# taz.de -- Ein Pendler für das Progressive
       
       > Endlich wieder Kunstverein: Auch in Hannover wird der neue Leiter
       > Christoph Platz-Gallus auf der Systemrelevanz der Kunst beharren. Dafür
       > hält er nicht zuletzt eines hoch: ihr Recht auf Übertreibung
       
 (IMG) Bild: Die Räume des Künstlerhauses mag Christoph Platz-Gallus. Dazu zählt dank Stephan Hubers „Das Große Leuchten“ über den Köpfen auch die Sophienstraße selbst
       
       Von Bettina Maria Brosowsky
       
       Es war schon irgendwie mysteriös, als der Kunstverein Hannover im März zur
       Pressekonferenz lud, um die neue Leitung des Vereins vorzustellen – ohne
       allerdings deren Namen bereits in der Einladung zu enthüllen. Macht man
       sonst eher nicht. Zumal Kathleen Rahn, die Vorgängerin, die den
       Kunstverein seit 2014 geleitet hatte, bereits zum Februar als künstlerische
       Direktorin an das Museum Marta nach Herford gewechselt war.
       
       Allerdings weiß man, dass ein Ausstellungsprogramm stets mit sehr langem
       Atem geplant werden muss. Und Rahns Herzensprojekt, die Werkschau der
       Hannoveraner Objektkünstlerin Christiane Möbus, die gemeinsam mit dem
       Sprengel Museum den diesjährigen Sommerschwerpunkt beider Häuser bildete,
       ließ sie dann auch noch eine ganz Weile im Pendelmodus zwischen neuer und
       alter Wirkungsstätte in Hannover präsent bleiben.
       
       Derartigen Spagat gestand der Kunstverein Hannover dann auch seinem neuen
       Leiter zu. Christoph Platz-Gallus – hier endlich der Name des durch eine
       mehrköpfige Findungskommission einstimmig berufenen Neuen – pendelt nun
       schon seit diversen Monaten ein, nämlich aus dem österreichischen Graz.
       Dort wird er als Leiter der kuratorischen Belange, wie die offizielle
       Bezeichnung lautet, die diesjährige Ausgabe von Europas ältestem
       internationalen und interdisziplinären Avantgarde-Festival, dem
       „Steirischem Herbst“, ab Ende September noch mitverantworten. „Ein Krieg in
       der Ferne“, so der Titel, beschäftigt sich mit unserem kollektiven
       Verdrängen, ja selbst eines Krieges in Europa.
       
       International und Festival: darunter ließen sich auch weiter zurückliegende
       Stationen des 40-jährigen Kunsthistorikers, Kurators und Kulturmanagers
       subsumieren.
       
       In Aachen in eine kunstaffine Ingenieursfamilie geboren, hat er in Münster
       und Köln Kunstgeschichte studiert. Im Westfälischen sammelte er
       studienbegleitend frühe kuratorische Erfahrung in der Kunsthalle Münster
       und im dortigen FAK, dem Förderverein Aktuelle Kunst, der im Dunstkreis der
       lokalen Kunstakademie jüngere Künstler:innen etwa in Leerständen im
       Hafen präsentierte. 2007 ging es dann zur kuratorischen Assistenz an die
       Skulptur-Projekte Münster, jener seit 1977 im Zehn-Jahres-Rhythmus
       stattfindenden Ausstellung zeitgenössischer Kunst im öffentlichen Raum.
       
       Die vierte Ausgabe galt auch der internen Revision dieser bewussten
       Langzeitinstitution, ihrer konzeptionellen Abgrenzung von kurzatmigen
       Biennalen, Triennalen – aber auch der Kasseler „documenta“. Dennoch wurde
       Kassel die nächste Station von Christoph Platz, wie er damals noch hieß,
       nämlich ab 2010 für die 13. sowie ab 2014 dann für die 14. Auflage der
       Weltkunstschau. Wobei er in deren kuratorischem Plattformen-Konzept damals
       die Dependance in Athen betreute und viel zwischen Griechenland und
       Nordhessen unterwegs war, als Pendler schon damals.
       
       Zuvor aber hatte er noch seine Magisterarbeit verfasst. Thema: „Der
       Westfälische Kunstverein in Münster zwischen 1945 und 1977“. Dieser ist
       nicht nur einer der ältesten und traditionsreichsten in Deutschlandt,
       sondern er galt auch als geistige Speerspitze beim Einsatz für progressive
       Kunst. So plädierte der Verein 1975 für die öffentliche Aufstellung der
       kinetischen Arbeit „Drei rotierende Quadrate“ des US-amerikanischen
       Künstlers George Rickey. In den örtlichen konservativen Kreisen war das
       heftig umstritten; nicht nur deren augenscheinliches Wissensdefizit in
       Bezug auf zeitgenössische Skulptur demonstrierte der Disput, sondern auch
       die provokante Kraft der Kunst, besonders im öffentlichen Raum.
       
       „Kunst kann und darf übertreiben“, bekräftigt Platz-Gallus, so wie jede
       gute Ausstellung einen, zumindest für den Moment, den Boden unter den Füßen
       verlieren lassen darf. Kunst kann systemrelevant werden, wenn sie aus dem
       Alltag nicht mehr wegzudenken ist, und ein Kunstverein kann dazu beitragen,
       die Balance zwischen einer aktuellen Überindividualisierung und der
       solidarischen Gemeinschaft wiederherzustellen, ist sich Platz-Gallus
       sicher. Wichtig ist ihm zudem die Auseinandersetzung mit dem „Gedächtnis“
       einer solchen Institution, ihrem Archiv und ihrer Geschichte – Aspekte, die
       er in Hannover wiederaufnehmen möchte.
       
       Seine „Rückkehr“ zu einem Kunstverein, wie er es ausdrückt, war zwar nie
       bewusst geplant, aber er schwärmt bereits von der Qualität und dem Rhythmus
       der Kunstvereinsräume. Diese hatte Eckhard Schneider, einer seiner
       Vorgänger, zu ihrer heutigen Form ausbauen lassen. Laut Schneider ein
       „Atelier auf Zeit“, eignen sie sich gleichermaßen für große Einzel- wie
       auch Gruppenausstellungen unterschiedlicher Medien oder auch performative
       Formate.
       
       Dem Kunstverein insgesamt möchte der Neue jedoch zu einem erneuerten
       Gesamtauftritt verhelfen, Fragen zu seiner Nachhaltigkeit stellen, auch
       etwa die Mitgliedschaft für Jüngere interessanter machen.
       
       Die Verantwortung für sein „eigenes Haus“ hat sich bislang stark auf das
       Verfassen von Förderanträgen beschränkt, bedauert er zwar. Erst zum
       Jahreswechsel wird er mit seinem selbst formulierten Programm loslegen
       können – und auch nur in Teilen. Denn 2023 werden sowohl das 40-jährige
       Jubiläum des hauseigenen Förderprogramms für den künstlerischen Nachwuchs
       als auch die traditionelle Herbstausstellung niedersächsischer und Bremer
       Künstler:innen das Ausstellungsjahr bestimmen. Ein paralleles
       Langzeitprojekt schwebt ihm deshalb vor, das sich Hannover-spezifisch
       entwickeln und im Haus gezeigt werden soll.
       
       Im kommenden Jahr kann dann auch Familie Platz-Gallus wieder enger
       zusammenrücken: Dann wechselt Henriette Gallus, zurzeit stellvertretende
       Intendantin des „Steirischen Herbstes“, nach Berlin.
       
       Das Paar lernte sich während der Arbeit für die „documenta 13“ kennen, ging
       gemeinsam etwa zur norwegischen Triennale Bergen Assembly und 2018 nach
       Graz. Das Einpendeln wird für Christoph Platz-Gallus dann mit Sicherheit
       entspannter, vielleicht ja in angenehmer Gesellschaft, etwa mit Andreas
       Beitin, dem Direktor des Kunstmuseums Wolfsburg.
       
       29 Aug 2022
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Bettina Maria Brosowsky
       
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