# taz.de -- Das gesprengte Korsett
       
       Die moderne Frau ist ein Errungenschaft der Zwanzigerjahre: Nicht länger
       hilflos und unerfahren waren die jungen Frauen in der Weimarer Republik,
       sondern dynamisch und eigenständig. Doch nicht jede verkraftete die neue,
       unverhoffte Freiheit
       
       von UTE SCHEUB
       
       „Wir alle waren wie in einem Korsett eingeschnürt und wurden nun in die
       Freiheit entlassen.“ So erlebte die Dada-Künstlerin Hannah Höch die Geburt
       der Weimarer Republik am Jahreswechsel 1918/1919. Ein weit reichender Satz.
       
       Das Korsett: Das war das deutsche Kaiserreich gewesen, mit seinen
       vermufften Etiketten, seinem militaristischen Geklingel. Die jungen Frauen
       der jungen Republik hatten das Korsett nicht nur symbolisch, sondern auch
       real gesprengt, die alten Zöpfe symbolisch und real abgeschnitten. Die
       früher durch atemberaubende Einschnürungen so sorgfältig herausgearbeiteten
       weiblichen Rundungen verbargen sich nun unter taillenlosen Einteilern, die
       „Garçonne“-Mode grassierte: Bubikopf, Monokel, Zigarettenspitze, Schlips
       oder gar – Revolution in der Revolution! – Hosen.
       
       Die Freiheit: Das war die Republik, die jungen Frauen wie Hannah Höch neue,
       für ihre Mütter noch undenkbare Lebensmöglichkeiten bot. Nun endlich hatten
       sie die vollen Bürgerrechte, die ihnen so lange vorenthalten worden waren:
       das Recht auf Bildung und Erwerbsarbeit, das aktive und passive Wahlrecht.
       Seit 1919 durften sie die sie regierenden Männer mitwählen und sich an den
       Universitäten habilitieren.
       
       Entlassen: So fühlten viele, vielleicht sogar die meisten autoritäts- und
       ordnungsliebenden Deutschen. Hannah Höch wohl nicht, aber vielen anderen
       wurde schwindelig ob all der neuen Freiheiten, so schwindelig, dass sie
       sich schon nach wenigen Jahren an den mörderischsten Ordnungsmacher aller
       Zeiten klammerten. Berlin in den Zeiten der neuen Freiheit – eine tosende
       Weltstadt, eine wahnwitzige Ballnacht am Rande des Abgrunds. So verheißt es
       zumindest der Mythos. Der allerdings ist nur zum Teil wahr, zum Teil ist er
       ein Produkt der Berlinwerbung. Für junge Frauen aber, besonders für
       Künstlerinnen und Kulturschaffende, war Berlin mit seinem freiheitlichen,
       von Kreativität strotzenden Klima ein Eldorado.
       
       Verrückt nach Leben, waren sie wild entschlossen, alles anders zu machen
       als ihre milchsauren Mütter. Sie gierten danach zu studieren, sich das
       Wissen anzueignen, das man ihren Müttern vorenthalten hatte, sie wollten
       tagsüber arbeiten und abends tanzen gehen, über ein eigenes Konto verfügen,
       ihre Geliebten selber aussuchen. Sie stürmten vorwärts und wurden von
       vielem zurückgehalten, auch von sich selbst.
       
       Um die Jahrhundertwende noch konnten sich Frauen und Männer nur steif,
       abgeschnürt, gegen alle Lüste verpanzert, in stickig-parfümierter
       Atmosphäre bewegen. Neurotisch bis zum Überschnappen war die gesamte
       Gesellschaft der Jahrhundertwende. In dieser Atmosphäre wurde es höchste
       Zeit, die Psychoanalyse zu erfinden, um wenn schon nicht der ganzen kranken
       Gesellschaft, so doch wenigstens einigen ihrer gut zahlenden Mitglieder
       Linderung zu verschaffen. Wer sich jedoch keinen Platz auf der Couch
       leisten konnte, der erhoffte die Erlösung seines verpanzerten, versteiften,
       verleugneten Körpers im nationalistischen Taumel. Wenn schon nicht mit
       einer Frau, dann wenigstens mit der Nation sich vereinen, so lautete der
       Wunschtraum der Rekruten, der Offiziere, sogar manch eines „großen
       Denkers“.
       
       Hannah Höch fand den „munteren Aufbruch meiner Umwelt in den Krieg“
       unbegreiflich. Die Opferbilanz des Ersten Weltkriegs: sieben Millionen Tote
       und zwanzig Millionen Verwundete, in Deutschland zwei Millionen Tote,
       viereinhalb Millionen Verwundete und 600.000 Kriegerwitwen. Aber sie spürte
       auch: Ausgerechnet der Krieg hatte die traditionelle Männlichkeit vom
       Sockel gestürzt. Plötzlich gab es eine weibliche Mehrheit: Auf 100 Männer
       kamen nun 110 Frauen. Und plötzlich gab es eine ganz neue weibliche
       Bewegungsfreiheit: beruflich, privat, erotisch.
       
       1919, als die Frauen zum ersten Mal wählen durften, lag ihre
       Wahlbeteiligung bei stolzen 78 Prozent im Vergleich zu 62 Prozent bei den
       Männern. Fast zehn Prozent der Abgeordneten im neuen Reichstag waren
       weiblich, das war ein Höchststand, der in keiner folgenden Reichstagswahl
       und im Bundestag erst wieder 1983 erreicht werden sollte. In den Straßen
       Berlins sah man während und unmittelbar nach dem Krieg plötzlich
       Schaffnerinnen, Müllfahrerinnen, Briefträgerinnen, Schalterbeamtinnen,
       Droschkenkutscherinnen.
       
       Nicht immer allerdings war die Berufstätigkeit der „Neuen Frauen“
       freiwillig: Millionen von männlichen Familienversorgern waren gefallen oder
       zu Kriegsinvaliden geworden, Millionen von Frauen sahen sich plötzlich
       gezwungen, selbst Geld zu verdienen. Als Prototyp der weiblichen
       Emanzipation galten nunmehr die jungen Angestellten, die „Tippmamsells“,
       „Bürofräuleins“ und „Ladenmädchen“. Rauchend, Beine übereinanderschlagend,
       mal selbstbewusst, mal einfach nur „niedlich“, geisterten sie als Mythos
       durch die Feuilletons und Fortsetzungsromane meist männlicher Schreiber.
       
       Weil die Frauenerwerbstätigkeit bis in kommunistische Kreise immer noch als
       Übergangsphase gesehen wurde, als Aufbewahrungsort bis zur Ehe und
       Mutterschaft, waren fast alle weiblichen Angestellten ledig und jünger als
       25 – und kaum qualifiziert: Während dem Bürgersohn ein Studium oder eine
       mehrjährige kaufmännische Ausbildung gewährt wurde, durfte die Tochter
       vielleicht gerade mal ein Jahr die Handelsschule besuchen. Fast alle
       verdienten ein Zehntel bis ein Viertel weniger als ihre männlichen
       Kollegen.
       
       „Der Geist der Zwanzigerjahre war auf die Frau gerichtet“, fand der
       Zeitzeuge Walther Kiaulehn in seinem Buch „Berlin. Schicksal einer
       Weltstadt“. Die Frau sei neu erwacht: „Bei der Berlinerin war diese
       Verwandlung besonders verblüffend. Sie hatte alles Provinzielle abgestreift
       und damit auch die Unarten der Jahrhundertwende, vor allem das sternäugige
       Kokettieren mit Naivität und Ahnungslosigkeit. Die neue Berlinerin hatte
       klare Augen, und ihrer äußerlichen Sachlichkeit stand die kleine Beigabe
       von Sarkasmus gut.“
       
       Das Jahrzehnt der Körperlichkeit brach aus. Man wollte sich endlich spüren.
       Sich bewegen in Licht, Luft und Sonne, sich an Rhythmen und
       Geschwindigkeiten berauschen; wandern, turnen, schwimmen, tanzen, reiten,
       Rad fahren, Auto fahren. 1927 endete die Kleidermode bereits kurz unter dem
       Knie und gab ein Paar seidenbestrumpfte Beine preis. Gabriele Tergit, Dinah
       Nelken, Vicki Baum, Hannah Höch – sie alle kürzten ihre Haare wie ihre
       Röcke. Ihnen gefiel die neue Mode ausnehmend gut, sie war so viel
       lebensbejahender und bequemer als die früheren Verschnürungen. Die neue
       Kleiderordnung war mehr als Mode, sie war fast schon Weltanschauung, auf
       jeden Fall Bekenntnis, eine „Neue Frau“ zu sein.
       
       Der Kabarettistin Trude Hesterberg „grauste“ es, wie sie in ihren Memoiren
       schrieb, vor dem später geprägten Begriff der „Goldenen Zwanzigerjahre“. Es
       hätten damals so viele Leichen im Landwehrkanal getrieben, „fast jeden Tag
       eine. Menschen, die keinen Ausweg mehr aus der Not fanden, suchten in den
       schmutzigen kalten Wassern, die sich durch Berlin zogen, nach Erlösung“.
       Doch der eigentliche Wahnsinn sollte erst noch kommen: die Inflation.
       Besonders hart traf es allein stehende Mütter ohne Festanstellung wie Dinah
       Nelken. Mittags um halb zwölf habe sie mit den anderen brotlosen Dichtern
       an der Kasse der Zeitschrift Der Junggeselle in der Motzstraße gestanden,
       erzählt ihre Romanfigur Fleur Lafontaine. Nach ihren „Millionen“ hätten sie
       geschrien. „Denn um zwölf kam der neue Dollarkurs raus, und um zehn vor
       zwölf konnte man uns die Motzstraße runterspritzen sehen, rein in den
       nächsten Laden und wieder raus, irgendwas, Brot, ein Hemd oder eine
       Schachtel Zigaretten, in der Hand, selig!“ Das Schieberwesen blühte, die
       Großindustrie gedieh, während die einst so wohlhabende Mittelschicht
       Deutschlands im Abgrund versank.
       
       Er glaube, Geschichte gründlich zu kennen, schrieb Stefan Zweig, aber
       seines Wissens habe sie nie „eine ähnliche Tollhauszeit in solchen riesigen
       Proportionen“ produziert. Bedingt durch den „Sturz aller Werte“ im
       sprichwörtlichen wie im übertragenen Sinne habe „eine Art Irrsinn“ vor
       allem die bürgerlichen Kreise ergriffen. „Die jungen Mädchen rühmten sich
       stolz, pervers zu sein; mit sechzehn Jahren noch der Jungfräulichkeit
       verdächtig zu sein, hätte in jeder Berliner Schule als Schmach gegolten.“
       
       Andere sahen das anders. „Die Frauen wurden frei“, befand damals eine
       Berufskollegin von Gabriele Tergit. Dass die Inflation Familien zum Verkauf
       des Tafelsilbers und der teuren Aussteuer ihrer Töchter zwang, Heiratspläne
       vernichtete und die traditionelle Sittsamkeit zerstörte, empfand sie
       persönlich als Befreiung. Aber Freiheit macht Angst, und der Verlust von
       Kontrolle ebenfalls. Im Unterbewusstsein müssen die Bürger der Weimarer
       Republik die Entfesselung des Geldes als Spiegelbild ihrer entfesselten
       Körper erlebt haben. Auch wenn sich die Republik nach der Erholung der Mark
       von 1924 bis 1930 noch einmal stabilisieren sollte: Die 1922 und 1923
       wütende Inflation, die den Mittelstand ruinierte, die der Gesellschaft
       jeden Glauben an das Funktionieren von Wirtschaft und Demokratie nahm, war
       der wichtigste Wegbereiter des Nationalsozialismus.
       
       Gabriele Tergit und ihre Kolleginnen verteidigten, so gut sie konnten, die
       Demokratie, was man von vielen anderen jungen Frauen aus bürgerlichem Hause
       nicht behaupten konnte. Die hatten viel Freiheit gewonnen, aber in ihren
       Augen noch mehr Sicherheit verloren. Sie waren kleine Angestellte geworden,
       statt wie früher irgendwann von den Eltern einen solventen Gatten
       vorgestellt zu bekommen und lebenslang versorgt zu werden. Ein eigenes
       Einkommen schien ihnen weniger Schutz zu verheißen als eine Männerbrust, in
       deren Windschatten sie Kinder großziehen könnten.
       
       In den Zwanziger- und Dreißigerjahren mussten Tergit, Baum, Nelken und
       Hessel mit Entsetzen zur Kenntnis nehmen, wie sich die Frauen erst die
       Butter vom Brot und dann auch noch das Brot selber nehmen ließen. In drei
       Schüben führte die Männermehrheit des Reichstags ihren erfolgreichen Kampf
       gegen Frauenerwerbsarbeit und Frauenrechte: 1919, als die zurückkehrenden
       Soldaten wieder Anspruch auf ihre Arbeitsplätze erhoben; 1923, als wegen
       der Inflation im öffentlichen Dienst gespart und die verheirateten
       Beamtinnen als „Doppelverdienerinnen“ entlassen wurden; 1932, als dieses
       Beamtinnenzölibat im Zuge der Weltwirtschaftskrise erneuert wurde, diesmal
       sogar mit den Stimmen der SPD. Kaum eine Frauenvereinigung wehrte sich.
       Schlimmer noch, ein großer Teil der Frauen unterstützte und wählte
       nationalistisch-völkische Parteien, später die Nationalsozialisten. Auch
       sie verherrlichten die „Frau als Hüterin des Herdes“ und „Mutterschaft als
       eigentlichen Beruf der Frau“, auch sie meinten den „Willen zur
       Volkserhaltung“ angesichts des „Vordringens der geburtenstarken Völker des
       Ostens“ stärken zu müssen – so Luise Scheffen-Döring, Vorsitzende des
       Bevölkerungspolitischen Ausschusses im Bund deutscher Frauenvereine.
       
       Die weibliche Mehrheit der Weimarer Republik, die doch ungleich mehr als
       die Männer von ihren neuen Freiheiten profitierte, hat weder ihre eigenen
       Rechte noch die Republik verteidigt. Sie hat die Sprengung ihres Korsetts
       nicht verkraftet. Sie setzte alles daran, sich so schnell wie möglich
       wieder Rollenuniformen zu schneidern. Offenbar fühlten sich viele
       überfordert von der neuen Zeit, die viel zu schnell für ihr Gefühlsleben
       über sie hereingebrochen war und ihnen die fröhliche Erfüllung aller
       Pflichten einer Mutter, Hausfrau, Ehefrau, Geliebten, Kameradin, Kollegin
       und Mitverdienerin abverlangt hatte. Viele wollten lieber „das Feuer des
       heimischen Herdes“ hüten, statt, wie sie glaubten, in den Frösten der
       Freiheit frieren zu müssen. Das Auftauchen der jahrhundertelang
       verleugneten weiblichen Wollust, das Ausleben der neuen Freiheiten, all das
       nahmen Frauen sich selbst übel. Das war Schande über ein deutsches Mädel,
       das musste weg, eingeschnürt, unterbunden werden. Es dauerte nicht mehr
       lange, und das neue Korsett wurde eine braune Uniform.
       
       UTE SCHEUB, 43, Mitgründerin der taz, lebt als Autorin in Berlin. Mit
       freundlicher Genehmigung des Rowohlt Taschenbuchverlags veröffentlichen wir
       stark gekürzt das Einleitungskapitel ihres Buches „Verrückt nach Leben.
       Berliner Frauen in den Zwanzigerjahren“ (Reinbek 2000, 191 Seiten, 18,90
       Mark). Am 25.Mai liest Ute Scheub aus ihrem Buch: 20:00 Uhr, Julietts
       Literatursalon, Gormanstrasse 25 in Berlin Mitte. Der Eintritt ist frei
       
       20 May 2000
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) UTE SCHEUB
       
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