# taz.de -- Debatte über Kopfnoten an Schulen: Neue Thüringer Härte
       
       > Seit diesem Schuljahr setzt Thüringen auf mehr Disziplin, Noten und
       > Sitzenbleiben. Die Maßnahmen kommen nicht überall gut an.
       
 (IMG) Bild: Rückwärtstrend zur Old School angesichts komplexer Problemlagen heutzutage? Klassenzimmer im Jahr 1952
       
       Welche Folgen der Leistungsdruck an Schulen hat, zeigte kürzlich der
       „[1][Präventionsradar“ der Krankenkasse DAK]: Demnach fühlen sich fast zwei
       Drittel der Schulkinder erschöpft, ein Drittel zeigt depressive Symptome.
       Trotz solcher Zahlen hat Thüringen im Sommer eine umstrittene Entscheidung
       getroffen: Mit dem neuen Schuljahr sollen Lehrkräfte wieder ab Klasse drei
       Mitarbeits- und Verhaltensnoten verteilen. Kritiker sehen darin vor allem
       einen Angriff auf die 82 Gemeinschaftsschulen, die von der 2024 abgewählten
       rot-rot-grünen Koalition zehn Jahre lang gefördert wurden.
       
       Landesschülersprecher Erik Sczygiol sprach sogar von einem Angriff auf den
       „Schulfrieden“. Dieser bedeutete bislang, „dass man [2][reformpädagogische
       und Gemeinschaftsschulen] in Ruhe lässt“, so Sczygiol. Auch die
       Landeselternvertretung Thüringen hatte die Pläne früh kritisiert. Immerhin
       hat die Landesregierung nach dem Protest punktuelle Ausnahmen von den neuen
       Regeln zugelassen.
       
       Ursprünglich sah Bildungsminister Christian Tischner (CDU) für alle
       Schularten die Wiedereinführung von Kopfnoten bereits ab der ersten Klasse
       vor. Bislang wurden solche Noten für Mitarbeit und Verhalten nur in den
       Klassenstufen fünf bis acht vergeben. Auch Gemeinschaftsschulen sollten
       generell zur Notenvergabe ab der sechsten Klasse verpflichtet werden, was
       dort bisher erst ab der Stufe acht galt. „Sitzenbleiben“, also eine
       Klassenstufenwiederholung bei nicht ausreichenden Leistungen, soll auch
       schon ab der sechsten Klasse angeordnet werden können.
       
       Lehrerverband und Philologenverband stehen hinter den Verschärfungen.
       Claudia Koch von der Landeselternvertretung erkennt in den öffentlichen
       Stellungnahmen eine unter Lehrern weit verbreitete repressive
       Grundeinstellung. Sie glaubt, dass Lehrkräfte in den Noten und dem
       Durchfallenlassen vor allem eine willkommene Handhabe gegen unbequeme
       Schüler und notorische Störer sehen.
       
       ## Applaus von Lehrerverbänden
       
       Auch die Thüringer Handwerkskammer verspricht sich von mehr Zwang eine
       bessere Vorbereitung auf das Berufsleben. Präsident Stefan Lobenstein
       glaubt sogar, dass Kopfnoten soziale Kompetenz und
       Verantwortungsbewusstsein fördern. Eine MDR-Fernsehdiskussion im April
       offenbarte, dass auch erhebliche Teile der Elternschaft einen strafferen
       Durchgriff der Schule befürworten.
       
       Landesschülersprecher Erik Sczygiol hingegen ist sich sicher, dass die
       Maßnahmen einen Schritt zurück in Richtung antiquierte „Paukschule“
       bedeuten. „Also klassisches Bulimielernen befördern.“ Individuelle
       Neigungen und Förderungen blieben so auf der Strecke, sagte Sczygiol. „Wir
       wollen ja lernen! Aber Druck macht nicht so viel Spaß wie intrinsische
       Motivation.“ Sczygiol plädiert für ein an der Schule bewusst praktiziertes
       Gegenideal zu omnipräsenten kapitalistischen Konkurrenzmustern. „Schüler
       leiden unter den dauerhaften Vergleichen. Jeder Vierte kämpft laut Studien
       mit mentalen Problemen!“ Wettbewerb an sich sei förderlich, „aber nicht in
       dem Ausmaß“.
       
       Auch für die Landeselternvertretung konstatiert Sprecherin Claudia Koch
       einen Rückwärtstrend zur Old School, „um mit dem Zurückholen Problemen der
       aktuellen Zeit zu begegnen“. Also zurück zu mehr Zucht und Ordnung durch
       engere Normen, die von allen erfüllt werden müssen. Angesichts komplexer
       Problemlagen in der heranwachsenden Generation sehnten sich Eltern wie
       Lehrer nach einfachen Lösungen. „Wenn der sich nicht benimmt, schmeißt ihn
       doch einfach raus“ sei das Motto.
       
       Was Koch verwundert, ist, wie sehr auch viele Eltern diesen Kurs für den
       richtigen halten. Oft hört sie: „Mir hat etwas Härte auch nicht geschadet.“
       Aber wer kann das einschätzen? „Man sollte nicht aus eigenen früheren
       Schulerfahrungen auf das schließen, was heute passieren muss“, fordert
       Koch.
       
       Die Sprecherin ist aber dankbar, dass der harte Schlag gegen die der CDU
       suspekten Gemeinschaftsschulen vorerst ausblieb. Der Protest von Eltern und
       Schüler blieb bei dem seit dem vorigen Herbst amtierende Bildungsminister
       Tischner nicht unerhört. Über seine Stellung in der Thüringer CDU wird viel
       spekuliert. Aber immerhin kann er mit dem Pfund wuchern, seinen Wahlkreis
       in Greiz gegen den dorthin aus dem katholisch-renitenten Eichsfeld
       geflohenen AfD-Spitzenkandidaten Björn Höcke bei der Landtagswahl 2024
       gewonnen zu haben. Jedenfalls ließ Tischner wichtige Ausnahmen für
       Gemeinschaftsschulen und solche mit reformpädagogischen Konzepten zu.
       
       ## Kopfnoten kosten Millionen
       
       Während an Regelschulen Mitarbeit und Verhalten ab Klasse drei benotet
       werden, dürfen diese Schulen weiterhin bei einer verbalen Einschätzung
       bleiben. Sie müssen auch Versetzungsentscheidungen erst ab Klasse acht
       treffen. Für etwa 90 Prozent der Schulen bleiben aber harte Kriterien wie
       die Möglichkeit des Sitzenbleibens ab Klasse sechs. „Aus pädagogischer
       Sicht bietet die frühere Versetzungsentscheidung die Chance,
       Leistungsrückstände frühzeitig zu erkennen und dem Kind in seiner
       Entwicklung bestmöglich gerecht zu werden“, begründet dies Minister
       Tischner.
       
       Vorerst ist Ruhe in die Debatte eingekehrt. Die Landeselternvertretung ist
       zufrieden, dass [3][reformpädagogische Schulen ihre Konzepte] weiterführen
       können. Man werde aber sehr genau hinschauen, wie die praktischen
       Umsetzungsmechanismen, die Wertungsrichtlinien an die Lehrer ausfallen, und
       ob sie zu Diskriminierungen führen, kündigt Claudia Koch an. Sie vermutet,
       dass Lehrer und Lehrerinnen auch weiterhin ihre subjektiven Spielräume
       nutzen und sehr persönlich benoten werden.
       
       Wie ein Kommentar zur Thüringer Kehrtwende mutet eine Studie des
       ifo-Wirtschaftsforschungsinstituts vom Juli dieses Jahres an. Demnach haben
       Kopfnoten nicht nur keinen Einfluss auf den [4][Bildungserfolg] und den
       Berufseinstieg. Der Zeitaufwand bei Pädagogen für deren Ermittlung kostet
       laut ifo außerdem der Bundesrepublik hochgerechnet 206 Millionen Euro pro
       Jahr.
       
       29 Oct 2025
       
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