# taz.de -- Kommentar zur Mitte: Ist Vernunft over?
> Alle reden von der „Mitte“ der Gesellschaft als Ort, an dem die Mehrheit
> und die Vernunft zusammenkommt. Unsinn: Die Mitte ist öde, verschnarcht
> und zukunftsfrei.
(IMG) Bild: Formulierte als Erster das Plädoyer für Maß und Mitte: der antike Philosoph Aristoteles (rechts)
## „Ist die politische Mitte die denkmüde, reflexionsarme Ausrede in einer
Situation allgemeiner Erschöpfung all jener Kräfte und Energien, die
Politik aus dem Geiste des Utopischen entwarfen und sich vom Prinzip
Hoffnung geleiten ließ? Ist sie nur eine Chiffre für allzu geschmeidige
Anpassung, für die Saturiertheit des Status quo, für die phantasieträge
Hartnäckigkeit der Unbeirrbaren und Verblüffungsfesten?“
- Kurt Lenk: „Vom Mythos der politischen Mitte“. Politik und Zeitgeschichte
(2009).
[1][taz FUTURZWEI] | Diese Fragen Kurt Lenks beschreiben die politische
Hilflosigkeit und die geistige Öde aller Parteien. Sie versuchen sich mit
der Erfindung einer Mitte, die es als gesellschaftliche und soziale
Formation gar nicht gibt, und dem Beschwören dieser fiktiven Mitte als Ort
des Ausgewogenen, davor zu drücken, die Wirklichkeit zur Kenntnis zu
nehmen, eine Welt ohne das Prinzip Hoffnung und einer Fülle von
Bedrohungen.
Sie verschleiern mit ihrem Gerede von „Maß und Mitte“, dass sie auf die
großen Fragen des 21. Jahrhunderts nicht mehr anzubieten haben als sich
selbst, handwerkelnde Machtcliquen. Sie bieten nicht mehr als das, was es
gestern schon gab oder das Konservieren des Status Quo.
Dabei könnten „Maß und Mitte“, nach Aristoteles als Prinzip verstanden,
durchaus gestaltend wirken, wenn sie als Teil des antagonistischen Ringens
um Entscheidungen und das Wählen in diskursiv verfassten Strukturen
begriffen würden. „Maß und Mitte“ sind kein Selbstzweck, kein
vernünftelndes Sedativum zur Mehrheitsbeschaffung. Ihr Gebrauch könnte Raum
für unerwartete Antworten und ein Fehler-Bewusstsein für alle aktuellen
Fragen des gemeinsamen Existierens schaffen.
„Maß und Mitte“ werden indes von den sich jeweils neu formierenden Rändern
bestimmt. Sie setzen die Leitplanken für den politischen Kampf um „Maß und
Mitte“. So war es zu Zeiten von Faschismus und Kommunismus. Der Zwang, eine
gemeinsame militärische Antwort zum Niederringen beider Freiheitsfeinde zu
finden, hat zumindest vorübergehend, in den westlichen Gesellschaften „Maß
und Mitte“ als offenem politischen Streit Raum verschafft.
Nochmal: „Maß und Mitte“ sind nicht zu verwechseln mit dem heute üblichen,
glorifizierenden Konsensgerede einer sich selbst genügenden, vernünftelnden
politischen Elite.
„Maß und Mitte“ können ihre konstruktive Wirkung nur entfalten, wenn sie
Teil eines politischen, mit offenem Visier ausgetragenen Streits
antagonistischer Positionen sind, die vom Blick auf die Wirklichkeit
bestimmt sind.
Der Stanford-Intellektuelle Hans Ulrich Gumbrecht hat soeben (in der NZZ)
den Versuch unternommen, diese neue Wirklichkeit zu beschreiben.
„Die früher zur Verwirklichung von Menschheitsprojekten offen gehaltene
Zukunft ist durch ein Panorama vielfältiger auf uns zukommender Bedrohungen
ersetzt, von ökologischen Krisen bis zur Versklavung durch künstliche
Intelligenz. Statt, wie im historischen Weltbild als Phase einer
Entwicklung zu erscheinen, dehnen sich die vor der angesagten
Katastrophenzukunft liegende Gegenwart und die Vergangenheit zu einer
ebenso komplexen, wie verwirrenden Sphäre zentrifugaler Impulse und
Initiativen aus.
In diesem Weltbild unter der vor uns liegenden Bedrohung ist jede
Vergangenheit wiederholbar, wie sie Trumps MAGA -Bewegung verspricht,
während für positive Zukunftsvisionen kein Raum mehr bleibt.“
Gumbrecht identifiziert einige Hauptmerkmale für diesen zukunftsfeindlichen
Zustand der Weltgesellschaft. 1. In der ungeregelten Sphäre zentrifugaler
Impulse durch parallele Bedrohungslagen gelten alle auf Zukunft
ausgerichteten Normvorstellungen und Werte nicht mehr. Alle auf diese Werte
ausgerichteten Institutionen geraten unter Druck. An die Stelle auf Zukunft
ausgelegter Regeln tritt das Herrschen und das Verhandeln ohne jede
Berücksichtigung historisch begründeter Werte.
2. Künstliche Intelligenz ist durch das seit 2012 unreguliert durchgeführte
„Deep Learning“ zu einer einschüchternden Konkurrenz für den menschlichen
Geist geworden, der schon bald in jeder Hinsicht vom Rechner überholt
werden wird. Das „Cogito ergo sum“ („Ich denke, also bin ich“) von
Descartes gilt dann nicht mehr.
3. Schwere körperliche Arbeit verschwindet. Der Status des Körpers wandelt
sich vom Instrument der Produktion von Gegenständen zum Gegenstand
ästhetischer Freude in extremer antigesellschaftlicher Selbstbezogenheit.
(Beispiel: die lustvolle Verbreitung des Tätowierens von Körpern).
4. Die demographische Krise: statt einer steigenden Weltbevölkerung, wie
bisher, ist von ihrem Rückgang auszugehen, begleitet von der Konvergenz
fallender Geburten und zunehmendem Lebensalter.
Die Frage ist, sagt der Soziologe [2][Heinz Bude] im Tagesspiegel, wie vor
diesem Hintergrund eine „politische Ökonomie und Technologie der nächsten
Welt entwickelt werden kann, die die Staatsbedürftigkeit erkennt und
anerkennt. Übergangstechnologien, Netzwerklösungen und
Versorgungssicherheit sind die zu lösenden politischen Aufgaben, die den
aktuellen politischen Eliten noch eher fremd sind.“
Die Frage auf die Lenk, Gumbrecht und auch Bude keine Antwort geben, ist,
ob der rationale, der vernünftige Blick auf die Herausforderungen einer
sich neuformierenden, globalen Zivilisation ausreicht, um daraus
politisches Handeln zu destillieren, das Mehrheiten bilden, binden und
beteiligen kann.
Rationalität, Vernunft und politischer Wettstreit um die richtigen Wege
allein sind in der Regel gegenüber populistischen Vereinfachungen und
Versprechungen eher im Hintertreffen. Offen bleibt, wie dennoch kollektive
Bedürfnisse nach einer besseren Welt neu begründet werden können.
Das Versprechen von „Maß und Mitte“, reduziert auf seinen instrumentellen
Charakter als Herrschaftstechnik, kann kaum dazu beitragen den von allen
Utopien leergeräumten öffentlichen Raum sinnstiftend zu besetzen.
🐾 Udo Knapp ist Politologe und kommentiert an dieser Stelle regelmäßig das
politische Geschehen für unser Magazin taz FUTURZWEI.
🐾 Lesen Sie weiter: Die aktuelle Ausgabe unseres Magazins taz FUTURZWEI
N°33 mit dem Titelthema „Wer bin ich?“ [3][gibt es jetzt im taz Shop].
18 Aug 2025
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(DIR) Udo Knapp
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