangelnder Aufmerksamkeit für das Thema liegt. Außerdem habe ich gehört,
dass sich Staaten Sorgen darüber machen, neue Regelungen oder Gesetzte
könnten mehr Staatenlose ermutigen, in ihr Land zu kommen. In den Ländern,
die ein eindeutiges Feststellungsverfahren haben – das sind in Europa
zurzeit nur acht – gibt es dafür allerdings keine Hinweise.
INTERVIEW: URS SPINDLER
17 Nov 2014
## AUTOREN
(DIR) URS SPINDLER
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