# taz.de -- Einfach verkalkuliert
       
       Der Historiker Götz Aly wagt eine große These: Hitler erkaufte sich die
       Zustimmung zu seiner „Wohlfühldiktatur“ vor allem, indem er die eroberten
       Länder und die Juden ausbeutete. Dazu erschließt Aly neue Quellen und
       erforscht akribisch den deutschen Ausbeutungskrieg. Nur: Ihm unterläuft ein
       grober, folgenschwerer Rechenfehler
       
       VON J. ADAM TOOZE
       
       „Wer von den Vorteilen für die Millionen einfacher Deutscher nicht reden
       will, der sollte vom Nationalsozialismus und vom Holocaust schweigen.“ So
       lautet der letzte Satz in Götz Alys neuem Buch, „Hitlers Volksstaat“. Es
       ist eine polemische Zuspitzung des berühmten Satzes von Max Horkheimer:
       „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus
       schweigen.“ Nicht der Kapitalismus also, sondern eine spezifische
       Ausprägung des europäischen Wohlfahrtsstaates ist der Hintergrund für die
       Morde und Ausbeutung des Nationalsozialismus.
       
       Den Holocaust als Raubmord zu denken, daran hat man sich in den letzten
       Jahren gewöhnt. Die Gerichte und die Historiker neigten dazu, diesen
       Prozess vor allem als einen Akt privatwirtschaftlicher Bereicherung zu
       verstehen. Eine falsche Einschätzung, wie Aly überzeugend zeigt. Der
       Hauptzweck des Massenraubes war die Entlastung der Staatskasse. Das ist
       zwar keine neue Erkenntnis, denn die „Sühneleistung“ von einer Milliarde
       Reichsmark, die der jüdischen Gemeinde in der Folge der Kristallnacht
       auferlegt wurde, steht zu offensichtlich im Zusammenhang mit der gut
       vertuschten Finanzkrise des Reiches im Herbst 1938. Und auch die Plünderung
       der Juden durch die Reichsfluchtsteuer ist lange bekannt.
       
       Aber Aly belegt zudem, dass die staatliche Ausbeutung jüdischen Vermögens
       weit über solche Steuermaßnahmen hinausging. Selbst die „privaten“
       Arisierungen mutierten letztlich zu einem Akt staatlicher Aneignung. Erst
       wurde das Vermögen der Juden registriert, dann verkauft. Die deutschen
       Käufer profitierten von den Schleuderpreisen. Die kritische Frage ist: Was
       geschah mit den Milliarden Reichsmark, die jüdische Verkäufer einnahmen?
       Das Geld wurde zwangsweise in Staatsanleihen investiert. Das gesamte
       Vermögen der Juden kam, so Aly, am Ende dem Staat und der Rüstung zugute.
       
       Nach 1940 machte dieses Modell überall im besetztem Europa Schule – in der
       Slowakei, in Frankreich, den Niederlanden, in Belgien, Griechenland,
       Rumänien und Bulgarien, selbst in Norwegen. Jüdischer Besitz wurde nicht
       einfach enteignet, sondern registriert und zwangsverkauft. Die
       ausgerissenen Zahnplomben, die Golduhren, der Familienschmuck wurden nicht
       in geheimen Schatzkammern gehortet oder in Seen versenkt. Sie wurden
       zumeist an Ort und Stelle verkauft. Das eingenommene Geld wurde, nominell
       noch im Namen der Juden, dann an den Staat geliehen und gelangte mehr oder
       weniger direkt in die Kassen der Wehrmacht. Selbst die letzten,
       berüchtigten Deportationen von griechischen Inseln im Herbst 1944, als der
       Krieg im Mittelmeer praktisch zu Ende war, finden hier mehr als nur eine
       ideologische Motivation. Mit dem Vermögen der Juden von Rhodos bezahlte die
       deutsche Garnison ein paar Monate ihre Rechnungen.
       
       Die Brisanz von Alys neuem Buch liegt aber nicht in der Nachzeichnung
       dieser verwickelten Transaktionen. Die Großthese seines Buches zielt auf
       deren eigentliche Nutznießer: auf die deutschen Steuerzahler. Schon vor dem
       Krieg wurden in Hitler-Deutschland die Steuern nur sehr selektiv erhöht. So
       bestritt die Regierung zusätzliche Ausgaben für die Rüstung vor allem aus
       den Einkünften, die mit der Köperschaftsteuer und den Abgaben der besser
       Verdienenden erzielt wurden. Drakonische Kriegssteuern gab es auch nach
       1939 nicht.
       
       Folgt man Aly, wurde der Krieg vor allem mit den immensen Kriegsbeiträgen
       der besetzten Länder und durch die Liquidierung jüdischen Vermögens
       bezahlt. Das ist für Aly der Kern der NS-Herrschaft. Hitlers Regime sei
       eine „Gefälligkeitsdiktatur“ gewesen: Die Menschen in den eroberten Staaten
       und die Juden wurden ausgebeutet, damit die Mehrheit der deutschen
       Bevölkerung nicht belastet werden musste. So sollte die Loyalität der
       Massen gesichert werden. Nicht Ideologie, sondern eine recht simple Form
       der Bestechung erklärt also, dass die Deutschen Hitler bis in den Untergang
       folgten. Keine Rede ist von nationalsozialistischer Überzeugung oder von
       Führerkult und auch nicht von der Gestapo oder den 30.000 an Volksgenossen
       vollstreckten Todesurteilen.
       
       Alys Großthese ist höchst provozierend, und sie bringt den Autor in schwere
       Beweisnöte. Denn seine penible Rekonstruktion der finanziellen Mechanismen
       ist zwar faszinierend, aber sie reicht nicht aus, um seine These zu
       stützen. Das Gleiche gilt für die pikanten Geschichten zum
       Schwarzmarktverkehr zwischen den deutschen Besatzungstruppen und der
       Heimat, die er genüsslich ausbreitet. Die Streitereien um die
       „Gepäckzuteilungen“ im Bahnverkehr und der Schmuggel mit Besatzungsgeld
       belegen eindeutig nur eins: Auch im Krieg aßen die Deutschen gern und
       schätzten schicke Kleidung. Zudem deutet Alys Argumentation darauf hin,
       dass ein Teil dieser Waren außerhalb Deutschlands besser zu haben war – was
       seine These nicht gerade stützt.
       
       Da es an überzeugenden Belegen für Alys These mangelt, kommt es auf die
       Endrechnung an. Wenn Aly belegen kann, dass die Finanzspritze von außen
       eine wirklich massive Umverteilung der Kriegskosten ermöglicht hat, dann
       gewinnt seine These dramatisch an Überzeugungskraft. Nun haben sich
       mindestens drei Generationen von Volkswirten und Wirtschaftshistorikern mit
       diesem Thema beschäftigt. Aber Aly rechnet auf seine Weise. Auf der einen
       Seite akkumuliert er eine riesige Summe: die Besatzungskosten, die
       Handelsschulden Deutschlands, die Summen, die man von den Juden
       vereinnahmte, die Lohnsteuer, bezahlt durch die Fremdarbeiter. Alles
       zusammen 170 Milliarden Mark.
       
       Dagegen setzt er den bescheidenen Betrag, der von den Deutschen selbst in
       der Form von zusätzlichen Kriegssteuern erhoben wurde – höchstens 84
       Milliarden Mark. Fazit: 70 Prozent „der Gelder, die der Krieg auf deutscher
       Seite täglich verschlang“, wurden vom Ausland und durch den Raubmord an den
       Juden finanziert. Gewöhnliche deutsche „Klein- und Durchschnittsverdiener“
       haben höchstens 10 Prozent der laufenden Kriegskosten des Reiches bezahlt.
       Eine beeindruckende Rechnung – wenn sie stimmen würde.
       
       Nur: Sie stimmt nicht. Die Verhältnisse waren genau umgekehrt. Mehr als
       drei Viertel der Ressourcen für Hitlers Krieg wurden von der deutschen
       Volkswirtschaft, von den Deutschen selbst aufgebracht. Der Außenbeitrag war
       von großer Bedeutung, lag aber höchstens bei einem Viertel. Nicht 70
       Prozent also, sondern nur 25 Prozent.
       
       Aly verrechnet sich so grob, weil er unsymmetrisch vorgeht. Auf der
       deutschen Seite betrachtet er nur Steuern als Kriegsbeitrag. Bei den
       Fremdbeiträgen rechnet er alle Einnahmen zusammen, wie immer sie auch
       finanziert wurden. Ihm ist egal, ob nun zum Beispiel die französische
       Regierung das Geld für die Deutschen durch Steuern heranschaffte oder über
       Anleihen oder ob sie einfach Geld gedruckt hat. Genauso hätte Aly auch den
       deutschen Beitrag berechnen sollen. In Bezug auf die Opfer der deutschen
       Besatzung und Ausbeutung weiß er schließlich sehr wohl, dass Vermögen, die
       in Reichsanleihen gesteckt wurden, verloren waren. Die Kriegsinflation hat
       nicht nur die Zwangsanleihen der jüdischen Bevölkerung ausgelöscht, sondern
       auch die Sparkasseneinlagen „deutscher Normalverdiener“. Es gibt keine
       moralische Gleichwertigkeit, aber in wirtschaftlicher Hinsicht müssen beide
       Beiträge zu den laufenden Kriegskosten des Reiches gerechnet werden.
       
       Die Milliardenbeträge, die aus deutschen Sparkassen, Banken und
       Versicherungen über die so genannte geräuschlose Finanzierung in die
       Reichskassen geschleust wurden, waren die Hauptstütze der
       Kriegsfinanzierung, nicht die Steuereinkünfte und auch nicht die
       Besatzungskosten. Diese unfreiwillig angelegten Beträge waren der
       geldmäßige Ausdruck der reellen wirtschaftlichen Kosten des Krieges: Die
       Menschen konnten mit ihrem Geld weder konsumieren noch es investieren.
       
       Auch wenn Hitlers Regime die Volksgenossen lieber nicht besteuerte – die
       Menschen, die Rohstoffe, die Kapazitäten der Industrie hat es trotzdem
       mobilisiert. Und das wird auch von den Ergebnissen der vergleichenden
       Forschung bestätigt, die Aly weitgehend ignoriert.
       
       Es ist natürlich alles eine Frage des Maßstabes. So übertrifft die
       ungeheure Mobilisierungsleistung der stalinistischen Diktatur die aller
       westlichen Staaten bei weitem. Aber Alys Vergleichsmaßstab ist nicht die
       Sowjetunion, sondern das England von Churchill, das mythische,
       demokratische England – ein „Regime“ also, das sich laut Aly siegesgewiss
       auf einen wahren Konsens seiner Bevölkerung stützen konnte.
       
       Ein genauer Vergleich der beiden Kriegswirtschaften offenbart allerdings:
       Bis zur Kriegswende 1941 deckten die Steuern in Hitlers
       Gefälligkeitsdiktatur einen größeren Teil der staatlichen Ausgaben als in
       England. Und selbst 1944 zahlten die deutschen pro Kopf im Verhältnis zu
       ihrem Einkommen mehr Steuern als die Briten.
       
       Wenn man nicht nur auf die Finanzierung, sondern auf die Mobilisierung der
       tatsächlichen Produktion schaut, wird Alys These sogar vollkommen haltlos.
       Nach der maßgeblichen Nationalproduktrechnung von Mark Harrison, dem
       führenden Vertreter der neueren Forschung zur Kriegswirtschaft, hat Hitlers
       Regime in jedem Jahr des Krieges der deutschen Bevölkerung mehr abverlangt
       als der alte Imperialist Churchill den Briten mit seiner
       Schweiß-und-Tränen-Politik.
       
       Die Kriegsgesellschaft des nationalsozialistischen Deutschland als
       Gefälligkeitsdiktatur zu beschreiben geht an der Realität völlig vorbei.
       Selbst in den besten Zeiten war Hitlers Krieg ein riesiges Wagnis, für das
       Hitlers Regime alle zur Verfügung stehenden Mittel mobilisierte. Nach 1942
       war es ein blutiger Opfergang, der in der Geschichte seinesgleichen sucht.
       
       Seit mindestens zwanzig Jahren hat Götz Aly mit einer Fülle von
       Veröffentlichungen unser Verständnis des Nationalsozialismus enorm
       bereichert. Auch dieses Buch ist unbedingt lesenswert. Mit seiner
       dramatischen Scheinrechnung zu den fiskalischen Grundlagen von Hitlers
       Volksstaat setzt Aly jedoch einen gewaltigen Irrtum in die Welt. Sein
       wohlverdienter Ruf wird diesem Irrtum die nötige Autorität verleihen. Ein
       großer Irrtum bleibt es dennoch.
       
       Götz Aly: „Hitlers Volksstaat. Raub. Rassenkrieg und nationaler
       Sozialismus“. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2005, 448 Seiten, 22,90
       EuroJ. ADAM TOOZE lehrt Wirtschaftsgeschichte in Cambridge. Sein neues Buch
       „Wages of Destruction“, eine Wirtschaftsgeschichte der NS-Diktatur,
       erscheint 2006 bei Penguin Books und im Blessing Verlag
       
       12 Mar 2005
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) J. ADAM TOOZE
       
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